NEUBAU

Markus spült Geschirr, bügelt seine Hose, raucht und trinkt Bier aus der Flasche. In der Kneipe traut er sich nicht aufs Männerklo, geht draußen in die Hocke und pinkelt. Markus war früher mal eine Frau. Ein Transmann in der Uckermark, hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seinen pflegebedürftigen Omas und der Sehnsucht nach einem anderen Leben in Berlin. Immer wieder erträumt er sich eine queere Familie, die ihn aus seiner Einsamkeit befreit. Sein eintöniges Dasein ändert sich erst, als er sich in den Fernsehmechaniker Duc verliebt.

Transsexualität in Brandenburg: Das klingt nach Ausgrenzung, Konflikten und Drama. Doch dafür interessieren sich Autor/Hauptdarsteller Tucké Royale und Regisseur Johannes M. Schmit herzlich wenig. Ihnen geht es um die stille Beleuchtung des Alltags. Und dafür lassen sie sich in ihrem minimalistischen Debütfilm viel Zeit. So langsam wie das reale Leben in Brandenburg, so langsam fließt auch ihr schwuler Heimatfilm dahin. Der Saarländische Rundfunk lobt, „Neubau“ entfalte sich „ohne dramaturgische Zuspitzungen“. Das stimmt – weniger euphemistisch könnte man das auch als langweilig bezeichnen.

Ganz und gar nicht langweilig dagegen ist die berührende Nebenhandlung von Markus und seinen beiden Großmüttern: Alma ist dement und entgleitet immer mehr dem Dasein, Sabine bereitet sich tapfer auf den Tod ihrer Freundin vor. Die stärksten Szenen des Films. Und allemal interessanter als das schon zu oft verfilmte Queer-Thema „schwuler Junge auf dem Land“.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2020
81 min
Regie Johannes Maria Schmit
ab 1. April online bei der queerfilmnacht und irgendwann im Kino, sobald es wieder möglich ist

alle Bilder © Edition Salzgeber

LERNEN VON DEN ALTEN

Gastautorin: Brigitte Steinmetz

Michael Caine: Guten Tag, bitte nennen Sie mich Michael.
  Framerate: Vielen Dank, wie aufmerksam. Wir standen kurz davor, Sie als Knight Mickelwhite oder Sir Maurice anzusprechen.
Caine: Ach was, die Zeiten sind vorbei.
  Nicht in England.
Caine: Ich bin geborener Maurice Knickelwhite, geadelt für meine Verdienste als Michael Caine und genauso freundlich zur Queen wie zu meiner Putzfrau.
  Wobei Sie mit der Queen eher mal zu Abend essen.
Caine: Das stimmt nur bedingt. Es ist auch schon mindestens fünfzehn Jahre her, dass ich mit der Queen dinierte. Ich weiss noch, dass sie sich mit ihrem Tischnachbarn langweilte und zu mir herüberbeugte: Sie kennen doch bestimmt ein paar gute Witze? Und ich antwortete: leider keine, die ich Ihnen erzählen könnte, Madam. Worauf sie vorschlug,  zuerst einen deftigen zum Besten zu geben.
  Und hat Her Majesty Sie erheitern können?
Caine: Sehr. Sie ist eine lustige Frau. Ihr Witz hatte irgendetwas mit Pferden zu tun, leider erinnere ich die Pointe nicht mehr.
  Müsste einem anständigen Briten eine soche Begegnung nicht unvergesslich bleiben?
Caine: Ich bin Brite durch und durch aber Status beeindruckt mich nicht. Mein familiärer Hintergrund ist ja sehr arm.  Mein Vater arbeitete auf dem Fischmarkt, meine Mutter war Zugehfrau. Und ich spreche bewusst noch heute ihren ordinären Akzent. Ich bin Arbeiterkind und Knight, das lebende Beispiel für den Untergang des Klassensystems.
  Pflegen Sie noch Verbindungen zu Ihrem früheren Leben?
Caine: Keine. Wo ich herkam,  galten Schauspieler entweder als schwul oder grössenwahnsinnig oder beides. Als ich ein unbekannter Schauspieler mit Schulden war, mieden mich meine Kumpels im Pub, um mir kein Bier ausgeben zu müssen. Warum sollte ich mit diesen Leuten befreundet bleiben?

