Sieger Sein

SIEGER SEIN

Sieger Sein

SIEGER SEIN

Prädikat "Besonders wertvoll" - Begründet oder ein weiterer Beweis für die Wahllosigkeit der Filmbewertungsstelle?

Ab 11. April 2024 im Kino

Die Jury sagt: „Ein wunderbar frisch-frecher Film, der die Diversität feiert und auf Augenhöhe der Zielgruppe erzählt.“ So stellen sich Erwachsene eben die Welt der Jugendlichen vor. Voll fetzig. Aber auch cringe. Safe.

Lief auf der Berlinale

Mona ist mit ihrer kurdischen Familie aus Syrien geflüchtet und landet im Berliner Wedding, dem Bezirk, der seit 30 Jahren kommt. In ihrer neuen Schule ist sie „voll das Opfer“, bis sie beim Fussballspielen beweisen kann, was in ihr steckt.

Sieger sein

Erstaunlich, dass es sich bei SIEGER SEIN um einen Debütfilm handelt. Denn es wimmelt nur so von Klischees. Regisseurin Soleen Yusef will es allen recht machen: Der jungen Zielgruppe ebenso, wie den vereulten Redakteuren der Öffentlich-Rechtlichen. Besonders nervig sind dabei die didaktischen Ansätze. Ein bisschen Zuwendung und schon hebt der gerade noch respektlose Rotzlöffel im Unterricht brav die Hand und fragt mit großen Augen „Was ist Diktatur?“ Erklärung folgt, wieder was gelernt – Bruda, isch schwöre!

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2024
119 min
Regie Soleen Yusef

Sieger sein

alle Bilder © DCM

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DIE HERRLICHKEIT DES LEBENS

DIE HERRLICHKEIT DES LEBENS

Franz Kafka privat. DIE HERRLICHKEIT DES LEBENS erzählt von der großen letzten Liebe des meistgelesenen deutschsprachigen Autors.

Ab 14. März 2024 im Kino

Wem bei Kafka nur ein riesiges Ungeziefer im Bett oder labyrinthische Behördengänge in den Sinn kommen, der hat keine Ahnung. Franz Kafka war ein Mensch! Michael Kumpfmüller beschreibt in seinem Buch „Die Herrlichkeit des Lebens“ das letzte Lebensjahr des jüdischen Schriftstellers. Nun haben Georg Maas und Judith Kaufmann den Bestseller verfilmt und dabei alles richtig gemacht.

Eine große Liebesgeschichte

1923, irgendwo an der Ostsee: Kafka, von Tuberkulose gezeichnet, lernt während eines Erholungsaufenthalts die junge Dora Diamant kennen. Sie steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden, er schwebt immer etwas darüber. Gegen den Wunsch seiner überbesorgten Familie zieht er mit ihr nach Berlin. In der gemeinsamen Wohnung ist es eiskalt und zugig – Lebensumstände, die der Gesundheit des schwer kranken Schriftstellers nicht gerade zuträglich sind. Doch gegen alle Widrigkeiten erleben die beiden eine große Liebe, Dora weicht bis zum Ende nicht mehr von Kafkas Seite.

Sabin Tambrea ist das, was man wohl eine schauspielerische „Bank“ nennen könnte. Der stets etwas melancholisch wirkende 39-Jährige ist immer gut, egal was er macht. Und obwohl er dem echten Kafka nur sehr bedingt ähnlich sieht, passt er perfekt in die Rolle, spielt mit der richtigen Mischung aus trauriger Ernsthaftigkeit und sanftem Humor. Die Deutsch-Niederländerin Henriette Confurius dürfte den meisten aus TV-Serien, vor allem aber aus TANNBACH – SCHICKSAL EINES DORFS bekannt sein. In der Rolle der Dora Diamant ist sie ein Glücksgriff, bringt eine charmante Leichtigkeit in ihre Rolle, die den ganzen Film trägt.

Wo Judith Kaufmann draufsteht, ist selten was Schlechtes drin. Die Kamerafrau/Regisseurin hat zusammen mit Georg Maas einen wunderbar unpathetischen Film über eine große Liebesgeschichte gedreht. DIE HERRLICHKEIT DES LEBENS kommt im Vorfeld zu Franz Kafkas 100. Todestag in die Kinos.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Österreich 2023
98 min
Regie Georg Maas und Judith Kaufmann

alle Bilder © MAJESTIC

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BERLINALE 2024 – FINALE

BERLINALE 2024 – FINALE

Das waren die 74. Internationalen Filmfestspiele von Berlin. Eine insgesamt schwache Berlinale und gleichzeitig die letzte der glücklosen Doppelspitze Rissenbeek und Chatrian. 2025 geht es unter der (hoffentlich, wahrscheinlich, bestimmt) kundigeren Leitung von Tricia Tuttle weiter. Vor den offiziellen Preisträgern, hier noch schnell die Framerate-Top 5:

Und das waren die Flops:

Goldener Bär für den Besten Film

DAHOMEY

DAHOMEY

Das Thema ist hochaktuell: Im November 2021 verließen 26 Kunstschätze Paris und kehrten in ihr Herkunftsland Dahomey, das heutige Benin, zurück. 1892 wurden sie dort von französischen Kolonialtruppen geraubt. Doch wie geht man mit den Objekten um in einem Land, das sich während ihrer Abwesenheit stark verändert hat?

Als „Mesmerisieren” wird das in den Bann ziehen bzw. Hypnotisieren bezeichnet. Ein Archaismus, der heute kaum noch Anwendung findet. Außer in einer Berlinale-Pressekonferenz 2024. „Thank you for this mesmerizing experience“, bedankt sich ein Journalist bei Regisseur Mati Diop. Na gut, ins Deutsche übersetzt heißt „mesmerizing“ schlicht „faszinierend“. Und als Kurzfilm wäre DAHOMEY das auch. Scheinbar musste aber auf Teufel komm raus die Minimallänge eines Spielfilms erreicht werden. Und so arbeiten sich die Filmemacher mühsam mit vielen langen Auf- und Abblenden auf knappe 67 Minuten. Ein neuer Trend scheint das Unterlegen von Dingen (hier Statuen) und Tieren (bei PEPE ein Nilpferd) mit dröhnenden, tiefen Stimmen zu sein. Der beste Film? Eher ein Abschiedsgeschenk an Carlo, denn der hatte in seiner diesjährigen Filmauswahl den Fokus auf Afrika gelegt.

Großer Preis der Jury

A Traveler's Needs

Hong Sang-soo

A TRAVELER’S NEED

Ein Film, für den man eine Betriebsanleitung braucht. Worum geht‘s? IMDb fasst es perfekt zusammen: „Eine Französin trinkt in Korea Makgeolli, nachdem sie ihre Einkommensquelle verloren hat, und unterrichtet dann zwei Koreanerinnen in Französisch.“ Genau. Die Französin wird von Isabelle Huppert gespielt. Der in langen, statischen Videobildern gedrehte Film (eine Spezialität des koreanischen Regisseurs Hong Sang-soo) ist nicht frei von Situationskomik, lässt aber den unkundigen Zuschauer komplett ratlos zurück (eine weitere Spezialität des Regisseurs).

Erfrischende Ehrlichkeit. In seiner Dankesrede sagt Regisseur Hong Sang-soo an die Jury gewandt: „Thank you, I don’t know what you saw in my film.“ Neither did I.

Preis der Jury

L'Empire

Bruno Dumont

L'EMPIRE

In einem kleinen französischen Dorf geschehen seltsame Dinge. Die Menschen verneigen sich vor einem allmächtigen Baby und Köpfe werden mit Laserschwertern abgetrennt. Kein Wunder, haben sich doch Außerirdische in die Körper der Dorfbewohner eingenistet. Die ultimative Schlacht zwischen zwei verfeindeten Alien-Spezies steht kurz bevor.

Wie belieben? Na gut, es ist eine Berlinale in der Carlo-Chatrian-Ära, aber trotzdem. Der obskure Mix aus französischem Arthouse, STAR WARS und Pseudo-Lars von Trier ist für ungefähr 5 Minuten unterhaltsam. Bruno Dumonts Science-Fiction-Parodie ist schwer verdauliche Kost und seltsam im unguten Sinn. Preis der Jury? WTF.

Beste Regie

Pepe

Nelson Carlos De Los Santos Arias

PEPE

Noch so ein Film, den man lieber verpasst hätte. Nelson Carlos De Los Santos Arias’ kaleidoskophafte Bildcollage (man könnte es auch eine unstrukturierte Materialsammlung nennen) erzählt die Geschichte von Pablo Escobars Nilpferden. Die Tiere wurden nach dem Tod des Drogenbarons auf dessen Anwesen gefunden. PEPE (der besser im künstlerisch anspruchsvollen Forum aufgehoben wäre) vereint inszenierte Spielsequenzen mit Zeichentrick, Dokfilm, viel Experimentellem und sehr oft simplem Schwarzbild – was sich bei den weichen Liegesesseln im CinemaxX-Kino als großes Problem erweist 💤 Irgendwie originell ist es ja trotzdem – oder wann erzählt einem schon ein Nilpferd auf Afrikaans seine philosophischen Gedanken zum Leben und Tod? Kein Film im Wettbewerb hat den Preis für die beste Regie weniger verdient als dieser.

Beste Hauptrolle

A DIFFERENT MAN

SEBASTIAN STAN

A DIFFERENT MAN

Schauspieler Edward leidet unter einer starken Gesichtsdeformation. Dank eines neuen Medikaments sieht er bald wie Hollywoodstar Sebastian Stan aus. Äußerlich ändert sich einiges in seinem Leben, und doch bleibt im Grunde alles gleich.

A DIFFERENT MAN hat ein paar hübsche schräge Ideen, mit Adam Pearson einen sehr charmanten scene-stealer und eine ganze Reihe Probleme. Die platte Message „Was nützt die schönste Fassade, wenn die inneren Werte nicht stimmen“ wird mit dem Holzhammer transportiert. Dazu führt das unausgewogene Tempo zu langatmigen Szenen, während der Wechsel zwischen Psycho-Drama und Möchtegern-Thriller auf Dauer anstrengt. Regisseur Aaron Schimberg präsentiert dem Zuschauer haufenweise Indie-Klischees und wenig Subtilität. Sebastian Stan – bester Hauptdarsteller? Ein schulterzuckendes Hm.

Beste Nebenrolle

EMILY WATSON

SMALL THINGS LIKE THESE

Die bange Frage: Ist der Eröffnungsfilm in diesem Jahr wieder besonders schlecht? Ganz im Sinne Chatrians geht’s mit schwerer Kost los. Als Lieferant für entsetzliche Geschichten ist die Kirche stets ein verlässlicher Quell: In SMALL THINGS LIKE THESE geht es nicht um Hexenverbrennung oder Kindesmissbrauch, sondern um ein unbekannteres Verbrechen. Das Drama beschäftigt sich mit den irischen „Magdalenen-Wäschereien“. Das waren Heime, die zwischen 1820 und Mitte der 1990er-Jahre von römisch-katholischen Institutionen betrieben wurden. Vorgeblich sollten dort „gefallene junge Frauen“ reformiert werden, in Wahrheit wurden sie misshandelt, ausgebeutet und ihrer Kinder beraubt. Der Kohlehändler Bill Furlong (Cillian Murphy) kommt eher unfreiwillig hinter die korrupten Machenschaften des Klosters und weckt dabei Erinnerungen an seine eigene traumatische Kindheit.

Zugegebenermaßen fällt es schwer, sich auf den Film zu konzentrieren, wenn nebendran ein dauerkaugummikauender, handybrummender, reißverschlußaufundzumachender Zuschauer sitzt. Da wünscht man sich den stillen Brüter Cillian Murphy als Platznachbarn, der weint sogar lautlos. Ist es zu früh zu prophezeien, dass er den Bären als bester Schauspieler bekommen könnte?

SMALL THINGS LIKE THESE ist erwachsenes, ernstes Kino, mit leichter Tendenz ins Zähe. Düster und ohne jede Leichtigkeit, aber herausragend gespielt und inszeniert.

Bestes Drehbuch

Sterben

MATTHIAS GLASNER

STERBEN

Matthias Glasner kehrt zum ersten Mal seit 2006 in den Berlinale Wettbewerb zurück. Sein grandioses Familienepos STERBEN handelt natürlich genau vom Gegenteil, nämlich dem Leben in all seinen furchtbaren und furchtbar schönen Facetten. Die über dreistündige Drama-Komödie erforscht die Intensität des Lebens angesichts des Todes mit einer Mischung aus Zartheit, Brutalität, absurder Komik und trauriger Schönheit, die die Grenzen zwischen bitter und lustig verschwimmen lässt.

Im Fokus der Handlung steht Familie Lunnies: Lissy (Corinna Harfouch) ist Mitte 70 und froh, dass ihr dementer Mann endlich im Heim ist. Ihr Sohn Tom (Lars Eidinger), ein Dirigent, arbeitet zusammen mit seinem depressiven Freund Bernard an der Komposition „Sterben“. Toms Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) hat ein Alkoholproblem und beginnt eine wilde Liebesgeschichte mit dem verheirateten Zahnarzt Sebastian (Ronald Zehrfeld).

Die in Kapitel gegliederte Geschichte hängt zwischendrin ein bisschen durch: Die Episode um Tochter Ellen ist die schwächste und fühlt sich an, als sei sie aus einem anderen Film. Ansonsten ist STERBEN voller guter Szenen – die vielleicht beste zeigt Lars Eidinger und Corinna Harfouch im schmerzhaft wahrsten Mutter-Kind-Gespräch der Kinogeschichte. Wahnsinnig komisch und todtraurig zugleich. Allein dafür lohnt es sich.

Herausragende Künstlerische Leistung

DES TEUFELS BAD

MARTIN GSCHLACHT - KAMERA

DES TEUFELS BAD

Schlimmer geht immer. Wenn man sich mal so richtig die gute Laune verderben lassen will, dann ist DES TEUFELS BAD eine echte Empfehlung. Die auf historischen Gerichtsprotokollen basierende Geschichte, angesiedelt in einem Wald im Oberösterreich des 18. Jahrhunderts, handelt von Agnes. Die junge Frau fühlt sich nach der Hochzeit mit Wolf fehl am Platz, kein Wunder, steht ihr Mann doch eher auf Burschen. Die tief religiöse und hochsensible Frau zieht sich immer mehr zurück, versinkt in Melancholie.

Kotze, Blut, Dreck – es war ein unappetitliches Leben 1750. Der österreichische Wettbewerbsfilm ist eine Symphonie in grau und beige, hat aber wenigstens so etwas wie eine Geschichte. Man ist ja schon dankbar für die kleinen Dinge bei dieser Berlinale. Das Regieduo Veronika Franz und Severin Fiala legt mit DES TEUFELS BAD vielleicht einen authentischen, aber in großen Teilen drögen und schwer auszuhaltenden Film vor, der trotz aller Freudlosigkeit bisweilen hart an die folkloristische Kitschgrenze schrammt.

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BERLINALE 2024 – TAG NEUN

BERLINALE 2024 – TAG NEUN

Zum Abschluss noch ein wenig spirituelle Sinnsuche aus Nepal. Eine der Hauptfiguren im Film SHAMBHALA heißt "Karma". Will uns das scheidende Führungsduo damit zum Abschied etwas sagen? Wir freuen uns jedenfalls auf bessere Zeiten und wünschen Mariëtta und Carlo beruflich alles Gute für die Zukunft. Heute Abend gibt's die Preise, die Ergebnisse dann morgen hier zum Finale.

Wettbewerb

SHAMBHALA

SHAMBHALA

In SHAMBHALA macht sich die junge Pema auf die Suche nach einem ihrer Ehemänner. Ehemänner? Plural? Schlauer werden mit Berlinale-Filmen: Im Tsum-Tal im Himalaya dürfen Frauen mit mehreren Männern gleichzeitig verheiratet sein. Pema ist daher nicht nur Tashis Ehefrau, sondern auch die seiner beiden Brüder Karma und Dawa.

Es ist eine echte Premiere im doppelten Sinn: SHAMBHALA feiert nicht nur seine Welturaufführung bei der Berlinale, es ist zudem der erste nepalesische Film jemals im Wettbewerb. Regisseur Min Bahadur Bham hat in der höchstgelegenen Siedlung der Welt gedreht, 6.000 Meter über dem Meeresspiegel. In solchen Höhen ist die Luft dünn, der wenige Sauerstoff macht müde. Genau wie dieser Film. Trotzdem ist SHAMBHALA erkenntnisreich: So verfügen Nepalesen offenbar über einen schier unbegrenzten Vorrat an Schaltüchern, die sie zu jeder Gelegenheit hervorzaubern, um sie dann um irgendwas oder irgendwen zu legen. Die Besetzung besteht hauptsächlich aus Laiendarstellern, ein großer Schauspielerfilm ist SHAMBHALA daher nicht. Unter normalen Umständen vielleicht ein meditatives, nach neun Tagen und vielen zähen Filmen ein eher einschläferndes Erlebnis.

INFOS ZUM FILM

Nepal / Frankreich / Norwegen / Hongkong, China / Türkei / Taiwan / USA / Katar 2024
150 min
Regie Min Bahadur Bham
Bild © Aditya Basnet / Shooney Films

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BERLINALE 2024 – TAG ACHT

BERLINALE 2024 – TAG ACHT

Alarm! Laut einer Umfrage des Tagesspiegels interessieren sich 87% der Leser nicht für die Berlinale. Dabei gibt es zum Ende noch zwei gute Filme im Wettbewerb …

Wettbewerb

VOGTER

VOGTER

Auf die Skandinavier ist eben Verlass. VOGTER ist ein nordisch-düsterer Psychothriller, angesiedelt in einem dänischen Gefängnis. Als der neue Häftling Mikkel eingeliefert wird, lässt sich Wärterin Eva zur Verwunderung ihrer Kollegen in den Hochsicherheitstrakt versetzen, wo der Neue einsitzt. Was niemand weiß: Die beiden verbindet ein Geheimnis aus der Vergangenheit.

Gustav Möllers Film THE GUILTY  wurde 2021 mit Jake Gyllenhaal für den US-Markt neu verfilmt. Es wäre keine Überraschung, wenn es auch bald ein Remake von VOGTER gäbe – dann aber hoffentlich mit ebenso herausragender Besetzung: Die vor allem aus der Serie BORGEN bekannte Sidse Babett Knudsen spielt den in sich gekehrten Racheengel Eva zwischen selbstzweifelnd und eiskalt. Ihr Widersacher ist eine echte Entdeckung: Sebastian Bull als Häftling mit millimeterkurzer Zündschnur strahlt physische und psychische Bedrohung aus, jeder Blick ist tödlich. VOGTER muss man weniger wegen seiner teils konstruiert wirkenden Handlung, sondern vor allem wegen seiner tollen Schauspieler gesehen haben.

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „Sons“
Dänemark / Schweden 2024
100 min
Regie Gustav Möller
Bild © Nikolaj Moeller

Wettbewerb

MÉ EL AïN

MÉ EL AÏN

Es ist Tag 8, die Müdigkeit groß, und als der Wecker klingelt, ist man schwer versucht, einfach liegen zu bleiben. Weiche Daunenkissen oder ein Film aus Tunesien? Fast wäre es passiert und man hätte ein kleines Highlight des Wettbewerbs verpasst. MÉ EL AÏN erzählt auf beeindruckende Art eine Geschichte von Mutterliebe, Verlust und Angst. Aïcha lebt auf einem Hof im Norden Tunesiens. Ihre ältesten Söhne Mehdi und Amine sind in den Krieg gezogen. Als Mehdi mit einer geheimnisvollen schwangeren Frau nach Hause zurückkehrt, senkt sich eine bedrohliche Dunkelheit über die Familie und bald das ganze Dorf.

Herausragende Kamera und Sounddesign machen Meryam Joobeurs eindringlichen Film vor allem handwerklich zu einem echten Bärenkandidaten. „Atmosphärisch dicht“, wenn irgendwann die oft benutzte Phrase gepasst hat, dann hier. Ein fieberhafter Traum, poetisch und beängstigend zugleich.

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „Who Do I Belong To“
Tunesien / Frankreich / Kanada / Norwegen / Katar / Saudi-Arabien 2024
117 min
Regie Meryam Joobeur
Bild © Tanit Films, Midi La Nuit, Instinct Bleu

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BERLINALE 2024 – TAG SIEBEN

BERLINALE 2024 – TAG SIEBEN

Siebter Berlinale-Tag. Der Kopf ist leer, der Körper geschwächt. Zeit für ein bisschen Sport: Mit Berlinale Meets Fußball nimmt das Filmfestival am Kulturprogramm zur Fußball-Europameisterschaft 2024 teil. „Fußball und Kino sind ein gutes Match, da an beiden Orten Menschen zusammen Spaß haben“, sagt Spaß-Experte Carlo Chatrian.

Wettbewerb

GLORIA !

GLORIA!

Scusate, di nuovo solo due punti. Non è colpa mia se la Berlinale presenta film così brutti. GLORIA! è una grande schmonzetta. Oder um es auf Deutsch zu sagen: GLORIA! ist riesengroßer Schmalz. Es würde niemanden wundern, wenn so was am Sonntagabend um 20.15 Uhr auf dem ZDF laufen würde – aber im Wettbewerb eines der renommiertesten Filmfestivals der Welt? 

Den Inhalt wiederzugeben ist ungefähr so müssig, wie eine Tiefenanalyse des neusten Rosamunde-Pilcher-Romans zu versuchen. In Kürze: Es geht um junge Frauen in einem italienischen Kloster im Jahre 1800. Die musikalisch Hochbegabten planen, dem neuen Papst ein unvergessliches Konzert zu geben. Einzig origineller Ansatz des Films: Die Frauenband spielt ganz unzeitgemäß moderne Musik, die so auch auf dem Schlagerfestival von San Remon laufen könnte. Da zücken die Anwälte von Sofia Coppola die Notizblöcke, denn die hat „History meets Popmusic“ schon 2006 um einiges besser in MARIE ANTOINETTE gemacht. Am Ende der Pressevorführung gab es verdientermaßen Buh-Rufe – überraschenderweise zum ersten Mal in diesem Jahr.

INFOS ZUM FILM

Italien / Schweiz 2024
100 min
Regie Margherita Vicario
Bild © tempesta srl

Wettbewerb

Black Tea

BLACK TEA

Einfach mal „Nein“ sagen, zum Beispiel auch zu diesem Film – oder zum Verlobten vor dem Traualtar. Weil ihr Zukünftiger einen Tag vor der Hochzeit fremdgeht (Originaldialog: „So sind die Männer, da sind wir Frauen machtlos“) beginnt die Afrikanerin Aya (Nina Mélo) ein neues Leben in Guangzhou, China. Dort wird sie von dem älteren Caï (Han Chang) in die zauberhafte Welt des Tees eingeführt. Töpfern oder Tee, Hauptsache irgendwas, bei dem der Mann von hinten mitgrabbeln kann.
Halb Afrika gehört mittlerweile den Chinesen, da ist es Zeit für ein bisschen Werbung in eigener Sache. Kein Smog, kein Dreck, keine spuckenden Einheimischen. Selten sah man China sauberer. Es könnte glatt eine Traumschiff-Episode sein, gleich biegt der Flori um die Ecke. Schöne Bilder von bestens gelaunten, immer gut frisierten Menschen in schöner Umgebung, die Belanglosigkeiten austauschen. Dazu perlen Gitarre und Klavier um die Wette. BLACK TEA ist purer Edelkitsch.

INFOS ZUM FILM

Frankreich / Mauretanien / Luxemburg / Taiwan / Côte d’Ivoire 2024
111 min
Regie Abderrahmane Sissako
Bild © Olivier Marceny

Berlinale Special Gala

SPACEMAN

SPACEMAN

Die Erwartungen an die Netflix-Produktion SPACEMAN sind hoch: Johan Renck ist Regisseur der sensationellen HBO-Serie CHERNOBYL. Max Richter hat die Musik komponiert. Und wenn es schon Adam Sandler sein muss, dann bitte in einer ernsten Rolle, so wie hier.

Jakub befindet sich auf einer monatelangen Weltraummission. Er ist einsam und spürt, dass sich seine auf der Erde zurückgelassene Frau von ihm entfremdet. Erst die philosophischen Gespräche mit der großen, haarigen Spinne Hanuš erinnern ihn daran, was wirklich wichtig ist im Leben. Klingt nach Horror, ist aber eine nicht ganz ernst zu nehmende Mischung aus INTERSTELLAR, 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM und SOLARIS. Da das Ganze auf „Spaceman of Bohemia: Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt“ von Jaroslav Kalfar basiert, wird es am Ende sogar noch märchenhaft: DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL IM WELTRAUM sozusagen. Adam Sandler als trauriger Astronaut geht in Ordnung, auch wenn er mit den emotionalen Szenen etwas überfordert ist und man jede Sekunde einen zotigen Witz aus seinem Mund erwartet. Die simple Botschaft hat nach 106 Minuten wirklich jeder verstanden – das haben Rosenstolz seinerzeit in nur 3 Minuten kompakter zusammengefasst: Liebe ist alles.

INFOS ZUM FILM

USA 2024
106 min
Regie Johan Renck
Bild © 2023 Netflix, Inc.

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BERLINALE 2024 – TAG SECHS

BERLINALE 2024 – TAG SECHS

„Super!“, „Naja“ und „Scheisse“. Diese drei Antwortmöglichkeiten gibt es auf die montagmorgens gestellte Frage, wie man gestern den TATORT fand. Warum in dieser Woche die gleiche Frage am Mittwoch gestellt wird, steht weiter unten in der Besprechung zum Panorama-Beitrag VERBRANNTE ERDE.

Wettbewerb

Des Teufels Bad

DES TEUFELS BAD

Schlimmer geht immer. Wenn man sich mal so richtig die gute Laune verderben lassen will, dann ist DES TEUFELS BAD eine echte Empfehlung. Die auf historischen Gerichtsprotokollen basierende Geschichte, angesiedelt in einem Wald im Oberösterreich des 18. Jahrhunderts, handelt von Agnes. Die junge Frau fühlt sich nach der Hochzeit mit Wolf fehl am Platz, kein Wunder, steht ihr Mann doch eher auf Burschen. Die tief religiöse und hochsensible Frau zieht sich immer mehr zurück, versinkt in Melancholie.

Kotze, Blut, Dreck – es war ein unappetitliches Leben 1750. Der österreichische Wettbewerbsfilm ist eine Symphonie in grau und beige, hat aber wenigstens so etwas wie eine Geschichte. Man ist ja schon dankbar für die kleinen Dinge bei dieser Berlinale. Das Regieduo Veronika Franz und Severin Fiala legt mit DES TEUFELS BAD vielleicht einen authentischen, aber in großen Teilen drögen und schwer auszuhaltenden Film vor, der trotz aller Freudlosigkeit bisweilen hart an die folkloristische Kitschgrenze schrammt.

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „Devil’s Bath“
Österreich / Deutschland 2024
121 min
Regie Veronika Franz und Severin Fiala
Bild © Ulrich Seidl Filmproduktion / Heimatfil

Wettbewerb

Pepe

PEPE

Noch so ein Film, den man lieber verpasst hätte. Nelson Carlos De Los Santos Arias’ kaleidoskophafte Bildcollage (man könnte es auch eine unstrukturierte Materialsammlung nennen) erzählt die Geschichte von Pablo Escobars Nilpferden. Die Tiere wurden nach dem Tod des Drogenbarons auf dessen Anwesen gefunden. PEPE (der besser im künstlerisch anspruchsvollen Forum aufgehoben wäre) vereint inszenierte Spielsequenzen mit Zeichentrick, Dokfilm, viel Experimentellem und sehr oft simplem Schwarzbild – was sich bei den weichen Liegesesseln im CinemaxX-Kino als großes Problem erweist 💤 Irgendwie originell ist es ja trotzdem – oder wann erzählt einem schon ein Nilpferd auf Afrikaans seine philosophischen Gedanken zum Leben und Tod?

INFOS ZUM FILM

Dominikanische Republik / Namibia / Deutschland / Frankreich 2024
122 min
Regie Nelson Carlos De Los Santos Arias
Bild © Monte & Culebra

Panorama

VERBRANNTE ERDE

Dass Thomas Arslans solider Film wie ein Sonntagabendkrimi wirkt, der sich ins Kino verirrt hat, liegt vor allem am (neudeutsch ausgedrückt) „Look and Feel“, beziehungsweise an der sehr konventionellen, eben TV-gerechten Inszenierung. Mišel Matičević spielt den wortkargen Berufskriminellen Trojan. Der soll ein wertvolles Caspar-David-Friedrich-Bild klauen, doch der akribisch geplante Coup läuft aus dem Ruder.

Ein paar Dinge unterscheiden VERBRANNTE ERDE dann doch von einem echten Tatort: Der Film ist 11 Minuten zu lang (ein Problem, das sich durch Entfernen einiger unfreiwillig komischer Dialoge beheben ließe), es gibt kein Ermittlerteam und am Ende fehlt der Schnitt auf die blaue Tafel mit weißem Fadenkreuz. Daaa daaa daaa daaa ….

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Englischer Titel „Scorched Earth“
Deutschland 2024
101 min
Regie Thomas Arslan
Bild © Reinhold Vorschneider / Schramm Film

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BERLINALE 2024 – TAG FÜNF

BERLINALE 2024 – TAG FÜNF

Zeit für Pressetext-Poesie. Diesmal der Forums-Beitrag LA HOJARASCA: „Drei Frauenleben ohne Versorger, körperlich erzählte Lebensstrategien, inszeniert-beobachtend-erinnernd. Ruhe stellt sich ein, im Hintergrund der Vulkan.“ Und weil’s so schön ist, hier noch RESONANCE SPIRAL: „Die Mediateca Onshore in Malafo, einem Dorf in Guinea-Bissau, ist Archiv und Klub agro-poetischer Praxen. Vom Tonband spricht Amílcar Cabral über Feminismus, das Regie-Duo in den Mangroven über die Widersprüche des Außenblicks auf die Gemeinschaft.“ Leider beide Filme verpasst…

Wettbewerb

Architecton

ARCHITECTON

Stein: der Mensch sprengt ihn, verarbeitet ihn zu Beton, baut Häuser damit, die er bald darauf mit Bomben oder Baggern zerstört. Die tote, kaputte Baumasse wird dann auf Schutthalden der Natur zurückgegeben. Über 40 Jahre nach KOYAANISQATSI beeindrucken Slow-Motion-Bilder mit dramatischer Musik noch immer. Dazwischen lässt sich ein alter Zausel einen Steinkreis im Garten legen. Am Ende werden die ganz großen Fragen gestellt: Warum hat die Menschheit vor tausenden von Jahren Gebäude erschaffen, die heute noch existieren, während wir in der Moderne Häuser bauen, die nur 40 Jahre halten? Da erhebt sich der Zeigefinger: Unsere Ressourcen sind begrenzt!