  Waren Ihre Eltern denn glücklich über Ihre Berufswahl?
Caine: Nicht die Bohne. Mein Vater wollte, dass ich ihm auf dem Fischmarkt zur Hand gehe. Man soll nie auf seine Eltern hören.
  Sie sagten mal, Geldverdienen sei Ihr grösster Antrieb zur Schauspielerei gewesen.
Caine: Ich wollte nicht mehr arm sein, das ist wahr. Aber man kann sich wahrscheinlich einen leichteren Beruf als Schauspieler aussuchen, um zu Geld zu kommen.
  Wie lange mussten Sie darben?
Caine: Neun Jahre lang. Mit 29 hatte ich 4.000 Pfund Schulden, nach dem damaligen Kurs wohlgemerkt. Als niemand mehr an mich glauben mochte, kriegte ich die Hauptrolle in „Zulu”. Und einen Scheck über 12.000 Pfund. Aber am Ende der Dreharbeiten war ich immer noch mit 4.000 in den Miesen. Ich musste ja erst einmal lernen, mit Geld umzugehen. Und so ging das weiter. Man landet eine Rolle und macht noch einen Film und noch einen und jedesmal fürchtet man, das war’s jetzt. Aber ich hatte Glück.
  Ab wann fühlten Sie sich über dem Berg?
Caine: Schwer zu sagen. Ich verdiente mit „Alfie” „Ipcress File” und „The Italian Job” eine Menge Geld. Mit 32 kaufte ich mir einen silbernen Rolls Royce obwohl ich nicht mal einen Führereschein hatte. Ein Chauffeur erschien mir der Inbegriff von Luxus.
  Und fortan drehten Sie nur noch Filme der Kunst zuliebe?
Caine: Ich wünschte, es wäre so gewesen aber ich hatte das Ziel, jedem einzelnen meiner Familienangehörigen ein Haus zu kaufen. Und dann ging ich nach Hollywood.
  Wo die richtig grossen Gagen gezahlt werden.
Caine: Ich gebe zu, ich war sehr beeeindruckt. Der Produzent von „Towering Inferno” bat mich um ein Treffen. „Towering Inferno” war ein Kassenschlager mit den beiden grössten Stars dieser Zeit – Steve McQueen und Paul Newman. Und dieser Produzent wollte MIR die Hauptrolle in seinem nächsten Film geben! Natürlich sagte ich zu. Es war „Der Schwarm” der grösste Mist den Sie sich vorstellen können. Ein Special-Effects-Film mit bettelarmen Special Effects. Einfach grauenhaft. Ich dachte, ich sei der nächste Steve McQueen, stattdessen ruinierte ich meinen Ruf.
  Haben Sie sich seitdem noch mal so verschätzt?
Caine: Oh ja, mit dem Remake von „Sleuth”. Es schien idiotensicher. Grossartiges Drehbuch, Kenneth Branagh führte Regie, Jude Law und ich in den Hauptrollen. Aber wir wurden von den Kritiken vernichtet! Geradezu geschlachtet! Ich dachte, die haben einen anderen Film gesehen, so sind sie über uns hergefallen.
  Remakes von Kultklassikern haben es immer schwer.
Caine: Aber für diese Häme gab es keine Erklärung. Es war eine wundervolle Story und alle Mitwirkenden waren brillant. Inklusive mir. Aber die Kritiker hielten es für Mist. Ich verstehe es immer noch nicht.
  Kommt da die Angst vor Armut wieder hoch?
Caine: Nein, dazu bin ich zu wohlhabend. Mir kann nichts mehr passieren. Ich bin in der luxuriösen Position, nur noch arbeiten zu müssen, wenn ich unbedingt will.