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Frankreich / USA 2024
98 min
Regie Victor Kossakovsky
Bild © 2024 Ma.ja.de. Filmproduktions GmbH, Point du Jour, Les Films du Balibari

Wettbewerb

A Traveler's Needs

A TRAVELER’S NEED

Ein Film, für den man eine Betriebsanleitung braucht. Worum geht‘s? IMDb fasst es perfekt zusammen: „Eine Französin trinkt in Korea Makgeolli, nachdem sie ihre Einkommensquelle verloren hat, und unterrichtet dann zwei Koreanerinnen in Französisch.“ Genau. Die Französin wird von Isabelle Huppert gespielt. Der in langen, statischen Videobildern gedrehte Film (eine Spezialität des koreanischen Regisseurs Hong Sang-soo) ist nicht frei von Situationskomik, lässt aber den unkundigen Zuschauer komplett ratlos zurück (eine weitere Spezialität des Regisseurs).

Die Berlinale bringt Hong Sang-soo Glück: Seine letzten Filme „The Woman Who Ran“ (2020), „Introduction“ (2021) und „Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall“ wurden allesamt mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.

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Originaltitel „Yeohaengjaui Pilyo“
Südkorea 2024
90 min
Regie Hong Sang-soo
Bild © 2024 Jeonwonsa Film Co.

Wettbewerb

LANGUE ÉTRANGÈRE

LANGUE ÉTRANGÈRE

Unbekannte Krankheiten, Teil 12: Fanny leidet an Pseudologia Phantastica, das heißt, sie ist eine notorische Geschichtenerfinderin. Oder weniger euphemistisch: Das Mädchen lügt. In der Schule wird sie nur noch „Blablabla“ genannt. Das ist Mobbing und deshalb leidet die 17-jährige Französin. Gut, dass sie als Austauschschülerin für ein paar Wochen nach Leipzig darf. Dort wohnt sie bei der gleichaltrigen, politisch engagierten Lena. Um sie zu beeindrucken, erfindet die fade Fanny eine Schwester, die bei Demos im schwarzen Block mitläuft. Natürlich verlieben sich die Mädchen – Keine Jugendgeschichte ohne LGBTQ-Element. Außerdem sind die Teens für Umweltschutz, die Antifa, gegen patriarchale Strukturen usw. usf. Gähn.

Claire Burgers Coming-of-age-Story funktioniert zwischendurch als zarte Liebesgeschichte und sogar in Maßen als Komödie. Ansonsten wäre die oberlehrerhafte mdr-Arte-Coproduktion besser in der Sektion Generation 14plus aufgehoben. Die aufregenderen Stars sind in den Mütterrollen zu sehen: Nina Hoss als leicht paranoide Deutsche und Chiara Mastroianni als von der eigenen Tochter genervte Französin. Einen Film mit den beiden in den Hauptrollen hätte man sich lieber angeschaut.

INFOS ZUM FILM

Frankreich / Deutschland / Belgien 2024
105 min
Regie Claire Burger
Bild © Les Films de Pierre

Panorama

BETWEEN THE TEMPLES

Ein Mann in der Krise: Chorleiter Ben (Jason Schwartzman) kämpft mit dem Verlust seiner Stimme und möglicherweise seines jüdischen Glaubens. Seine Welt wird vollends auf den Kopf gestellt, als seine Musiklehrerin aus Grundschulzeiten (Carol Kane) auftaucht, um seine Bat-Mizwa-Schülerin zu werden.

Mit improvisierten Dialogen und absurdem Humor erinnert BETWEEN THE TEMPLES stellenweise an Larry Sanders’ CURB YOUR ENTHUSIASM. Doch Silvers Komödie funktioniert nicht durchgehend und verstolpert sich öfters in einem Mischmasch aus Ideen und Stilexperimenten. Charmant wird es, wenn sich der Film auf die Beziehung von Ben und Carla konzentriert, vor allem dank der Chemie zwischen Schwartzman und Kane.

INFOS ZUM FILM

USA 2024
112 min
Regie Nathan Silver
Bild © Sean Price Williams

Generation 14plus

COMME LE FEU

COMME LE FEU läuft in der Reihe Generation 14plus und wendet sich somit an ein jugendliches Publikum. Der Film beginnt mit einer ungefähr zehnminütigen Szene, in der ein Auto durch die Landschaft fährt. Dazu hört man eine auf einem Ton gehaltene Musik. Viel interessanter wird es nicht. Die Geschichte von zwei Filmemachern, die sich mit ihren Familien in einer abgeschiedenen Blockhütte treffen, hat viel Dialog und wenig Handlung. Das Ganze dauert 155 Minuten und man fragt sich, welcher Teenager sich das freiwillig anschauen soll.

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „Who by Fire“
Kanada / Frankreich 2024
155 min
Regie Philippe Lesage
Bild © Balthazar Lab

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BERLINALE 2024 – TAG VIER

BERLINALE 2024 – TAG VIER

"Kunst kommt von Kopfschmerz" lautet auch in diesem Jahr das Berlinale-Motto. Selten war so viel Anstrengendes und Freudloses in den Sektionen vertreten. Da kann Panorama-Chef Michael Stütz bei der Vorstellung seines Programms noch so sehr betonen wie „großartig“ dieser Film, "großartig" diese Schauspielerin, "großartig" dieser Regisseur und "großartig" jenes Drehbuch seien - richtig großartig ist in diesem Jahr enttäuschend wenig. Die Ausnahme bestätigt die Regel: Matthias Glasners STERBEN im Wettbewerb und das schräge Berlinale-Comeback von Kristen Stewart in LOVE LIES BLEEDING.

Wettbewerb

Sterben

STERBEN

Matthias Glasner kehrt zum ersten Mal seit 2006 in den Berlinale Wettbewerb zurück. Sein grandioses Familienepos STERBEN handelt natürlich genau vom Gegenteil, nämlich dem Leben in all seinen furchtbaren und furchtbar schönen Facetten. Die über dreistündige Drama-Komödie erforscht die Intensität des Lebens angesichts des Todes mit einer Mischung aus Zartheit, Brutalität, absurder Komik und trauriger Schönheit, die die Grenzen zwischen bitter und lustig verschwimmen lässt.

Im Fokus der Handlung steht Familie Lunnies: Lissy (Corinna Harfouch) ist Mitte 70 und froh, dass ihr dementer Mann endlich im Heim ist. Ihr Sohn Tom (Lars Eidinger), ein Dirigent, arbeitet zusammen mit seinem depressiven Freund Bernard an der Komposition „Sterben“. Toms Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) hat ein Alkoholproblem und beginnt eine wilde Liebesgeschichte mit dem verheirateten Zahnarzt Sebastian (Ronald Zehrfeld).

Die in Kapitel gegliederte Geschichte hängt zwischendrin ein bisschen durch: Die Episode um Tochter Ellen ist die schwächste und fühlt sich an, als sei sie aus einem anderen Film. Ansonsten ist STERBEN voller guter Szenen – die vielleicht beste zeigt Lars Eidinger und Corinna Harfouch im schmerzhaft wahrsten Mutter-Kind-Gespräch der Kinogeschichte. Wahnsinnig komisch und todtraurig zugleich. Allein dafür lohnt es sich. Neben MY FAVORITE CAKE das bisherige Wettbewerbs-Highlight.

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „Dying“
Deutschland 2024
183 min
Regie Matthias Glasner
Bild © Jakub Bejnarowicz / Port au Prince, Schwarzweiss, Senator

Wettbewerb

L'Empire

L'EMPIRE

In einem kleinen französischen Dorf geschehen seltsame Dinge. Die Menschen verneigen sich vor einem allmächtigen Baby und Köpfe werden mit Laserschwertern abgetrennt. Kein Wunder, haben sich doch Außerirdische in die Körper der Dorfbewohner eingenistet. Die ultimative Schlacht zwischen zwei verfeindeten Alien-Spezies steht kurz bevor.

Wie belieben? Na gut, es ist eine Berlinale in der Carlo-Chatrian-Ära, aber trotzdem. Der obskure Mix aus französischem Arthouse, STAR WARS und Pseudo-Lars von Trier ist für ungefähr 5 Minuten unterhaltsam. Bruno Dumonts Science-Fiction-Parodie ist schwer verdauliche Kost und weird im unguten Sinn. Mehr WTF als das wird es hoffentlich nicht mehr.

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „The Empire“
Frankreich / Italien / Deutschland / Belgien / Portugal 2024
110 min
Regie Bruno Dumont
Bild © Tessalit Productions

Wettbewerb

DAHOMEY

DAHOMEY

Das Thema ist hochaktuell: Im November 2021 verließen 26 Kunstschätze Paris und kehrten in ihr Herkunftsland Dahomey, das heutige Benin, zurück. 1892 wurden sie dort von französischen Kolonialtruppen geraubt. Doch wie geht man mit den Objekten um in einem Land, das sich während ihrer Abwesenheit stark verändert hat?

Als „Mesmerisieren” wird das in den Bann ziehen bzw. Hypnotisieren bezeichnet. Ein Archaismus, der heute kaum noch Anwendung findet. Außer in einer Berlinale-Pressekonferenz 2024. „Thank you for this mesmerizing experience“, bedankt sich ein Journalist bei Regisseur Mati Diop. Na gut, ins Deutsche übersetzt heißt „mesmerizing“ schlicht „faszinierend“. Und als Kurzfilm wäre DAHOMEY das auch. Scheinbar musste aber auf Teufel komm raus die Minimallänge eines Spielfilms erreicht werden. Und so arbeiten sich die Filmemacher mühsam mit vielen langen Auf- und Abblenden auf knappe 67 Minuten. Ein weiterer Trend neben „dieser Film sollte besser in einem Museum gezeigt werden“ scheint das Unterlegen von Dingen (hier Statuen) und Tieren (bei PEPE ein Nilpferd) mit dröhnenden, tiefen Stimmen zu sein. Wird garantiert irgendeinen Preis gewinnen.

INFOS ZUM FILM

Frankreich / Senegal / Benin 2024
67 min
Regie Mati Diop
Bild © Les Films du Bal – Fanta Sy

Berlinale Special Gala

Love lies bleeding

LOVE LIES BLEEDING

Kristen Stewart is back with a vengeance. Die Berlinale-Jurypräsidentin 2023 präsentiert mit LOVE LIES BLEEDING ihren sehr speziellen Beitrag zum Thema Girlpower.

Die junge Liebe zwischen Fitnessstudioleiterin Lou und Bodybuilderin Jackie steht unter keinem guten Stern, denn Lous Familie ist ein Haufen gewalttätiger Verbrecher. LOVE LIES BLEEDING hat von allem sehr viel: lesbischen Sex, Muskeln, Blut und heftige Chemie zwischen Kristen Stewart und Katy O’Brian. Regisseurin Rose Glass provoziert ihr Publikum, wo sie nur kann – das ist zwar alles andere als subtil, bereitet aber bis zur letzten Szene großen Spaß.

INFOS ZUM FILM

USA / GB 2023
104 min
Regie Rose Glass
Bild © Anna Kooris

Panorama

LES PARADIS DE DIANE

Endlich mal was Fröhliches. Aus postnataler Depression wird bei Diane eine PNF, eine postnatale Flucht. Kaum hat sie ihr Kind in Zürich zur Welt gebracht, macht sie sich vom Acker. Sie taucht in Spanien unter, trifft auf die ältere Rose. Auch die hat ein Mutter-Kind-Problem. „Wenn Du eine Landschaft wärst, was für eine wäre das?“ Ja, genau, es ist einer dieser Filme. Dazu ein Score, der klingt, als hätte die Alarmanlage eines Autos als Inspirationsquelle gedient. Was kommt als nächstes? PBS – Post Berlinale Depression?

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „Paradises of Diane“
Schweiz 2024
97 min
Regie Carmen Jaquier und Jan Gassmann
Bild © 2:1 Film

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BERLINALE 2024 – TAG DREI

BERLINALE 2024 – TAG DREI

Das Gerücht geht um, dass Andreas Dresens neuer Film ursprünglich in der Sektion Panorama versteckt werden sollte. Sein letzter Berlinale-Film RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH gewann 2022 immerhin zwei Bären. Der Regisseur drohte daraufhin, IN LIEBE, EURE HILDE vom Festival zurückzuziehen. Nun läuft er doch im Wettbewerb. Verdient oder unverdient?

Wettbewerb

In Liebe, eure Hilde

IN LIEBE, EURE HILDE

Andreas Dresens IN LIEBE, EURE HILDE ist der erste deutsche Wettbewerbsfilm in diesem Jahr. Die bereits achte gemeinsame Arbeit des Regisseurs und der Drehbuchautorin Laila Stieler erzählt eine Liebesgeschichte inmitten der Kriegszeit 1942. Hilde (Liv Lisa Fries) und Hans (Johannes Hegemann) sind ein Paar. Die beiden beteiligen sich an den eher harmlosen Aktionen der Gruppe, die später als  „Rote Kapelle“ bekannt wurde. Als Hilde im achten Monat schwanger ist, werden sie und ihr Mann verhaftet und zum Tode verurteilt.

IN LIEBE, EURE HILDE erzählt fast nüchtern und ohne Kitsch die wahre Geschichte der zwei jungen Kommunisten im Widerstand, die vor allem in der ehemaligen DDR zu Volkshelden stilisiert wurden. Dabei erfindet Dresen mit seinem Biopic das Rad nicht neu, findet aber eine interessante Struktur: Die Zeit im Gefängnis verknüpft er mit der rückwärts erzählten Geschichte der Beziehung von Hans und Hilde. Es beginnt mit dem Ende durch die Verhaftung und schließt mit der ersten Begegnung auf einem Sommerfest. Vielleicht ein bisschen konventionell gemacht, aber um Klassen besser als vieles, was sich sonst noch im Wettbewerb tummelt – siehe unten.

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „From Hilde, with Love“
Deutschland 2024
124 min
Regie Andreas Dresen
Bild © Frederic Batier / Pandora Film

Wettbewerb

Another End

ANOTHER END

Ein weiterer Film aus der Reihe „wäre eine gute 45-Minuten-Black-Mirror-Episode“ geworden. Die Idee ist nicht neu, aber interessant: In naher Zukunft lassen sich die Erinnerungen und Charaktereigenschaften von Verstorbenen in sogenannten „Hosts“ implantieren. Die lassen sich ihre Dienste bezahlen, stehen dafür eine begrenzte Zeit lang als Wiedergänger zur Verfügung, um so den Angehörigen ein langsames Abschiednehmen zu ermöglichen.

Sal (Gael García Bernal) hat diese Dienste bitter nötig, denn nach dem Verlust seiner Frau Zoe steckt er in seinen Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben fest. Dank der neuen Technologie findet er Zoe auf diese Weise im Körper einer anderen Frau wieder.

Mutter oder Hure – dieses Frauenbild hält sich auch sieben Jahre nach #MeToo noch. Und da dies eine italienische Produktion ist, muss natürlich was mit Bunga Bunga rein. Aus Gründen, die wahrscheinlich weder Regie noch Drehbuch verstehen, streift Gael García Bernal im Laufe der Geschichte mit traurigem Blick durch Sexclubs, vorbei an halbnackten Frauen (und Männern) – Sinn macht das nicht. Aber immer noch besser als die drölfte langatmige Erklärung, weshalb, wieso und warum die Zeit mit den aus dem Totenreich zurückgekehrten Doppelgängern begrenzt ist. Man hat es schon nach dem zweiten Mal kapiert.

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Italien 2024
125 min
Regie Piero Messina
Bild © Indigo Film

Wettbewerb

Hors du temps

HORS DU TEMPS

Im April 2020 verbringen der Filmregisseur Etienne und sein Bruder Paul, ein Musikjournalist, zusammen mit ihren neuen Partnerinnen Morgane und Carole den Lockdown im Haus ihrer Eltern. Bei dem unfreiwilligen Gemeinschaftsurlaub wird viel geredet und es passiert so gut wie nichts.

Ein Haus auf dem Land mit herrlichem Garten? Während der Coronahochzeit konnte es einen schlimmer treffen. Die Beziehungs- und Alltagsproblemchen der Bohème lassen dementsprechend kalt. Zwei, drei nette Szenen – das war’s. Olivier Assayas‘ Nabelschau ist ein geschwätziges Stück Kino aus Frankreich, bei dem man sich wieder mal fragt, was das im Wettbewerb verloren hat. Carlo Chatrians Kino at it’s best. Das Ganze wirkt, als hätte es der späte Woody Allen an einem schlechten Tag inszeniert. Ausgesprochen langweilig.

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Englischer Titel „Suspended Time“
Frankreich 2024
105 min
Regie Olivier Assayas
Bild © Carole Bethuel

Panorama

THE OUTRUN

Nora  Fingscheidt bleibt mit ihrem neuen Film weiter am Thema „Frauen unter Druck“. Schrie und tobte sich in SYSTEMSPRENGER noch die neunjährige Benni durch eine ungerechte Welt, steht diesmal eine junge Frau im Mittelpunkt der Geschichte. Rona ist schwere Alkoholikerin und könnte glatt als erwachsene Version von Benni durchgehen. Wie so oft bei Trinkern ist sie nüchtern ein liebenswertes Wesen, verliert aber besoffen jede Kontrolle. 

Die Verfilmung von Amy Liptrots Memoiren macht es den Zuschauern nicht leicht, die Handlung springt wild in den Zeiten zwischen Kindheit, Sucht und Entzug. Saoirse Ronan stürzt sich kopfüber in die dankbare Rolle, überschreitet dabei nie die Grenze des Überspielens. Nora Fingscheidt ist fünf Jahre nach SYSTEMSPRENGER wieder ein starker Film gelungen, der – hätte er seine Premiere nicht vor kurzem beim Sundance Film Festival gefeiert – besser im Wettbewerb aufgehoben wäre.

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Originaltitel „The Outrun“
Vereinigtes Königreich / Deutschland 2024
117 min
Regie Nora Fingscheidt
Bild © The Outrun

Panorama

SEX

Klingt wie der Anfang von einem schlechten Witz: Zwei Schornsteinfeger unterhalten sich über Sex. Wenn es in einem zweistündigen Film nur zehn unterhaltsame Minuten gibt, dann kann man sicher sein, dass es sich um einen Berlinale-Beitrag a.d. Kosslick handelt. Nichts gegen Gespräche über Geschlechterrollen und das Infragestellen von gelernter Sexualität, doch Regisseur und Drehbuchautor Haugerud regt mit seinem Film nicht zum Nachdenken an, sondern erzeugt vor allem eins: gepflegte Langeweile.

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Originaltitel „Sex“
Norwegen 2024
125 min
Regie Dag Johan Haugerud
Bild © Motlys

Panorama

JANET PLANET

Und noch ein Film aus der Sektion „Muss man nicht gesehen haben“. Der Anfang ist noch ganz lustig, weckt die Hoffnung, es ginge um ein böses kleines Mädchen, das seine Umwelt terrorisiert. Doch dann stellt sich heraus, dass die elfjährige Lucy nur gerne Lindor-Kugeln isst (wer tut das nicht?) und aus dem Stanniolpapier Hüte für ihre Puppen bastelt. Ach ja, und ihrer Mutter Janet und deren wechselnden Partner:innen macht sie hin und wieder das Leben schwer. Da nicht ganz klar wird, was der Sinn dahinter ist, soll das Presseheft erklären: „In ihrem Filmdebüt beobachtet die mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Dramatikerin Annie Baker, wie ein Kind das Vergehen der Zeit erlebt, und zeigt den Prozess, mit dem eine Tochter sich von ihrer Mutter entliebt.“ Ach so.

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USA / GB 2023
110 min
Regie Annie Baker
Bild © A24

Generation Kplus

LOS TONOS MAYORES

Die 14-jährige Ana trägt seit einem Unfall eine Metallplatte im Arm. Damit empfängt sie rätselhafte Morsesignale. Ihre Suche nach dem Absender ist genauso langatmig, wie die Auflösung langweilig. Welchen Jugendlichen soll das in rasenden TikTok-Zeiten hinter dem Handy hervorlocken? Schnarch.

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „The Major Tones “
Argentinien / Spanien 2023
101 min
Regie Ingrid Pokropek
Bild © Gong Cine / 36 Caballos

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BERLINALE 2024 – TAG ZWEI

BERLINALE 2024 – TAG ZWEI

Hat ein Wahnsinniger die Absperrungen am Potsdamer Platz aufgestellt? Nirgendwo geht’s rein, nirgendwo geht’s raus. Wenn schon nicht das Wegeleitsystem, dann doch zumindest das Design gelobt: Der hochelegante Bär, der mal mit lächelndem Gesicht, mal mit angehobener Tatze die Berlinale-Plakate ziert, ist eine riesige Verbesserung gegenüber der 80er-Jahre Frisörwerbung vom letzten Jahr. Fell ist nämlich immer ganz gut …

Wettbewerb

A DIFFERENT MAN

A DIFFERENT MAN

Schauspieler Edward leidet unter einer starken Gesichtsdeformation. Dank eines neuen Medikaments sieht er bald wie Hollywoodstar Sebastian Stan aus. Äußerlich ändert sich einiges in seinem Leben, und doch bleibt im Grunde alles gleich.

A DIFFERENT MAN hat ein paar hübsche schräge Ideen, mit Adam Pearson einen sehr charmanten scene-stealer und eine ganze Reihe Probleme. Die platte Message „Was nützt die schönste Fassade, wenn die inneren Werte nicht stimmen“ wird mit dem Holzhammer transportiert. Dazu führt das unausgewogene Tempo zu langatmigen Szenen, während der Wechsel zwischen Psycho-Drama und Möchtegern-Thriller auf Dauer anstrengt. Regisseur Aaron Schimberg präsentiert dem Zuschauer haufenweise Indie-Klischees und wenig Subtilität.

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USA 2023
112 min
Regie Aaron Schimberg
Bild © Faces Off LLC

Wettbewerb

LA COCINA

Wer beim Titel LA COCINA einen Film übers Kochen erwartet, liegt gründlich falsch. Der mexikanische Wettbewerbsbeitrag spielt zwar zu großen Teilen in der Küche eines New Yorker Restaurants, doch ums Zubereiten von Speisen geht es nur am Rande. Nein, LA COCINA ist eine shakespearsche Tragödie mit allem Drum und Dran: Liebe, Verrat, das ganz große Drama. Und wie es sich für ein Drama gehört, wird über zwei Stunden lang leidenschaftlich gelitten und gestritten.

Die Geschichte spielt hinter den Kulissen der Touristenfalle „The Grill“ am Times Square. Der mexikanische Koch Pedro (Raúl Briones Carmona), ein Illegaler, ist schwer in die Kellnerin Juilia (Ronney Mara) verliebt. Als er erfährt, dass sie von ihm schwanger ist und abtreiben will, sieht er rot. Beziehungsweise grau, denn LA COCINA ist in strengem Schwarz-Weiß gedreht. Dass Dialoge, Rhythmus und Inszenierung theaterhaft wirken, kommt nicht von ungefähr: Der Film basiert auf dem gleichnamigen Bühnenstück von Arnold Wesker. Kein Wunder, dass man sich wie beim Tableread zu einem Off-Broadway-Stück fühlt.

Die Küche als Hölle auf Erden. All das Geschreie und Gefluche mag zwar authentisch sein, zerrt aber auf Dauer nicht nur an den Nerven der Protagonisten. LA COCINA ist so anstrengend wie eine Doppelschicht in der Großraumküche.

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Mexiko / USA 2024
139 min
Regie Alonso Ruizpalacios
Bild © Juan Pablo Ramírez / Filmadora

Wettbewerb

My favorite cake

MY FAVORITE CAKE

Mahin (70) lebt allein, ihre Kinder sind ins Ausland weggezogen. Eines schönen Tages beschließt sie, dass es genug mit der Einsamkeit ist und ihr Liebesleben einen Neustart braucht. Die Spontanromanze mit einem Taxifahrer entwickelt sich rasch zu einem in vielerlei Hinsicht unvergesslichen Abend.

Schon Maryam Moghaddams und Behtash Sanaeehas vorheriger Film BALLAD OF A WHITE COW wurde nicht nur bei Framerate in den höchsten Tönen gelobt und entwickelte sich schnell zum Publikumsliebling der Berlinale 2021. Auch KEYKE MAHBOOBE MAN läuft im Wettbewerb und es wäre ein Wunder, wenn es nicht irgendeinen Bären dafür gäbe. Die zarte Liebesgeschichte zwischen zwei Rentnern in Teheran hat alles, was Kino braucht: Tragik, eine gute Story, zwei herausragende Darsteller (Lily Farhadpour & Esmail Mehrabi) und vor allem viel Humor.

Gar nicht lustiger sad-fact: Gegen das iranische Autoren- und Regie-Duo Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha wurde ein Reiseverbot verhängt. Ihre Pässe wurden konfisziert und ihnen droht in Bezug auf ihre Arbeit als Filmemacher ein Gerichtsverfahren.

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Originaltitel „Keyke Mahboobe Man“
Iran / Frankreich / Schweden / Deutschland 2024
97 min
Regie Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha
Bild © Hamid Janipour

Panorama

BRIEF HISTORY OF A FAMILY

Der 15-jährige Waisenjunge Yan Shuo wanzt sich in die Familie seines Mitschülers Tu Wei. Die wohlhabenden Eltern nehmen ihn schnell als zweiten Sohn an. Ein Plädoyer für die Wiedereinführung der Ein-Kind-Politik? Man weiß es nicht. Der stilvolle, aber spannungsarme Thriller besticht immerhin durch unterschwellig bedrohliche Atmosphäre, doch am Ende ist man so schlau wie zu Beginn.

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Originaltitel „Jia ting jian shi“
Volksrepublik China / Frankreich / Dänemark / Katar 2024
99 min
Regie Lin Jianjie
Bild © First Light Films, Films du Milieu, Tambo films

Panorama

PENDANT CE TEMPS SUR TERRE

Eines Tages wird Elsa von einer außerirdischen Lebensform kontaktiert, die behauptet, sie könne den im Weltraum verschollenen Bruder der jungen Frau zur Erde zurückbringen. Doch der Preis dafür ist hoch. Regisseur Jérémy Clapin will uns mit PENDANT CE TEMPS SUR TERRE wahrscheinlich etwas über Trauer und Verlust erzählen. Dazu nutzt er eine Mischung aus Body-Horror, Science Fiction, Zeichentrick und französischem Arthouse-Kino. Kunst halt. Sehenswert nur wegen der tollen Hauptdarstellerin Megan Northam.

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Englischer Titel „Meanwhile on Earth“
Frankreich 2024
88 min
Regie Jérémy Clapin
Bild © Manuel Moutier

Generation Kplus

Sieger Sein

SIEGER SEIN

Mona ist mit ihrer kurdischen Familie aus Syrien geflüchtet und landet im Berliner Wedding, dem Bezirk, der seit 30 Jahren kommt. In ihrer neuen Schule ist sie „voll das Opfer“, bis sie beim Fussballspielen beweisen kann, was in ihr steckt. Ganz erstaunlich, dass es sich bei SIEGER SEIN um einen Debütfilm handelt. Denn es wimmelt nur so von Klischees. Regisseurin Soleen Yusef will es allen recht machen: Der jungen Zielgruppe ebenso, wie den vereulten Redakteuren der Öffentlich-Rechtlichen. Besonders nervig sind dabei die didaktischen Ansätze. Ein bisschen Zuwendung und schon hebt der gerade noch respektlose Rotzlöffel im Unterricht brav die Hand und fragt mit großen Augen „Was ist Diktatur?“ Erklärung folgt, wieder was gelernt – Bruda, isch schwöre!

INFOS ZUM FILM

Englischer Titel „Winners“
Deutschland 2024
119 min
Regie Soleen Yusef
Bild © Stephan Burchardt / DCM

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BERLINALE 2024 – TAG EINS

BERLINALE 2024 – TAG EINS

„Menschen, die in metaphorischen Käfigen gefangen sind“ - unter diesem Gute-Laune-Motto steht laut künstlerischem Leiter Carlo Chatrian die diesjährige Auswahl der Wettbewerbsfilme. Und damit welcome, bienvenue und herzlich willkommen zu einer neuen Runde Berlinale. Für das glücklose Führungsduo Mariëtte & Carlo ist es die vorläufig letzte. Ab 2025 übernimmt Tricia Tuttle (keine name-jokes) und weckt schon bei ihrem ersten Auftritt die leise Hoffnung, dass das größte Publikumsfestival in Zukunft wieder etwas zugänglicher wird und weniger sperriges Kopfkino präsentiert. Aber jetzt erst mal Kaffee in den Körper und los geht’s mit dem Eröffnungsfilm:

Wettbewerb

SMALL THINGS LIKE THESE

Die bange Frage: Ist der Eröffnungsfilm in diesem Jahr wieder besonders schlecht? Ganz im Sinne Chatrians geht’s mit schwerer Kost los. Als Lieferant für entsetzliche Geschichten ist die Kirche stets ein verlässlicher Quell: In SMALL THINGS LIKE THESE geht es nicht um Hexenverbrennung oder Kindesmissbrauch, sondern um ein unbekannteres Verbrechen. Das Drama beschäftigt sich mit den irischen „Magdalenen-Wäschereien“. Das waren Heime, die zwischen 1820 und Mitte der 1990er-Jahre von römisch-katholischen Institutionen betrieben wurden. Vorgeblich sollten dort „gefallene junge Frauen“ reformiert werden, in Wahrheit wurden sie misshandelt, ausgebeutet und ihrer Kinder beraubt. Der Kohlehändler Bill Furlong (Cillian Murphy) kommt eher unfreiwillig hinter die korrupten Machenschaften des Klosters und weckt dabei Erinnerungen an seine eigene traumatische Kindheit.

Zugegebenermaßen fällt es schwer, sich auf den Film zu konzentrieren, wenn nebendran ein dauerkaugummikauender, handybrummender, reißverschlußaufundzumachender Zuschauer sitzt. Da wünscht man sich den stillen Brüter Cillian Murphy als Platznachbarn, der weint sogar lautlos. Ist es zu früh zu prophezeien, dass er den Bären als bester Schauspieler bekommen könnte?