  Was war so unwiderstehlich an Ihrer Rolle als Butler Alfred der Batman Trilogie „The Dark
Knight”?
Caine: Nun, ich erfülle nur meinen Vertrag über drei Filme. Und ganz nebenbei ist (Regisseur und Drehbuchautor) Chris Nolan mit „Dark Knight” der beste und erfolgreichste Batman Film aller Zeiten gelungen. Buch und Besetzung sind superb. Heath Ledger war als „Joker” wirklich umwerfend, faszinierend, fantastisch.
  Die New York Times verglich ihn mit Marlon Brando.
Caine: So? Hm, ich kannte Marlon sehr gut und Heath nur ein bisschen. Aber ich verstehe, was Sie meinen. Diese schlummernde Naturgewalt. Heath hatte so gar nichts Schauspielerhaftes an sich. Am Set war er ein freundlicher, ganz stiller Typ. So lange, bis der Regisseur Action rief und dann: Krawumm! Das findet man wirklich selten bei jungen Schauspielern. Diese Kraft hinter einer so beherrschten Fassade.
  Waren Sie anders?
Caine: Die Zeiten waren anders. Ich möchte sagen: Flamboyanter. Es war die Disco-Ära und ich ging jede Nacht aus. Sie nannten mich Disco-Michael. Ich möchte die Sechziger nicht glorifizieren aber wenigstens betranken wir uns in Gesellschaft, in der Öffentlichkeit. Die Genussmittel, die Mitte der Siebziger in Mode kamen, konnte man nur hinter verschlossenen Türen konsumieren. Das war nichts für mich.

   Mitte der Siebziger waren Sie ja auch schon mit ihrer heutigen Frau Shakira verheiratet.
Caine: Fast 50 Jahre sind wir jetzt zusammen, können Sie sich das vorstellen? Jedenfalls bis vor zwei Stunden. Solange haben wir uns nicht gesehen. Wer weiss, vielleicht hat sie mich inzwischen verlassen.
  Leiden Sie immer noch unter Verlustängsten?
Caine: Oh, eine interessante Unterstellung. Sie meinen, meine verlustreiche Kindheit führte zu überzogenem Besitzanspruch?
  Führte sie?
Caine: Keine Ahnung, ich habe mich noch nie analysieren lassen. Es stimmt, dass ich mein hart verdientes Geld nicht so ohne weiteres hergebe. Als die britische Steuer mal auf unglaubliche 82 Prozent stieg für Besserverdiener wie mich, bin ich für acht Jahre nach Los Angeles geflüchtet. Nur meine Frau darf sich mehr als 40 Prozent von meinem Einkommen nehmen.
  Ist Ihre Frau denn so anspruchsvoll?
Caine: Nein. Ich gebe sehr viel Geld aus, aber ich habe keine Ahnung von Preisen. Shakira hingegen weiss ganz genau was wieviel kostet und  achtet darauf, dass ich nicht übers Ohr gehauen werde.

  Was bedeutet Luxus heute für Sie?
Caine: Das kommt darauf an, wie Sie Luxus definieren. Materiell kann ich mir alles leisten, was ich mir wünsche. Ich fliege erste Klasse, wohne in den besten Hotels, lasse meine Anzüge masschneidern. Als Kind schien mir fliessend warmes Wasser ein unerreichbarer Luxus, heute bestehe ich auf zwei Badezimmern in meinen Hotelsuiten.
  Wozu?
Caine: Eines der Geheimnisse einer glücklichen Ehe.
  So?
Caine: Nein, das ist nur so dahingesagt. Bitte bringen Sie mich nicht in Verlegenheit. Ich kenne keine Patentrezepte für harmonische Partnerschaften. Vieles ist Zufall. Oder Schicksal, ganz wie man’s nimmt.