SMALL THINGS LIKE THESE ist erwachsenes, ernstes Kino, mit leichter Tendenz ins Zähe. Düster und ohne jede Leichtigkeit, aber herausragend gespielt und inszeniert. Es gab bei Gott schon schlechtere Berlinalestarts.

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Deutscher Titel „Kleine Dinge wie diese“
Irland / Belgien 2024
96 min
Regie Tim Mielants
Bild © Shane O’Connor

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STELLA. EIN LEBEN.

STELLA. EIN LEBEN.

Ab 25. Januar 2024 im Kino

Blondiert, elegant und skrupellos - Stella Goldschlag verrät während des Zweiten Weltkriegs jüdische Mitbürger, um ihre eigene Haut zu retten.

Berlin 1940: Sie lebt und liebt Jazz. Der große Traum vom Engagement in New York wird sich nicht erfüllen, denn Stella und ihre Freunde sind Juden. Sie kann zwar zunächst untertauchen, doch 1943 wird sie verhaftet. Um sich und ihre Eltern zu retten, arbeitet sie im Auftrag der Gestapo, sucht nach jüdischen Mitbürgern und denunziert sie. 

War Stella Goldschlag ein Monster?

Zwischen 600 und 3.000 Juden verrät Stella Goldschlag und stürzt sie damit ins Verderben. Nach Kriegsende will sie sich als „Opfer des Faschismus“ anerkennen lassen, später konvertiert sie zum Christentum und wird bekennende Antisemitin. Paula Beer spielt die ambivalente Figur gewohnt facettenreich, doch als Zuschauer bleibt man distanziert. Es fällt schwer, irgendeine Form von Sympathie oder Mitgefühl (trotz brutaler Folter durch die Gestapo) für eine Kollaborateurin zu entwickeln, die sich derart skrupellos verhält. Wie sie gemeinsam mit ihrem Freund, dem Passfälscher Rolf Isaaksohn, nicht nur überteuerte Ausweispapiere an Juden verkauft, sondern sich bald einen genussvollen Sport daraus macht, sogar enge Freunde zu verraten – das ist schon ganz und gar widerlich.

Den Kudamm der 40er-Jahre hat Set-Designer Albrecht Konrad kurzerhand an der Frankfurter Allee nachgebaut. Das sieht täuschend echt aus und ist eine Wohltat gegenüber den sonst üblichen, im Computer generierten Kulissen. STELLA. EIN LEBEN. besticht immerhin durch tolle Ausstattung. Doch sowohl in der Besetzung als auch in der Bildsprache ist der Film eigenartig modern. Zu keinem Moment glaubt man ernsthaft, Jannis Niewöhner oder Damian Hardung seien Menschen aus der damaligen Zeit. Kameramann Benedict Neuenfels zoomt und wackelt dazu durch die Geschichte, als würde er einen Jason-Bourne-Film in den 2000er-Jahren drehen – auch das wirkt angestrengt und fehl am Platz.

Ein zwiespältiger Film über eine (mehr als) zwiespältige Frau. War Stella Goldschlag ein Monster? Darüber zu urteilen, fällt schwer. Über allem steht die ewige Frage: „Was hätte man selbst getan?“ Stella Goldschlag war Täterin und Opfer zugleich. STELLA. EIN LEBEN. hat inszenatorische Schwächen, erzählt aber eine hochinteressante und gleichzeitig verstörende wahre Geschichte.

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Deutschland 2023
115 min
Regie Kilian Riedhof

alle Bilder © MAJESTIC

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BAGHEAD

BAGHEAD

Ab 28. Dezember 2023 im Kino

Vielleicht klappt’s ja mit Clickbait: Als wir erfuhren, wie schlecht dieser Film ist, wollten wir es zunächst nicht glauben! Lies die ganze Geschichte hier!

BAGHEAD ist ein Märchenfilm: Im Keller eines jahrhundertealten Pubs wohnt eine untote Hexe, die für zwei Minuten Tote ins Reich der Lebenden zurückbringen kann.

Märchenhaft schlecht

Märchenhaft schlecht ist nicht nur die Geschichte, sondern auch Schauspiel und Inszenierung. BAGHEAD ist eine weitere Perle aus der insolventen Studio-Babelsberg-Schmiede. Glaubt man Film und Ausstattung, ist das heutige Berlin (da spielt das Ganze aus nicht nachvollziehbaren Gründen) eine düstere, ständig verregnete Stadt voll geheimnisumwitterter Orte. Na gut, das mit verregnet mag ja noch stimmen – aber wo ist es denn bitteschön hier noch geheimnisvoll? Seit der über 20 Jahre andauernden Kernsanierung ist Berlin ungefähr so mystisch wie eine Starbucks-Filiale.

Regisseur Alberto Corredor hat seinen sehenswerten Kurzfilm von 2017 auf Spielfilmlänge ausgewalzt. Das funktioniert nur bedingt und auf vielen Ebenen überhaupt nicht. Außer zu lauten Toneffekten erzeugt sein hanebüchenes Erstlingswerk vor allem keinen Grusel. Das ist nicht gut bei einem Gruselfilm. Wie man eine sehr ähnliche Geschichte über Kontakte ins Totenreich originell und frisch erzählt, hat zuletzt der um Längen bessere australische Horrorfilm TALK TO ME gezeigt.

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Originaltitel „Baghead“
USA / Deutschland 2023
95 min
Regie Alberto Corredor

alle Bilder © STUDIOCANAL

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MUNCH

MUNCH

Ab 14. Dezember 2023 im Kino

Biopic über den Vater des Expressionismus, Edvard Munch. Sein Gemälde „Der Schrei“ ist eines der berühmtesten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts.

MUNCH ist eine Tour de Force durch das Seelenleben eines unergründlichen Künstlers. Von seinen Kollegen missverstanden, vom Kunstbetrieb abgelehnt, von Melancholie geplagt und von der Alkoholsucht gequält – Regisseur Henrik Martin Dahlsbakken zeichnet ein nuanciertes Porträt des norwegischen Malers.

Nur wenige waren produktiver

Das 19. Jahrhundert ist nur ein Handyklingeln vom Technoclub entfernt. MUNCH schafft den Bezug zum Heute, indem er Szenen frech ins Berlin der Jetztzeit verlegt. Dort sorgt 1892 die erste Ausstellung des jungen Malers für einen Skandal. Eine von vielen künstlerisch mutigen Ideen, die das Biopic zu einem relevanten, modernen Stück Kino machen. So wird der greise Munch beispielsweise von der norwegischen Theaterschauspielerin Anne Krigsvoll gespielt, eine überraschende Besetzung, die hervorragend funktioniert.

Der große Ruhm setzt auch bei Edvard Munch erst lange nach seinem Tod ein: 2012 wird „Der Schrei“ für unfassbare 120 Millionen US-Dollar versteigert. Wie in den beiden anderen aktuellen Malerbiopics DALILAND und DER SCHATTEN VON CARAVAGGIO spielen auch bei MUNCH die Kunstwerke selbst nur eine untergeordnete Rolle. Die Seelenqualen (und damit Inspirationsquellen) des Künstlers stehen mehr im Mittelpunkt als sein Werk. Verständlich, denn für einen Spielfilm bieten abgefilmte Gemälde nur einen überschaubaren Unterhaltungswert. Wer das im Kino trotzdem sehen möchte, für den gibt es am Ende von MUNCH eine tolle, mehrminütige Sequenz, die ein Best of seiner berühmtesten Bilder zeigt. Es sind viele. Munch hinterließ der Nachwelt mehr als 1.700 Gemälde.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Munch“
Norwegen 2023
104 min
Regie Henrik Martin Dahlsbakken

alle Bilder © Splendid Film

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DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES

DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES

Ab 16. November 2023 im Kino

Und noch eine Fortsetzung: Das Prequel zu einer Trilogie, die schon in vier Teile zerdehnt war. Hat die Menschheit wirklich auf die Vorgeschichte zu den Hunger Games gewartet?

Erstmal: dett is nich meen Berlin! Wieso Berlin? Als es den Babelsberger Filmstudios noch gut ging und diverse Streiks nicht die halbe Industrie lahmlegten, wurde die US-Produktion DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES zu großen Teilen in der deutschen Hauptstadt gedreht – und das sieht man. Szenenbildner Uli Hanisch hat vom Olympiastadion über den Strausberger Platz bis zum Krematorium Baumschulenweg (werden da eigentlich auch noch Bestattungen durchgeführt oder nur noch Filme gedreht?) diverse Motive in beeindruckende Endzeit-Settings umgebaut. So macht der Film vor allem Berlinern Laune beim heiteren Locationraten.

Fühlt sich wie die komplette Staffel einer Serie an

Basierend auf der Bestseller-Reihe von Suzanne Collins werden „Die Tribute von Panem“-Kinofilme weiter ausgeschlachtet. Nachdem Regisseur Lawrence kürzlich selbst zugab, dass das Splitten des dritten Films in zwei Teile „ein schwerer Fehler“ gewesen sei, geht es nun mit dem fünften beziehungsweise ersten Prequel-Teil weiter. Die Vorgeschichte der gefürchteten Hungerspiele stellt den jungen Coriolanus (Tom Blyth) in den Mittelpunkt, lange bevor er zum Präsidenten von Panem wird (in Teil eins bis vier von Donald Sutherland gespielt). Als Sprössling einer einst vermögenden Familie wird er zum Mentor von Lucy Gray (Rachel Zegler) ernannt, einem Mädchen aus dem verarmten Distrikt 12. Schnell wittert er seine Chance, Familienehre und Macht zurückzuerlangen.

Bis in die Nebenrollen hochkarätig besetzt: Oscarpreisträgerin Viola Davis goes full camp als Dr. Volumnia Gaul. Trotz aufgeplatzter Sofakissen-Frisur und grellem Make-up ist sie weniger furchteinflößend, als sie es hätte sein wollen und lässt dabei die Grenzen zum overacting weit hinter sich. Ausgezeichnet dagegen: Jason Schwartzman als schmieriger Showmoderator und der immer herausragende Peter Dinklage in der Rolle des tragischen Antihelden. Nach THE MARVELS trällert es auch in den Tributen gewaltig. Noch ein Actionspektakel, in dem gesungen wird. Man fragt sich, was das soll. Rachel Zegler hat zwar eine hübsche Stimme (schließlich war sie die Maria in Steven Spielbergs WEST SIDE STORY), aber das Gejodel wirkt in einem dystopischen Jugendfilm völlig fehl am Platz.

DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES. Langer Titel, langer Film. Der in drei Kapitel unterteilte 157-Minuten-Film fühlt sich wie die komplette Staffel einer Serie an. Vor allem der letzte Akt könnte glatt ein eigener Spielfilm sein. Fortsetzung folgt. Garantiert.

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Originaltitel „The Hunger Games: The Ballad of Songbirds & Snakes“
USA 2023
157 min
Regie Francis Lawrence

alle Bilder © LEONINE Studios

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DIE MITTAGSFRAU

DIE MITTAGSFRAU

Ab 28. September 2023 im Kino

In ihrem preisgekrönten Roman „Die Mittagsfrau“ von 2007 erfindet Julia Frank eine Version der Lebensgeschichte ihrer Großmutter. Die österreichische Regisseurin Barbara Albert hat den Bestseller nun mit Mala Emde in der Hauptrolle verfilmt.

Helene – so der Name der semifiktiven Großmutter – wächst in Bautzen in bedrückenden Verhältnissen auf. Ihre Mutter ist psychisch krank, lebt in einer Wahnwelt. Um all dem Leid zu entgehen, brechen die junge Helene und ihre ältere Schwester Martha ins wilde Berlin der 20er-Jahre auf, wo sie bei ihrer mondänen Tante Fanny unterkommen. Viele Partys, Charleston-Tänze und Schicksalsschläge später ist Helene alleinerziehende Mutter. Weil das Leben kurz und das Kind nervig ist, bringt sie es an einen Bahnhof und lässt es dort zurück. Endlich frei, kaltes Herz. Ende.

Die Dialoge gestelzt, die Bildsprache gewöhnungsbedürftig

Die guten Schauspieler (u.a. Mala Emde, Max von der Groeben, Thomas Prenn) können nichts dafür, dass das Drehbuch voller gestelzter Dialoge, die Ausstattung unpassend modern und die Bildsprache gewöhnungsbedürftig ist. Es reicht eben nicht, ein paar Möbel (die teilweise aussehen, als hätte IKEA die Ausstattung besorgt) ins Set zu stellen und den Darstellern 20er-Jahre-Kleidung anzuziehen. Aber nicht nur Äußerlichkeiten sind unstimmig, auch Emotionen werden plump auf die Leinwand gebracht. Helenes Mutter beispielsweise muss ihren Wahnsinn mit Schreien, irrem Lachen und wirren Haaren darstellen. Edgw.

DIE MITTAGSFRAU macht den unguten Eindruck eines nicht allzu üppig budgetierten Kunsthochschulprojekts. Immer wenn es besonders gefühlig wird, schaltet die Kamera auf farbübersättigt und grobkörnig, das soll dann wohl stimmungsvoll sein. Die Geschichte von der Frau, die mit ihrer Rolle als Mutter ringt, ist interessant, wird aber in fast 2,5 Stunden lebensbedrohlich in die Länge gezogen. Über weite Strecken entsteht so eine Langeweile, die bei der Pressevorführung mit seligem Schnarchen und teils fluchtartigem Verlassen des Kinosaals honoriert wurde.

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Deutschland / Schweiz / Luxemburg 2023
136 min
Regie Barbara Albert

alle Bilder © Wild Bunch Germany

RETRIBUTION

RETRIBUTION

Ab 14. September 2023 im Kino

Schon wieder fährt ein Mann mit einer Bombe im Auto durch die Großstadt. Diesmal tickt es unter dem Sitz von Liam Neeson.

2015 machte EL DESCONOCIDO aus Spanien den Anfang. Drei Jahre später folgte die deutsche Version des gleichen Stoffes: STEIG. NICHT. AUS! mit Wotan Wilke Möhring. Nun also der nächste Aufguss mit dem unkaputtbaren Liam Neeson in der Hauptrolle. Man sieht dem 71-jährigen Iren mittlerweile an, dass er seit Jahren von einem Gegen-die-Uhr-Thriller zum nächsten jagt. Als gestresster Geschäftsmann und Familienvater fährt er in RETRIBUTION mit dem Auto durch Berlin, während unter seinem Fahrersitz eine Bombe tickt. Steigen er oder seine beiden Kinder aus, fliegt alles in die Luft. Sandra Bullock kann davon ein Lied singen.

Es holpert gewaltig

Für deutsche Zuschauer, besonders Berliner interessant: RETRIBUTION wurde komplett in der Hauptstadt gedreht. Der Grund dafür müssen wohl Fördergelder sein, denn außer der üblichen „Wie kommen die mit einem Schnitt von da nach da?“-Spaßfrage könnte die Handlung genauso gut in London, New York oder Kassel spielen. Die Besetzung ist durchweg international, gesprochen wird englisch.

Nimród Antal – den Namen muss man sich merken. Denn der Regisseur trägt wohl die Hauptschuld daran, dass RETRIBUTION so schlecht ist. Dialoge, Schauspiel, Inszenierung: Es holpert gewaltig. Immerhin funktioniert die unfreiwillige Komik. Statisten stehen verloren in der Szene, als würden Sie noch auf das „Action“ des Regisseurs warten oder overacten, als sei dies ein Stummfilm. „Dad! Daaad!!“ Die beiden Kinder sind so nervig, dass man sich schon nach wenigen Minuten fragt, ob es nicht für alle Beteiligten besser wäre, wenn das Auto bald in die Luft flöge.

Nicht mal die Actionszenen können überzeugen: Die Verfolgungsjagden sind lahm und unglaubwürdig inszeniert – oder stellt die Berliner Polizei bei einer Straßensperre tatsächlich ihre Autos mit so großen Lücken auf, dass selbst ein SUV locker durchpasst? Obwohl RETRIBUTION nur 91 Minuten lang ist, schleppt es sich dahin wie eine Trabifahrt. Vor allem das übererklärende Ende ist zum Einschlafen. Praktisch: Im Trailer sind sämtliche Highlights zu sehen, sodass man sich den Kinobesuch doppelt sparen kann.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Retribution“
USA / Deutschland / Frankreich / Spanien 2023
91 min
Regie Nimród Antal

alle Bilder © STUDIOCANAL

BLACK BOX

BLACK BOX

Ab 10. August 2023 im Kino

ChatGTP, schreibe ein Drehbuch mit folgenden Themen: Gentrifizierung, Immobilienhaie, Alt-68er, Profitgier, Geldsorgen, Muslime, Asylanten, Corona-Pandemie, Mord, politischer Aktivismus, Tollwut, Sex, Polizeigewalt - brrr - zzzzp - spratzel - fertig ist das Drehbuch zu BLACK BOX.

Es beginnt symbolisch: Ein moderner Glas-Stahlcontainer senkt sich wie ein UFO an maroder Fassade vorbei in einen Berliner Hinterhof. Der Anfang vom Ende der Gemütlichkeit. Das Pop-up-Office soll Kaufinteressenten anlocken, die alteingesessenen Mieter sind entsetzt. Als am nächsten Morgen die Hofzugänge von der Polizei abgeriegelt werden, mehrfach der Strom ausfällt und sich die Gerüchte vom bevorstehenden Verkauf der Wohnungen verselbstständigen, kippt die Stimmung Richtung Ausnahmezustand.

Druck auf dem Kessel

Regisseurin und Drehbuchautorin Aslı Özge hat Druck auf dem Kessel. Die ganze Wut muss raus, am besten in einem Film. In BLACK BOX versteckt sich unter ungefähr zweihundert angerissenen Themen eine interessante Metapher auf unsere Gesellschaft: Der Mikrokosmos Hinterhof, stellvertretend für die Spaltung eines ganzen Landes. Hochkarätig besetzt, ausgezeichnet gespielt (unter anderem Luise Heyer, Felix Kramer, Christian Berkel, Jonathan Berlin, Anne Ratte-Polle) und souverän inszeniert.

Der ätzende Kampf zwischen Mietern und Vermietern hätte als Bild für das zerfallende Gemeinschaftsgefühl und das Auseinanderdriften demokratischer Strukturen gereicht. Aber es ist von allem viel zu viel. Schere im Kopf, mal anders: Wenn es der innere Editor schafft, all die thematischen Nebenschauplätze auszublenden, dann funktioniert BLACK BOX als ein interessantes Psychodrama aus Deutschland.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
120 min
Regie Aslı Özge

alle Bilder © Port au Prince Pictures

DIE UNSCHÄRFERELATION DER LIEBE

DIE UNSCHÄRFERELATION DER LIEBE

Ab 29. Juni 2023 im Kino

Ein Film kann auf der Klaviatur der Gefühle vieles spielen: Angst, Freude, Erstaunen, Neugierde. DIE UNSCHÄRFERELATION DER LIEBE klimpert dagegen nur einen penetranten Ton und löst damit schwerste Genervtheit aus.

Ach Berlin, dicke Perle an der Spree, watt biste schön. Der Glockenturm im Tiergarten spielt nachts Erik Satie, Männer küssen sich auf der Friedrichstraße, glückliche Paare rollern zu zweit auf E-Scootern durchs Bild. Und der Britzer Garten ist ein menschenleeres Idyll an einem goldenen Herbsttag. Könnte alles so schön sein – wenn da nicht Greta wäre.

Es nervt

Die aufgedrehte Mittfünfzigerin gibt an einer Bushaltestelle dem Fleischermeister Alexander „versehentlich“ einen Kuss. Sie habe ihn mit ihrem verstorbenen Mann verwechselt. Nach dieser verwirrenden Erklärung heftet sie sich an die Fersen des bedauernswerten Singles und kaut ihm ein Ohr ab. Folgt ihm in die U-Bahn. Läuft ihm auf der Straße hinterher. Besucht ihn in seiner Metzgerei. Und quasselt dabei pausenlos Banalitäten, stellt übergriffige Fragen ohne Punkt und Komma. Wäre das verbale Dauerfeuer wenigstens charmant oder lustig. Aber es nervt. Sehr. Nicht nur Alexander, der einfach seine Ruhe haben will – sondern in erster Linie den Zuschauer.

Besonders bedauerlich ist die Verschwendung der guten Schauspieler. Vor allem um Burghart Klaußner ist es schade. Aber auch Caroline Peters hat man schon in anderen Rollen weitaus weniger nervtötend gesehen. Es muss also an der Regie liegen. Lars Kraume und sein Kameramann Jens Harant schaffen es nicht, die Vorlage von Simon Stephens inspiriert von der Theaterbühne zu lösen. Die Schauspieler stehen oft verloren nebeneinander und beten ihre Dialoge – oder vielmehr Monologe – herunter, als hätten sie eine Leseprobe am Theater. Der Funke springt nicht über und man wünscht sich von der ersten bis zur letzten Einstellung, Greta möge einfach die Klappe halten und den armen Alexander in Ruhe lassen. Nein, das anzusehen macht keinen Spaß und unterhaltsam ist das auch nicht. Und nein, da kommt nix mehr, außer: Schade um die schönen Fördergelder – nervigster deutscher Film seit langem.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
89 min
Regie Lars Kraume

alle Bilder © X Verleih

LARS EIDINGER – SEIN ODER NICHT SEIN

LARS EIDINGER – SEIN ODER NICHT SEIN

Kinostart 23. März 2023

Ein eitler Fatzke. Typischer Schauspieler. Ein Genie. Neutral stehen die wenigsten Lars Eidinger gegenüber. Dass er gut ist, darauf können sich fast alle einigen. Doch immer wieder verstören seine emotionalen Auftritte und seine Sucht, im Mittelpunkt zu stehen. Oder ist das auch nur ein böses Klischee? Nach seinem inzwischen legendären Tränenausbruch bei einer Berlinale-Pressekonferenz wurde er mit Hasskommentaren und hämischen Artikeln im Feuilleton überschüttet. Da könnte man schon fast Mitleid bekommen, wenn nicht Eidinger selbst in einem Interview gesagt hätte, dass er sich stets der Kameras und Zuschauer bewusst ist. „Ich bin gar nicht da, wenn mich keiner anschaut.“ Also doch alles nur Show?

Lars Eidinger spielt Lars Eidinger

Privat sei er ganz anders, zurückhaltend und still, so sein Freund Thomas Ostermeier. Der holt ihn 1999 an die Schaubühne. Spätestens mit Hamlet und Richard III wird das Regie/Schauspiel-Duo weltberühmt. Für Eidinger folgen Rollenangebote in internationalen Spielfilmproduktionen. Heute ist er einer der gefragtesten deutschen Schauspieler.

Reiner Holzemer hat Lars Eidinger neun Monate mit der Kamera begleitet. Als Rahmen dient die Probenarbeit für die Jedermann-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen 2021. Hier kommt es auch zu einer erinnerungswürdigen Szene: Eidinger ist gerade in einen Monolog versunken, da wagt es Regisseur Michael Sturminger leise mit einer Kollegin zu sprechen. Eidinger rastet komplett aus, die anderen im Raum senken betreten den Blick zu Boden, der Regisseur versucht sich zu rechtfertigen. Im Interview antwortet Eidinger später auf die Frage, ob ihm bei dem Streit auch bewusst war, dass die Kamera läuft mit einem lapidaren „Ja“. So weit, so unsympathisch. 

Lars Eidinger spielt Lars Eidinger, der Lars Eidinger spielt. Sein Werdegang von der Ernst Busch-Schule bis zum gefeierten Schauspielstar und Holzemers Blick auf seine oft unkonventionelle Arbeitsweise sind interessant, doch am stärksten bleiben die Theatermitschnitte, in denen Eidinger das macht, was er am besten kann: schauspielern.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
92 min
Regie Rainer Holzemer

alle Bilder © FILMWELT

SONNE UND BETON

SONNE UND BETON

Kinostart 02. März 2023

Berlin, Sommer 2003: Lukas, Julius, Gino und Sanchez – vier Jungs, die jede Menge Scheiß bauen und denen jede Menge Scheiß widerfährt. Muss das sein, diese vulgäre Sprache? Ja, denn in „Gropius“ aufzuwachsen ist nichts für Weicheier. Gangster oder Opfer. Hier gilt: Der Klügere tritt nach. An Drogen und Schlägereien kommt keiner vorbei. Die Sprache ist so rau wie die vier minderjährigen Kleingangster, die dringend 500 € klar machen müssen, sonst gibts Schläge von den Arabern.

Irgendwo zwischen EIS AM STIEL und 4 BLOCKS

Digger, ich schwöre, ich zerficke dir dein Gesicht. Herzige Dialoge wie dieser werfen die interessante Frage auf: Haben Jugendliche in den Nuller-Jahren wirklich schon derart penetrant gediggert wie heute? Dass mittlerweile 10-Jährige „Diggi“ schwafelnd durch die Straßen laufen, schlimm genug. Aber vor 20 Jahren? Man kann sich bei der Gelegenheit ohnehin fragen, weshalb Regisseur David Wnendt die Geschichte nicht in die Jetztzeit verlegt hat. Altmodische Handys und ein paar Nachrichtenbilder von Kanzler Schröder sind die einzigen Hinweise auf die Anfang-Tausender und haben keinen echten Mehrwert.

Felix Lobrecht zählt zu den gefeiertsten Comedians des Landes, füllt mit seinen Shows die größten Stadien und „Gemischtes Hack“ hat sowieso jeder schon einmal gehört, der sich für Podcasts interessiert. Die massenkompatible Verfilmung seines Bestsellers SONNE UND BETON liegt irgendwo zwischen EIS AM STIEL und 4 BLOCKS für Jugendliche. Bisschen doof, bisschen nervig, trotzdem lustig und sehr kurzweilig.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
119 min
Regie David Wnendt

alle Bilder © Constantin Film Verleih

GUNPOWDER MILKSHAKE

GUNPOWDER MILKSHAKE

BAM, BAMM, BAAM
BOING
PAFF,PAFPAF
BUMMMS
PENG, PENG
KLIRRR
AHHHR
URGH
WHOOOM
KA-BOOOOM
ÄCHZ!

Waaas? Der Film basiert NICHT auf einem Comic?

„Gunpowder Milkshake“ ist eine trashig-unterhaltsame Tarantino-John-Wick-Kopie mit schießwütigen Frauen und einer blassen Hauptdarstellerin.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Gunpowder Milkshake“
USA 2019
114 min
Regie Navot Papushado
Kinostart 02. Dezember 2021

alle Bilder © STUDIOCANAL

FLY

FLY

Woran erkennt man Tänzer?
Tänzer erkennt man daran, dass sie nicht wie andere Menschen einfach so über die Straße laufen, sondern – genau – immer tanzen. Jeder Schritt ein Cha-Cha-Cha. Wer das nicht glaubt, sollte sich die ersten 5 Minuten von Katja von Garniers „Fly“ anschauen.

Üblicherweise trifft in deutschen Tanzfilmen ein junges Mädchen, vorzugsweise eine Ballerina, auf eine Gruppe Streetdancer. Anfangs sind die toughen Buben und Mädels extra unfreundlich, dann fallen nach und nach die Masken und am Ende sind alle Freunde. „Fly“ variiert dieses Thema, hier sitzen alle Beteiligten zusammen im Knast. Die politisch korrekt besetzte Multikultigruppe ist Teil eines Resozialisierungsprogramms. Es folgen Battles mit gegnerischen Dancecrews, ein paar Schwierigkeiten, die mittels gruppendynamischer Bewegung weggetanzt werden und zum Happy End haben sich alle lieb.

Die Berliner Streetdancegruppe Flying Steps mischt mittlerweile kräftig im Filmgeschäft mit. Zuletzt waren sie für die Choreografie des scheußlichen Machwerks „Into the Beat – Dein Herz tanzt“ verantwortlich, einem Zwitter aus 80er-Jahre-ZDF-Vorabendserie und schlecht kopierter US-Konfektionsware. Aus Fehlern wird man klug: Diesmal wurde mit Katja von Garnier eine fähige Regisseurin engagiert. Und die bringt (zum Glück) gleich eine Handvoll Schauspieler mit, die ihr Handwerk ebenfalls verstehen und das Laienspiel der (echten) Tänzer auffangen können. Die drei Bandits Katja Riemann, Nicolette Krebitz und Jasmin Tabatabai bewahren den Film vor allzu großer Fremdscham.

Soundtrack, Choreografie, Kamera und Schnitt kaschieren die sehr vorhersehbare Geschichte. Am interessantesten an solchen Filmen ist ja ohnehin die Frage, in welcher Location die nächste, total spontane, aber trotzdem perfekt durchchoreografierte Tanznummer stattfindet. Höhepunkte diesmal: ein Berliner Bürgeramt.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2019
110 min
Regie Katja von Garnier
Kinostart 14. Oktober 2021

alle Bilder © STUDIOCANAL

EIN NASSER HUND

EIN NASSER HUND

Der 16-jährige Iraner Soheil zieht mit seinen Eltern nach Berlin-Wedding. Schnell freundet er sich beim Kicken mit ein paar Migrantenjungs an, verliebt sich in das türkische Mädchen Selma. Was Soheil seinen neuen Freunden verschweigt: Er ist kein Muslim, sondern Jude. Als er sich gezwungenermaßen outet, ist der Beef (#Jugendsprache) vorprogrammiert. Krass antisemitisch! Ja, Mann!

Der Wedding ist nicht nur im Kommen (seit über 50 Jahren), sondern auch Heimat für Araber, Kurden, Türken, Palästinenser – alles eine große Familie. Doch wehe, ein Jude verirrt sich hierhin, dann ist es mit der Toleranz vorbei. „Für die Deutschen bin ich ein Kanake, für die Türken ein Jude und für die Israelis ein Terrorist“, stellt Soheil resigniert fest. Wie soll es da jemals Weltfrieden geben?

Viel zu viel reißt der Film in zu kurzer Zeit an: Die Hauptfigur Soheil verändert sich im Sauseschritt vom guten Jungen zum gefeierten Sprayer, dann zum bösen Dealer, Messerstecher, unfreiwilligen Vater, Bandenopfer, Fachmann für Nahostkonflikte und schließlich zum israelischen Soldaten. Jeder Erinnerungsfetzen aus der Buchvorlage von Arye Sharuz Shalicar wird unmotiviert zu einer Filmszene verwurstet, egal, ob das einen größeren Zusammenhang ergibt oder nicht. Möglich, dass der Film erst am Schneidetisch zerhackstückt wurde, aber flüssig erzählt geht anders.