  Ihre Liebesgeschichte ist eine der romantischsten Hollywoods.
Caine: Das finde ich auch. Überlegen Sie mal, ich war Disco Michael und jeden Abend unterwegs. Ich sah nie fern. Nur an diesem einen Abend hatte ich keine Lust auszugehen und lud meinen besten Freund zum Essen ein. „Ich koche” sagte ich „und wir gucken fern”. Er sagte zu, denn ich bin ein ganz vorzüglicher Koch.
  Erinnern Sie noch die Menüfolge?
Caine: Nicht im Detail. Damals experimentierte ich noch mit verschiedenen Rezepten. Aber ich werde nie vergessen, wie Shakira in mein Leben tanzte. In einem Maxwell Kaffe Werbespot auf meinem Schwarz-Weiss Fernseher. Ich verliebte mich auf der Stelle in diese wunderschöne Brasilianerin. Am nächsten Tag fand ich heraus, dass sie indischer Abstammung ist und nicht in Rio sondern um die Ecke in London lebte. Zu unserem ersten Rendezvous fuhr ich in einem Rolls Cabrio in einem weissen Nero Anzug vor. Stellen Sie sich vor ich wäre an diesem Abend ausgegangen wie üblich. Wir hätten uns nie getroffen.
  Eine aussergewöhnlich schöne Frau an der Seite ist auch eine Art Statussymbol.
Cain: Ich mache keinen Hehl daraus. Shakiras Schönheit ist ein Faktor unserer glücklichen Beziehung. Das mag brutal klingen aber in meinem Beruf ist man nun einmal  vielen Verführungen ausgesetzt. Wenn ich aber mit einer Frau verheiratet bin, die noch schöner als meine Kolleginnen ist, warum sollte ich sie betrügen?
  Sie wissen, dass Feministinnen Sie für dererlei Äusserungen geisseln, nicht wahr?
Caine: Ist mir egal. Natürlich wären wir nicht ein halbes Jahrhundert lang glücklich, wenn unsere Beziehung nur auf Äusserlichkeiten aufbaute. Aber meine erste Ehe ging schief, weil das Gras auf der anderen Seite immer grüner schien. Und heute bin ich ein sehr familienorientierter Mensch. Ich koche und gärtnere und würde am liebsten nie unser Anwesen verlassen wenn Shakira mich nicht daran erinnerte, dass meine Arbeit  meine Hobbies finanziert.
  Ungewöhnliche Hobbies für jemanden, der ohne fliessend warmes Wasser aufgewachsen ist.
Caine: Stimmt, das lernte ich erst im zweiten Welktkrieg kennen, als wir vor den Bombenangriffen auf London aufs Land flohen. Meine Mutter fand dort Arbeit als Köchin einer sehr, sehr reichen Familie. Es war ein bisschen wie „Upstairs Downstairs“ (Das Haus am Eaton Place) unten das Gesinde, oben die Herrschaften. Aber für mich gab es keinen heimeligeren Ort auf der Welt als die Küche dieses Landguts.
  Heute leben Sie selbst auf so einem Gut.
Caine: Und ich bin mir sicher, wenn ich Psychoanalyse betreiben würde, aber das tue ich wie gesagt nicht, würde man dahinter kommen, dass ich meine Kindheit unter anderen Vorzeichen nachlebe.
  Jetzt sind Sie Upstairs.
Caine: So kann man das auch nicht sagen. Ich habe Personal, aber ich stehe immer noch gern selbst am Herd.
  Ein Hobby?
Caine: Eine Obsession. Ich bin leidenschaftlicher Koch und Gärtner. Das hat beinahe etwas Zen-haftes. Ich esse, was ich selbst in meinem Garten säte. Und es ist ein grosser Garten, sechs Morgen.
  Hilft Ihnen Ihre Frau beim Gärtnern und Kochen?
Caine: Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich nerve sie, wenn ich nicht drehe, weil ich ständig am Haus herumbastle. Unsere Mansion in Surrey ist von Aussen 200 Jahre alt aber Innen mit den modernsten Finessen ausgestattet. Ich bin Technik-Freak und brauche immer den neuesten Schnickschnack. Meine Töchter laden ihre I-Phones an meinen Computer. Mein Talent als Diskjockey ist legendär.
Stimmt ja, Sie haben sogar eine Kompilation mit Chill-Musik unter dem Titel „Cained” herausgegeben.
Caine: Ach, das war nur eine alberene Spielerei, bei einem Lunch mit Elton John in Nizza geboren. Er liess Lounge-Musik im Hintergrund laufen und war beeindruckt, dass ich jedes einzelne Stück identifizieren konnte. Da drängte er mich, für seine Plattenfirma eine Sammlung meiner Lieblingstracks zusammenzustellen. Das war ganz witzig aber meine Leidenschaft gehört eindeutig dem Kochen.
  Haben Sie die auch mal versucht zu Geld zu machen?
Caine: Aber natürlich. Ich betrieb jahrelang einige sehr erfolgreiche Restaurants.
  Und was wurde daraus?
Caine: Ich hab’ sie alle verkauft.
  Warum?
Caine: Weil hochdekorierte Köche noch grössere Egos haben als Schauspieler. Dafür habe ich keinen Nerv mehr. Ich bin im mentalen Ruhestand.
  Wunschlos glücklich?
Caine: Nein, wo denken Sie hin. Ich will immer noch einen Oscar als bester Hauptdarsteller. Ich war sechs Mal nominiert aber habe verdammt nochmal noch nie einen gewonnen. Aber ich bin guter Dinge. Denn jetzt kann ich mir geringe Gagen in anspruchvollen Indiefilmen leisten.