Damir Lukačević verfolgt das hehre Ziel, einen politischen Film über Hass und Gewalt, Toleranz und das schwierige Zusammenleben verschiedener Kulturen zu machen. Das ist nur teilweise geglückt. Die jungen (Laien)-Darsteller machen ihre Sache ordentlich, doch einige Szenen, besonders die mit Kida Khodr Ramadan (unvermeidlich), bewegen sich auf gehobenem Schüler-Theater-Niveau.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2021
102 min
Regie Damir Lukačević
Kinostart 09. September 2021

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE

FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE

Die Kamera gleitet durch den U-Bahnhof Heidelberger Platz im heutigen Berlin. An den wartenden Fahrgästen vorbei, die Treppe hinauf, und plötzlich befinden wir uns im Berlin der 1930er-Jahre. Nüchtern, meist distanziert führt uns Jakob Fabian durch die brodelnde Großstadt. Tagsüber unterforderter Werbetexter, zieht der angehende Schriftsteller nachts mit seinem besten Freund Labude durch die Bordelle und Kneipen Berlins. Ein unsteter Geist, immer auf der Suche. Veränderung liegt in der Luft, die Weimarer Republik geht zu Ende, die Nazis sind auf dem Vormarsch. Erst die Liebe zu Cornelia Battenberg wird ein Lichtblick in Fabians Leben, stellt seine ironische Weltanschauung infrage.

Dominik Graf wählt für die Neuverfilmung von Erich Kästners gleichnamigem Roman die Stilmittel einer Independent-Produktion. Originalschauplätze in Görlitz und Bautzen stehen für das historische Berlin und Dresden, körniges Super-8-Material wechselt munter mit alten Archivaufnahmen und aufwendig eingerichteten Szenen in Altbaufluchten. Graf erzählt seine Vision vom Tanz auf dem Vulkan ohne Klischees, frei von Kitsch und verzichtet auf computergenerierten Hollywoodglanz. Das ist weit weg von „Babylon Berlin“. 

Kameramann Hanno Lentz verwendet ein fast quadratisches Bildverhältnis, das gängige Kinoformat der Zeit, in der die Geschichte spielt. Eines der kleinen, unauffälligen Details, die den Film so stimmig machen.
Tom Schilling, unser Mann für intellektuelle Slacker, ist die Idealbesetzung für den verlorenen Fabian. An seiner Seite glänzen Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch und Meret Becker.

„Fabian oder der Gang vor die Hunde“ ist ein im besten Sinne altmodischer und zugleich sehr moderner Film. Die drei Stunden Laufzeit hätten hier und da ein paar Kürzungen vertragen, doch laut Regisseur gibt es einen Grund für die Länge: Er wollte, dass sein Film in etwa so lange dauert wie die Lektüre des Buchs.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2021
178 min
Regie Dominik Graf
Kinostart 05. August 2021

alle Bilder © DCM Pictures

KOKON

Bitch! Spermarutsche! – Es herrscht ein rauer Umgangston zwischen den Berliner Teenagern Nora (Lena Urzendowsky) und Jule (Lena Klenke). Die beiden Schwestern hängen mit ihrer besten Freundin im Jahrhundert-Sommer 2018 in Kreuzberg ab. Mittendrin, am Kottbusser Tor. Noras und Jules Mutter verbringt die Abende betrunken in der Eckkneipe, die Mädchen sind auf sich alleine gestellt. 

Im Sportunterricht, auf dem Schwebebalken: Es gibt für Nora kaum einen ungünstigeren Moment, ihre erste Periode zu bekommen. Während sich die Mitschüler*innen peinlich berührt abwenden, erweist sich „die Neue“, Romy, (Jella Hase) als patente Hilfe. Sie wäscht die blutige Hose kurzerhand aus und bietet dem verunsicherten Mädchen einen Joint „gegen die Schmerzen“ an. Nora ist spontanverliebt. Heimliches Schwimmen nachts im Prinzenbad, Tanzen auf dem CSD, der erste Sex: Unter Romys Einfluss entwickelt sich die schüchterne Nora bald von der grauen Maus zum wilden Mädchen.

Kameramann Martin Neumeyer fängt die sommerliche Kreuzberg-Liebesgeschichte stimmungsvoll ein. Vom Handyhochformat über beengtes 4:3 bis zum – mit der Entdeckung der Liebe einhergehenden – Öffnen ins Breitwandbild: Fast schon ein Muss in jedem neueren Arthousefilm ist auch hier das Spiel mit den verschiedenen Bildformaten. Regisseurin und Drehbuchautorin Leonie Krippendorff hat dabei ein gutes Gehör für authentische Dialoge und inszeniert ihre Darsteller glaubhaft und ohne jede Peinlichkeit. Jella Haase mag für ihre Rolle als bezirzende Schülerin ein paar Jahre zu alt sein – das wird mit einem lakonischen „sie ist zweimal sitzen geblieben“ erklärt – doch das schaut sich weg. Zentrum und Herz des Films ist ohnehin Lena Urzendowsky: eine Entdeckung, die demnächst in der Neuverfilmung von „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ zu sehen ist.

FAZIT

Schöne Coming-of-Age-Geschichte über sexuelles Erwachen und die erste große Liebe.

Deutschland 2020
94 min
Regie Leonie Krippendorff
Kinostart 13. August 2020

BENT

Was haben Kinos und Bordelle gemeinsam?
Beide gehören zu den sogenannten „Vergnügungsstätten“ und dürfen deshalb – im Gegensatz zu Theatern und Konzerthäusern – bald wieder aufmachen. Juche!
Die Bundesländer können sich überraschenderweise nicht einigen: Hier gehts am 15. Mai, da drei Tage später und dort erst nach Pfingsten los. Berlin macht sich’s gemütlich und nimmt sich ein bisschen länger Zeit – in der Hauptstadt bleiben die Kinosäle bis 5. Juni verschlossen. Das uneinheitliche Vorgehen ist für Verleiher ein Desaster, denn ein großer Hollywoodfilm wird kaum Bundesland für Bundesland an den Start geschickt. Bis sich dann alle doch noch geeinigt haben, gibt es weiterhin neue Video-on-Demand-Veröffentlichungen: diesmal ein digital restaurierter Klassiker des Queerfilms, „Bent“.

Erstaunlich, wer da alles mitspielt: Mick Jagger, Clive Owen, Nikolaj Coster-Waldau, Ian McKellen und der noch unbekannte Jude Law – in einer winzigen Nebenrolle, „Bent“ wurde 1997 gedreht.

Der homosexuelle Max (Clive Owen) genießt ein rauschhaft dekadentes Leben im Berlin der 30er Jahre. Während des „Röhm-Putsches“ können er und sein Freund Rudi zunächst fliehen, werden aber bald gefasst und verhaftet. Um nicht den rosa Winkel für Homosexuelle tragen zu müssen, lässt sich Max auf dem Weg nach Dachau einen Judenstern geben. Seine Selbstverleugnung geht sogar so weit, dass er seinen Freund auf Geheiß der Nazis tot prügelt.

Im Lager trifft Max auf Horst (Lothaire Bluteau), einen Insassen, der stolz das rosa Dreieck trägt. Die beiden Männer verlieben sich, obwohl ihnen streng verboten ist, miteinander zu sprechen oder sich gar zu berühren. 

Die erste Hälfte des Films hat mit ihren opulenten Partyszenen und Mick Jagger als Dragqueen (!) noch Schauwert, doch spätestens im zweiten Teil kippt „Bent“ in eine seltsame Künstlichkeit. Im Konzentrationslager werden in weißer Kulisse minutenlang Steine von rechts nach links getragen und in gestelzten Dialogen philosophiert. Dass der Film auf einem Theaterstück basiert, merkt man ihm da nur allzu deutlich an. 

FAZIT

Stärker auf der Bühne als auf der Leinwand.

p.s. Sollten die Kinos bis Anfang Juni alle wieder auf sein, kann man sich schonmal auf folgende Filme freuen:
„Exil“ ab 04. Juni
„Undine“ von Chritian Petzold ab 11. Juni
und ab 25. Juni „Berlin Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani

Originaltitel „Bent“
UK / JP 1997
102 min
Regie Sean Mathias
OV mit dt. UT
Ab sofort als VoD bei Club Salzgeber für 4,90 €

BERLIN, BERLIN – DER KINOFILM

Um es gleich vorwegzunehmen: der Inhalt ist kaum der Rede wert! Er verblasst gnädig schon wenige Minuten nach Filmende.
Lolle ist dabei, ihren alten Kumpel Hart zu ehelichen, die ewige Nummer zwei, als plötzlich auf dem Motorrad Jugendliebe Nummer eins daher braust, Cousin Sven, und verführerisch das Visier liftet. Lolle wird schwach und flüchtet vor der eigenen Hochzeit, wohl ahnend, dass das ein kapitaler Fehler sein könnte. Der Hallodri von damals ist der Hallodri von heute.

Es folgt ein Roadtrip von der Großstadt in den Harz und zurück – mit allerlei wirren Begegnungen. Warum und wieso, bleibt ein Geheimnis der Filmemacher. Die sogenannte „Handlung“ wirkt wie das Hirngespinst eines zugekifften Drehbuchautors, der mal so richtig die Sau rauslassen wollte. Leider hat ihm niemand verraten, wie öde das ist.
„Berlin, Berlin – Der Kinofilm“ ist vielleicht interessant für Nostalgiker mittleren Alters, die sich an die TV-Serie von vor 20 Jahren erinnern können und sich freuen, gerade in Coronazeiten, alte Bekannte wieder zu treffen. Damals trudelte das Landei Lolle (Felicitas Woll) vier Staffeln lang durch die Hauptstadt und erlebte Abenteuer. Sie wirkte emanzipiert und „Berlin, Berlin“ tatsächlich innovativ, die Geschichte immer wieder unterbrochen von bunten Comicszenen. Lolle war eine Type und die Vorabendserie umgab den Hauch des Authentischen. Heute wirkt alles eher muffig.

FAZIT

Was bleibt? Zu sehen, wie die Zeit sich einschreibt in Gesichter und was dabei ein paar Kilo mehr bewirken können. Selten etwas Gutes, so viel sei verraten. 

Deutschland 2020
80 min
Regie Franziska Meyer Price
Ab 08. Mai 2020 auf NETFLIX

Weekly Update 03 – diesmal mit *unbezahlter Werbung

Im zweiten Stock übt das unbegabte Kind seit drei Stunden die Titelmelodie von „Der Herr der Ringe“ auf der Trompete. Wer wird heute zuerst einen Schreianfall bekommen, der Junge oder seine Mutter? Oben rollt die Psychologin Weinfässer durch die Wohnung. Das macht sie jeden Tag, oft bis 3 Uhr morgens. So laut, dass man kein Auge zu macht. „ZU“ ist übrigens das Un-Wort des Jahres. Alles ist zu, außer den Augen. Auch die Kinos sind weiterhin zu. Vielleicht muss Framerate bald „die 5 besten Science-Fiction-Filme auf Netflix“ oder kurz und knapp irgendwelche Serien besprechen. Bis es hoffentlich nie so weit ist, gibts erstmal weitere VoD Neuerscheinungen und Brot.

Brot? Ja KOMMA Brot! Das allerbeste Brot der Stadt kann man derzeit in „Die Weinerei“, einem charmanten Weinladen in der Veteranenstraße 17, Berlin-Mitte kaufen. Mehl, Salz, Hefe, Wasser und viel Liebe: Mehr Inhaltsstoffe braucht es nicht. Innen saftig weich, außen eine herrlich dunkle Kruste. Knurps, fünf Sterne! *

Zum Preis von etwas mehr als zwei Broten (9,99 €) kann man ab sofort den Berlinale Gewinner 2019 „Synonymes“ streamen und tut dabei auch noch Gutes: Grandfilm teilt den Gewinn 50/50 mit den wegen Corona geschlossenen Independent-Kinos, die bisher die Filme des Verleihers gezeigt haben. Und der bereits letzte Woche erwähnte Club Salzgeber erweitert ab 09. April sein Portfolio mit dem mexikanischen Film „This is not Berlin“. *

SYNONYMES

Schlechter kanns für Yoav kaum laufen: Die Wohnung, in der er unterkommen soll, ist komplett unmöbliert und leer. Weil es so kalt ist, nimmt er erst mal ein Bad. Kaum in der Wanne, werden ihm alle seine Sachen gestohlen. Tom Mercier spielt Yoav, einen unzufriedenen jungen Mann, der aus Tel Aviv nach Paris flieht, um dort ein neues Leben zu beginnen. Er will seine Wurzeln kappen, nichts soll ihn an seine Vergangenheit erinnern. Yoav weigert sich, auch nur ein einziges hebräisches Wort zu sprechen. Sein ständiger Begleiter ist ein französisches Wörterbuch. So kommuniziert er mit den verschiedenen Menschen, die seinen Weg kreuzen. Wie er mit seinem niedlich-debil-geilen Gesichtsausdruck, französische Vokabeln brabbelnd, durch die Straßen von Paris irrt, erinnert er fast ein bisschen an Trash-König Joey Heindle, der sich verlaufen hat. 

Ein Pluspunkt des Films ist sein trockener Humor. Nervig dagegen ist das unüberhörbare Rascheln der Drehbuchseiten. Das Verhalten der Figuren dient oft nur der Geschichte, wirkt dadurch artifiziell und zu gewollt. „Synonymes“ basiert auf den eigenen Erfahrungen von Autor und Regisseur Nadav Lapidist. Eine Aneinanderreihung von Momentaufnahmen, manche geglückt, manche weniger. 

FAZIT

Die Berlinale-Jury entschied, „Synonymes“ sei der beste Films des Festivals 2019 und verlieh ihm den Goldenen Bären.

Originaltitel „Synonyms“
Frankreich / Israel / Deutschland 2019
123 min
Regie Nadav Lapid 
Ab sofort als VoD auf Grandfilms für 9,99 €

THIS IS NOT BERLIN

Ein Junge mit langen Haaren steht verloren inmitten einer heftigen Massenschlägerei. Der Blick geht ins Leere, er fällt in Ohnmacht. 

Mexiko City, 1986. Ein Außenseiter in der Schule, zu Hause nervt seine in Depressionen versunkene Mutter: der 17-jährige Carlos gehört nirgendwo richtig dazu. Das mit dem in Ohnmacht fallen ist zwar uncool, dafür ist er am Lötkolben ein Held. Der kleine Daniel Düsentrieb bastelt in seiner Freizeit die verrücktesten Maschinen zusammen. Als er den Synthesizer einer Band repariert und damit deren Auftritt rettet, wird er zum Dank mit in den angesagten Klub „Azteca“ genommen. Während ganz Mexiko der WM entgegenfiebert, entdeckt Carlos dort zusammen mit seinem besten Freund Geza die Welt der Subkultur: Video-Art, Punk-Performance, sexuelle Ambivalenz und Drogen. 
Klingt wie ein gewöhnliches Abendprogramm im Berlin der 80er Jahre. But this is not Berlin, it’s Mexiko! Wer hätte gedacht, dass es da vor 35 Jahren genauso wild und künstlerisch aufregend zuging, wie in der damals noch geteilten Hauptstadt? Die Underground-Kultur der Zeit haben Regisseur Sama und sein Kameramann Altamirano perfekt wieder zum Leben erweckt. Sexuell freizügige Nacktkunst-Aktionen und Jeder-mit-jedem-Herumgeschlafe sind erfrischend offen und unverklemmt inszeniert.