 

DER MENSCHLICHE FAKTOR

Fünf bis sechs Filme am Tag sind eben doch zu viel. Deshalb hier ein kleiner Berlinale-Nachklapp: der sehenswerte PANORAMA-Beitrag „Der menschliche Faktor“ von Ronny Trocker.
Jan und Nina leiten eine Werbeagentur in Hamburg. Die Geschäfte könnten besser laufen, deshalb nimmt Jan, ohne es mit seiner Frau abzusprechen, einen Neukunden an. Doppelt schlimm: Er missachtet nicht nur die „no politics“-Regel der Agentur, es handelt sich auch noch um eine populistische Partei – die AfD lässt grüßen. Nina ist sauer. Um die Wogen zu glätten, fahren die beiden mit ihren Kindern übers Wochenende in ihr Ferienhaus an der belgischen Küste. Doch mit der Erholung ist es schnell vorbei, als ein mysteriöser Einbruch das Familiengefüge empfindlich stört. Keiner kann eine genaue Täterbeschreibung geben – die Kinder haben nichts gesehen, Jan war einkaufen und Nina hat nur Schritte gehört.

„Der menschliche Faktor“ ist ein subtiler Psychothriller, der seine Figuren langsam in ein feines Netz aus Manipulation, wachsendem Misstrauen und subjektiver Wahrnehmung spinnt. Klingt verkopft, ist aber spannend. Der Einbruch wird aus verschiedenen ineinanderfließenden Perspektiven gezeigt. Was gerade noch klar schien, ist durch die Sicht eines anderen Familienmitglieds plötzlich wieder infrage gestellt. So behauptet der achtjährige Sohn Max, der Vater habe sich während des Vorfalls versteckt. Und die vagen Aussagen von Nina lassen bei der Polizei Zweifel aufkommen, ob es den Einbruch überhaupt gegeben hat.

Ronny Trocker ist ein fesselndes Familiendrama mit hervorragender Besetzung gelungen: Mark Waschke (immer gut) überzeugt als verunsichertes Alphatier Jan und die wunderbare Schweizerin Sabine Timoteo als Nina möchte man sowieso gerne öfters sehen. Falls sich auch irgendwer fragt: Woher kenne ich Sabine Timoteo noch mal? Die hat in der Andreas Steinhöfel-Romanverfilmung „Die Mitte der Welt“ die Mutter gespielt.

FAZIT

„Der menschliche Faktor“ feierte im Sommer 2020 seine Premiere beim Sundance Film Festival. Da es sich um eine Koproduktion des „Kleines Fernsehspiel“ handelt, stehen die Chancen gut, dass er demnächst im ZDF zu sehen sein wird. Wahrscheinlich um 23.30 Uhr – für einen 20.15 Uhr-Sendeplatz ist er einfach zu gut.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Italien / Dänemark 2021
102 min
Regie Ronny Trocker
Demnächst im Kino oder Fernsehen

alle Bilder © Klemens Hufnagl / zischlermann filmproduktion

BERLINALE 2021 – TAG 5

Geschafft! Die Streaminale hatte große Vorteile: kein Verschlafen, keine verpasste U-Bahn, keine Ausreden. Zum ersten Mal wurden ganz bestimmt ALLE Wettbewerbsbeiträge gesichtet. Obwohl – stimmt gar nicht: „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ mit Tom Schilling und „Nebenan“, das Regiedebüt von Daniel Brühl, standen im Stream nicht zur Verfügung. Die Trauer hält sich in Grenzen.

Fazit: sehr verkopft, viel Oberstufen-Video-AG. Die Sehnsucht nach großem Kino konnte die Berlinale dieses Jahr nicht erfüllen. Film darf neben Hirn und manchmal Herz auch gerne Auge und Bauch berühren. Nächstes Mal bitte mehr Mut zur gesunden Mischung.

Herzlichen Glückwunsch an die Gewinner:

Goldener Bär: „Babardeală cu bucluc sau porno balamuc“ von Radu Jude
Silberner Bär – Großer Preis: „Guzen to sozo“ von Ryusuke Hamaguchi
Silberner Bär: „Herr Bachmann und seine Klasse“ von Maria Speth
Beste Regie: Dénes Nagy für „Természetes fény“
Beste Schauspielerische Leistung Hauptrolle: Maren Eggert in „Ich bin dein Mensch“
Beste Schauspielerische Leistung Nebenrolle: Lilla Kizlinger in „Rengeteg – mindenhol látlak“
Bestes Drehbuch: Hong Sangsoo für „Inteurodeoksyeon“
Herausragende Künstlerische Leistung: Yibrán Asuad für die Montage von
„Una película de policías“

WETTBEWERB

UNA PELÍCULA DE POLICÍAS

Die Vorspannmusik ist eine hübsche Hommage an die 1970er-Jahre US-Polizeifilme. Danach bleibt lange unklar, ob man hier gerade echten oder gespielten Polizisten bei der Arbeit zuschaut. Nach gut der Hälfte die Auflösung: Zwei Schauspieler*innen wollen herausfinden, was es braucht, ein Cop in Mexiko-City zu sein. Die beiden tauchen so tief in ihre Rollen, dass sich die Grenzen zwischen Realität und Fiktion auflösen. Film im Film, der immer wieder die Erzählperspektive wechselt. Alonso Ruizpalacios schafft mit seinem Verwirrspiel einen interessanten Einblick in die korrupte und gefährliche Welt der mexikanischen Polizei.

Englischer Titel „A Cop Movie“
Mexiko 2021
107 min
Regie Alonso Ruizpalacios

WETTBEWERB

HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE

Da wird Flecki Fleckenstein ganz neidisch: Dieter Bachmann ist ein Lehrer, wie man ihn sich wünscht. Empathisch und engagiert gibt er seinen Schüler:innen, die aus verschiedenen Ländern stammen und teilweise kaum Deutsch sprechen, das Gefühl, an seiner Schule ein neues Zuhause gefunden zu haben. Er tut das, was ein guter Lehrer tun sollte: die Jugendlichen sanft auf ihren Weg ins Erwachsenenleben leiten, ihnen Möglichkeiten aufzeigen und Freiheiten lassen.

Mit 3,5 Stunden Laufzeit (🙄) vielleicht ein klitzekleines bisschen zu lang geraten, aber dafür wachsen einem Herr Bachmann und seine Schüler so sehr ans Herz, dass man am Ende des Schuljahres mit ihnen gemeinsam ein Tränchen verdrückt. Maria Speths einfühlsamer Dokumentarfilm hat den Silbernen Bären gewonnen.

Englischer Titel „Mr Bachmann and His Class“
Deutschland 2021
217 min
Regie Maria Speth