„This is not Berlin“ mischt sehr viel – ein bisschen zu viel – schräge Kunst mit einer etwas generischen Coming-Of-Age-Story über einen Jungen, dem die Augen für eine neue Welt geöffnet werden. Am Ende verstolpert sich die Handlung zu sehr in Klischees von Eifersucht und betrogener Freundschaft, das hätte es gar nicht gebraucht. Bis dahin ist „This is not Berlin“ ein unkonventioneller Film über Selbstfindung, Freundschaft, Liebe und das Erwachsenwerden.

FAZIT

Interessante Zeitreise in die 80er – wurde bereits auf mehreren Festivals ausgezeichnet.

Originaltitel „Esto no es Berlín“
Mexiko 2019
109 min
Regie Hari Sama
Spanische OF mit deutschen UT
Ab 09. April als VoD auf Club Salzgeber für 4,90 €

ALS HITLER DAS ROSA KANINCHEN STAHL

Die fleißigste Regisseurin Deutschlands hat schon wieder eine Autobiografie verfilmt: Diesmal Judith Kerrs Kindheitserinnerungen „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Damit kommt nur ein Jahr nach „Der Junge muss an die frische Luft“ der nächste Film von Caroline Link zu Weihnachten in die Kinos.

Die neunjährige Anna Kemper muss 1933 mit ihrer Familie nach Zürich fliehen. Ihr Vater, ein berühmter Theaterkritiker (Oliver Masucci), ist der neuen nationalsozialistischen Regierung zu kritisch und als Jude ohnehin nicht mehr geduldet. Anna lässt in ihrer Heimatstadt Berlin alles zurück, auch ihr geliebtes rosa Stoffkaninchen. In der Fremde wartet ein neues Leben voller Herausforderungen auf die Familie.

Für Ausstattung und Besetzung hat die Regisseurin ein gewohnt gutes Händchen. Der Zeitkolorit Anfang der 30er Jahre in Berlin, der Schweiz und Paris ist gut eingefangen und vor allem die jungen Darsteller Riva Krymalowski und Marinus Hohmann als Geschwister Anna und Max machen ihre Sache ganz ausgezeichnet. 

Wieder liefert eine komplizierte Familiengeschichte die Vorlage. Caroline Link versucht mit viel Sinn für Tragik und Humor, die episodischen Geschehnisse einer Kindheit authentisch und wahrhaft zu inszenieren. In den Schweizer Bergen mit den pumperlgesunden, rotbackigen Einwohnern droht der Film allerdings in Heimatkitsch abzurutschen. Kamerafrau Bella Haben versucht, dem mit schnellen Zooms und Jumpcuts entgegenzuwirken, doch die moderne Bildsprache wirkt bemüht und stört den Erzählfluss. Das Drehbuch hangelt sich zu sehr an den Stationen der Flucht entlang. Trotz des echten Horrors des Naziregimes wird eine wirkliche Gefahr im Film immer nur behauptet und aus zweiter Hand berichtet. Es mag an der FSK-Freigabe von „0“ liegen, „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ bleibt zu oberflächlich und wirkt trotz seiner lobenswert kurzen Laufzeit von nur 90 Minuten zäh und langatmig.

FAZIT

Ganz okay. Der nächste große Wurf ist Caroline Link nicht gelungen.

Deutschland / Schweiz 2019
90 min
Regie Caroline Link
Kinostart 25. Dezember 2019

LARA

Die Fassaden von warmem Herbstlicht beleuchtet, die Restaurants und Bars so gediegen-chic, als wären sie am Fuße des Eiffelturms gelegen und selbst der in garstigem 70er-Jahre Design erstarrte Feinkostladen Rogacki wirkt großstädtisch, wenn er von Kameramann Frank Griebe in Szene gesetzt wird. Selten sah das gute alte West-Berlin ästhetischer und schöner aus als in „Lara“. Die Liebe zum Stil setzt sich über die Kostüme und die Musik bis zur Besetzung fort. Alexander Khuon, Gudrun Ritter, Rainer Bock, Volkmar Kleinert: In Nebenrollen ist das Who is Who der deutschen Theaterszene versammelt. Passenderweise, denn der neue Film von Regisseur Jan-Ole Gerster wirkt in weiten Teilen wie ein verfilmtes Theaterstück.

Ein Tag in einem Leben: An Laras sechzigstem Geburtstag gibt ihr Sohn Viktor sein erstes Klavierkonzert mit Eigenkompositionen. Gestreng wie eine russische Eiskunstlauf-Trainerin hat Lara Viktors musikalischen Werdegang seit frühester Kindheit forciert. Corinna Harfouch spielt die emotional verhärtete Frau brillant. Sie umstrahlt eine traurig-abweisende Aura der Einsamkeit, wie sie sonst nur Isabell Huppert zu erzeugen vermag. Wer sich Lara annähert, wird kühl ignoriert oder notfalls mit messerscharfen Bemerkungen zurechtgewiesen. Mit der Zeit hat sie so nicht nur Kollegen und Freunde, sondern auch die eigene Familie ausgegrenzt.

Regisseur Gerster will erwachsen werden. Nach siebenjähriger Pause beherrscht er die Klaviatur des Filmemachens nach wie vor souverän. Doch hat er den lakonischen Humor seines kongenialen Erstlingswerks „Oh Boy“ diesmal zugunsten einer angestrengten Ernsthaftigkeit ausgetauscht. Das Mutter-Sohn-Drama ist eine in Stil erstarrte Fingerübung. „Lara“ wäre als interessanter Kurzfilm durchgegangen, wirkt aber auf Spielfilmlänge gestreckt arg manieriert.

FAZIT

Tolle Hauptdarstellerin in einem bemüht künstlerisch wertvollen Film.

Deutschland 2019
98 min
Regie Jan-Ole Gerster
Kinostart 07. November 2019

GOLDEN TWENTIES

Nach dem Studium zieht Ava erst mal zurück zu ihrer Mutter nach Berlin. Die 25-Jährige mäandert planlos durchs Leben. Mangels besserer Idee tritt sie eine Stelle als Hospitantin am Theater an. Dort verliebt sie sich in den Jung-Schauspieler Jonas. 

„Weil sie nicht die x-te coole Geschichte einer coolen Berlinerin erzählen wollte, die hysterisch durch die Gegend rennt“, lobt Produzent Thomas Wöbke den Ansatz von Regisseurin Sophie Kluge. Doch es fällt schwer, sich über 90 Minuten für eine Figur zu interessieren, die so passiv und langweilig wie Ava ist. Bei ihrer diffusen Wattigkeit hätte ein wenig Hysterie oder Coolness nicht geschadet. 

Dass melancholisch-leichte Komödien mit liebenswerten Figuren, denen man mit Vergnügen beim Nichtstun zuschaut, auch im deutschen Kino möglich sind, hat Jan-Ole Gerst vor ein paar Jahren mit „Oh Boy“ gezeigt.

FAZIT

Insgesamt von ansteckender Leidenschaftslosigkeit.

Deutschland 2019
92 min
Regie Sophie Kluge
Kinostart 29. August 2019

O BEAUTIFUL NIGHT

Wong Kar-Wai meets Himmel über Berlin: Das Spielfilmdebüt des Illustrators Xaver Böhm erzählt die ungewöhnliche Geschichte von Juri, einem jungen Mann, der jederzeit mit dem plötzlichen Herzstillstand rechnet. Ein klassischer Hypochonder.

Eines Nachts, die Brust schmerzt mal wieder, trifft er in einer Flipperkneipe auf einen trinkfesten Russen. Der behauptet, der TOD höchstpersönlich zu sein und stellt Juri vor die Wahl: „Willst Du sofort sterben oder vorher noch ein bisschen Spaß haben?“ Das mit dem Herzinfarkt kann dann doch noch warten und so begeben sich die beiden auf eine schräge Tour durch das nächtliche Berlin.

Kompliment an Kamerafrau Jieun Yi und die Postproductionfirma LUGUNDTRUG: So schön menschenleer und kunstvoll stilisiert hat man die Stadt selten gesehen.

FAZIT

Ungewöhnlicher, humorvoller, visuell herausragender Film. Sehenswert.

Deutschland 2019
89 min
Regie Xaver Böhm
Kinostart 20. Juni 2019

In My Room

⭐️⭐️⭐️⭐️

Armin ist EB-Kameramann in Berlin. Wenn er mal einen Job vergeigt, weil er die Kamera aus-, statt eingeschaltet hat, juckt ihn das nicht weiter. Lieber feiert er die Nacht durch und beschäftigt sich nicht groß mit der Zukunft.
Als seine Großmutter im Sterben liegt, macht er sich auf den Weg nach Hause zu seinem Vater. Am Morgen nach dem Tod der geliebten Oma dann der Schock: auf einen Schlag ist die gesamte Menschheit verschwunden! Armin verzweifelt zunächst, lässt sich dann aber auf sein neues Leben ein. Nach Monaten des Alleinseins trifft er einen weiteren übriggebliebenen Menschen, die junge Kirsi.

Der deutsche Omega Mann.
Trotz des naheliegenden Vergleichs, ist „In My Room“ eine ganz andere, zartere Variante der Geschichte vom letzten Mensch auf Erden geworden. Hier geht es nicht um den Kampf gegen Untote oder Mutanten, sondern um eine zweite Chance, das Leben neu zu gestalten. Genial, wie Regisseur Ulrich Köhler es schafft, von einer fast dokumentarischen Stimmung zu Anfang unerwartet in eine auf den Kopf gestellte Welt zu wechseln. Der zurzeit allgegenwärtige Hans Löw überzeugt in der Rolle des last man on earth.

FAZIT

I am Legend in Nordrhein-Westfalen. Überraschend, außergewöhnlich und gut.
Das idyllische Landleben der beiden Hauptfiguren passt genau in unsere Zeit mit ihrer Sehnsucht nach Einfachheit.

Deutschland, 2018
Regie Ulrich Köhler
120 min
Kinostart 08. November 2018

 

Asphaltgorillas

UNENTSCHLOSSENE GANGSTERKOMÖDIE

Berlin bei Nacht. Drogendealer Atris will nicht länger nur Handlanger des Unterweltbosses El Keitar sein. Als er seinen alten Kumpel Frank wiedertrifft, beschließen sie gemeinsam ein großes Ding zu drehen. Aus geliehenen 200.000 Euro sollen 2 Millionen Dollar Falschgeld gemacht werden. Doch der Plan geht schief. Schon bald geraten die Freunde zusammen mit Diebin Marie zwischen alle Fronten.

Oder wie Schauspieler Jannis Niewöhner es kompakter zusammenfasst: „Es gibt einen Hund, es gibt einen Schlüssel. Es gibt zwei Liebespaare und es gibt Gangster. Und alle verstricken sich ineinander und es führt zu einem riesigen, schönen Chaos.“

Asphaltgorillas basiert auf der Kurzgeschichte „Der Schlüssel“ von Ferdinand von Schirach.

MACHART

„by Buck“, heißt es selbstbewusst im Vorspann. In diesem Fall ist das eher als Warnung zu verstehen. Regisseur Detlev Buck will alles auf einmal und verzettelt sich dabei in zu vielen Ansätzen. Derbe Klamotte oder pathetische Heldengeschichte, cooler Quentin-Tarantino-Verschnitt oder platte deutsche Comedy: der Film kann sich nicht entscheiden, was er denn nun sein will. Die offensichtlichen Vorbilder „Drive“, „Kill Bill“ – oder aktueller „Baby Driver“ – bleiben unerreicht.

Wenigstens sind die Bilder gut: Kameramann Marc Achenbach hat das neonbeleuchtete nächtliche Berlin schön stimmungsvoll eingefangen. Und auch die Schauspieler gehen größtenteils in Ordnung: Georg Friedrich gibt den schrägen Ösi-Vogel. Ella Rumpf überzeugt als coole Diebin Marie. Oktay Özdemir sorgt für ein paar anständige Lacher als Sidekick Mo. Und Kida Khodr Ramadan schafft es als Unterweltboss El Keitar, gleichzeitig bedrohlich und komisch zu sein. Nur Jannis Niewöhner schießt weit übers Ziel hinaus und grimassiert am Rande der Klamotte.

FAZIT

Mit „Knallhart“ hat Detlev Buck bereits 2005 den besseren Kleingangsterfilm abgeliefert. „Asphaltgorillas“ ist eine Ansammlung von mehr oder weniger gelungenen Vignetten, die sich nicht zu einer stimmigen Geschichte fügen.

Deutschland 2018
Regie Detlev Buck
103 min
Kinostart 30. August 2018

Babylon Berlin

GROSSARTIGE ZEITREISE

Die Serie „Babylon Berlin“ erzählt von der Weimarer Republik. Einer verrufenen, legendären Zeit, in der alle lebten, als gäbe es kein Morgen mehr.

Hauptstadt Berlin 1929: Metropole des Tempos, der Exzesse. Das deutsche Volk zwischen Armut, Arbeitslosigkeit, Extremismus und Lebensgier. Auf der Straße kämpfen Polizisten gegen Kommunisten – und rechts gegen links. Nicht nur die Moral, die ganze Welt ist aus den Fugen.

Die Hauptfigur ist Kommissar Gereon Rath, gespielt von Volker Bruch. Ein Drogensüchtiger, im 1. Weltkrieg zerbrochen, heroinabhängig. Eine Figur typisch für die Zeit. Ein „Kriegszitterer“, der sein Leid versteckt – bei der Arbeit im Morddezernat.

Seine Mit- und Gegenspieler sind Liv Lisa Fries als sympathisch aufgeweckte Charlotte Richter, sowie der geniale Peter Kurth in der Rolle des zwielichtigen Bruno Wolter.

Präzise recherchiert, stimmt hier alles bis ins letzte Detail. Die Serie ist von den Hauptfiguren bis in die kleinste Nebenrolle perfekt besetzt.

Fünf Jahre lang arbeitete das Team um die Regisseurs-Troika Tom Tykwer, Achim von Borries und Henk Handloegten an der Krimireihe, sieben Monate dauerten die Dreharbeiten. Die Außenaufnahmen entstanden zu großen Teilen im Studio Babelsberg. Eine gigantische Filmkulisse mit über fünfzig verschiedenen Fassaden wurde eigens gebaut. Der riesige Aufwand hat sich gelohnt: Die Serie ist spannend und sieht richtig gut aus (von ein paar künstlich wirkenden CGI-Totalen abgesehen…) und schreibt, mit einem für deutsche Verhältnisse Ausnahmebudget von 40 Millionen Euro, schon jetzt Geschichte.

Die Vorlage lieferte der Roman „Der nasse Fisch“. Geschrieben von Volker Kutscher, der bereits sechs Romane zum Berlin der Zwanziger und Dreißiger verfasst hat.

FAZIT

Geschichtsbuch und Riesenspektakel – mitreißend wie ein Thriller in bester amerikanischer Tradition. Lässt man sich auf die 16 Episoden ein, so erlebt man eine Zeitreise mit großer Sogkraft. Gerade feierte „Babylon Berlin“ ihren Start in Deutschland sowie ihre internationale Premiere in Los Angeles. In über 60 Länder wurde die Serie schon verkauft. Weitere Staffeln sind geplant: In den USA läuft sie bei Netflix, in Deutschland bisher nur bei Sky, ab Herbst in der ARD.

Deutschland 2017/2018
Regie Tom Tykwer, Achim von Borries und Henk Handloegten
TV Serie – 16 Folgen / 45 Minuten