BERLINALE SPEZIAL

THE MAURITANIAN

Ist er schuldig oder unschuldig? Mohamedou Ould Slahi sitzt im Gefangenenlager Guantánamo Bay ein, er wird verdächtigt, an den Terroranschlägen von 9/11 beteiligt gewesen zu sein. Jahrelang wartet er auf einen Prozess, bis sich die Anwältin Nancy Hollander seines Falls annimmt und damit einen Kampf gegen das System beginnt. 
Am stärksten ist „The Mauritanian“ in den Rückblenden, die die Vorgeschichte Slahis erzählen. Die Recherche und der Weg zum Prozess – das ist solide inszeniertes Mainstreamkino, das gab es so ähnlich schon tausendmal in anderen Gerichtsfilmen zu sehen. Jodie Foster, Benedict Cumberbatch und der herausragende Tahar Rahim als ambivalenter Terrorverdächtiger machen „The Mauritanian“ zu keinem bahnbrechenden, aber trotzdem sehenswerten Politthriller. Die wahre, schreiend ungerechte Geschichte basiert auf dem 2015 erschienenen Buch „Guantánamo-Tagebuch“, das Slahi in Gefangenschaft schrieb und das zum Bestseller wurde. 

England 2021
130 min
Regie Kevin Macdonald

BERLINALE 2021 – TAG 4

Ein Wort zum Plakat- und Logodesign: Bravo Kinder! Hier hatte eindeutig die LOBI-AG ihre Tatzen im Spiel. Hübsch und handgemacht, um Klassen besser, als das bemüht künstlerische Grafikfiasko vom letzten Jahr.

WETTBEWERB

GUZEN TO SOZO

Zwischenbilanz: In allen – ALLEN – Wettbewerbsfilmen wird geraucht. Manchmal mehr (Inteurodeoksyeon), manchmal weniger (Petite Maman). Geraucht und geredet, möchte man sagen. Denn Geschwätzigkeit ist das andere Laster in diesem Berlinalejahr. Vielleicht eine neue Form der sozialen Interaktion: Statt sich in Kneipen zu treffen und zu reden, schaut man Filme an, in denen die Schauspieler reden. Und reden. Und reden.
In drei verschiedenen, nicht miteinander verknüpften Episoden erzählt „Guzen To Sozo“ von Frauen und Männer, die über ihre Beziehungen sprechen. Regisseur Ryusuke Hamaguchi scheint ein großer Bewunderer von Woody Allen zu sein. Wie sein unerreichtes Vorbild lässt auch er seine Figuren in teils skurrile Situationen stolpern. Nur mit dem Unterschied, dass „Guzen To Sozo“ visuell sehr tranig daherkommt.

Englischer Titel „Wheel of Fortune and Fantasy“
Japan 2021
121 min
Regie Ryusuke Hamaguchi

WETTBEWERB

GHASIDEYEH GAVE SEFID

Der Makler macht der jungen Mutter wenig Hoffnung: Witwen, Hunde- oder Katzenbesitzer und Junkies haben in Teheran keine Chance. Für ihre Notlage kann Mina nichts, denn ihr Ehemann Babak wurde zu Unrecht für ein Verbrechen hingerichtet. Wie ein guter Geist taucht da plötzlich Reza auf, der behauptet, Schulden bei Babak gehabt zu haben, die er jetzt begleichen möchte. Mina ahnt nicht, dass Reza ein dunkles Geheimnis vor ihr verbirgt.
Schuld und Sühne – ein klassisches Filmsujet, hervorragend besetzt und meisterhaft inszeniert. „Ballad of a White Cow“ führt im Iran zu Kontroversen, schließlich hinterfragt er kritisch das dortige Justizsystem und thematisiert nebenbei noch weitere Tabus, wie Frauenfeindlichkeit und staatliche Unterdrückung.
Hauptdarstellerin Maryam Moghaddam führte gemeinsam mit Behtash Sanaeeha die Regie bei diesem stillen und doch wuchtigen Film.

Englischer Titel „Ballad of a White Cow“
Iran / Frankreich 2020
105 min
Regie Behtash Sanaeeha, Maryam Moghaddam

BERLINALE SPEZIAL

JE SUIS KARL

Genau so könnte es in nicht allzu ferner Zukunft kommen: Die junge Generation hat es gründlich satt und tut sich zusammen, um ein „neues Europa“ zu gründen. Dass das scheinbar nur mit rechtspopulistischen Parolen geht, ist die Kehrseite der Medaille.
Maxi ist nach einem Terroranschlag traumatisiert, sie hat ihre Mutter und ihre beiden Brüder verloren. Da tritt der charismatische Karl in ihr Leben. Der hat große Pläne, will ganz Europa verändern. „Was wäre für dich das Schlimmste?“, fragt sie ihn. „Sinnlos zu sterben“, antwortet er. „Und das Beste?“ „Sinnvoll“. Maxi verliebt sich Hals über Kopf in den charismatischen Neonazi und folgt ihm blind auf seiner Tour durch Europa. Das neue Unheil verbirgt sich hinter hübschen Gesichtern und ist im Social Network präsent.
Christian Schochow zeigt realistisch, wie die next generation der rechten Szene ihre Follower verführen könnte: Konzerte, Influencer-Liveberichte, aufwiegelnde Reden und ein paar free T-Shirts unters Volk geschmissen. Baby-Hitler ist ein Rockstar.
„Je Suis Karl“ erzählt eine interessante Geschichte, doch alles passiert ein bisschen zu schnell. Vor allem Maxis Radikalisierung findet im Zeitraffertempo statt, der Stoff hätte locker für ein paar Folgen einer Miniserie gereicht. Gegen Ende sind Drehbuchautor Thomas Wendrich dann die Pferde durchgegangen – die Zufälle häufen sich, die Handlung wirkt zusehends konstruierter. Wirklich toll sind die Schauspieler: Jannis Niewöhner kauft man das manipulative Neonazi-Arschloch voll und ganz ab. Die Schweizerin Luna Wedler hat mit ihren 21 Jahren schon mehrfach mittelmäßige Filme aufgewertet. Und es ist schön, den unterschätzten Milan Peschel endlich mal nicht in einer Klamotte zu sehen.

Deutschland / Tschechische Republik 2021
126 min
Regie Christian Schwochow

BERLINALE SHORTS

DEINE STRASSE

Zum Schluss noch eine Kurzfilm-Perle: Die von Sibylle Berg erzählte Geschichte, wie es dazu kam, dass es in Bonn eine Straße namens „Saime-Gençe-Ring“ gibt.

Schweiz 2020
7 min
Regie Güzin Kar

BERLINALE 2021 – TAG 3

Halbzeit. Unvorstellbar, dass vor einem Jahr noch Hundertschaften maskenloser Menschen im Kino saßen und gemeinsam gehustet haben. Früher war eben doch nicht alles besser. Bleibt die Hoffnung, dass sich das Virus bis zum Sommer verzogen hat. Husch, husch.

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PETITE MAMAN

Schräge Idee: Nach dem Tod ihrer Großmutter hilft Nelly ihren Eltern beim Ausräumen des Hauses. Beim Spielen im Wald lernt sie die gleichaltrige Marion kennen, die sich als ihre Mutter im Kindesalter entpuppt. Vergangenheit trifft Gegenwart. „Petite Maman“ wirkt wie eine zarte, sehr französische Antwort auf die Netflixserie „Dark“. Der neue Film von Céline Sciamma erzählt vom Erwachsenwerden, von Trauerbewältigung und Abschiedsschmerz. Schön.

Frankreich 2021
72 min
Regie Céline Sciamma

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RENGETEG – MINDENHOL LÁTLAK

Die nervös verwackelte Kamera bleibt konsequent nah auf den Gesichtern und Händen der Protagonisten. Es passiert fast nichts im neuen Film von Bence Fliegauf, dafür wird unendlich viel geredet. „Rengeteg – Mindenhol Látlak“ ist eine Soap-Opera in Hörspielform. Visuell eher quälend, bereitet es doch ein voyeuristisches Vergnügen, den Gesprächen zu lauschen.
Die poetischere Beschreibung steht wie immer im Pressetext:
„Ein Mann spricht mit dem Kleiderschrank – weshalb? Wenn Menschen Sphären sind, können sie sich je begegnen?“

Englischer Titel „Forest – I See You Everywhere“
Ungarn 2020
112 min
Regie Bence Fliegauf

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RAS VKHEDAVT, RODESAC CAS VUKUREBT?

Was wir sehen, wenn wir zum Himmel schauen, bleibt bis zum Ende ungeklärt – Blau vielleicht? Schwarz sieht der Zuschauer, wenn er den eingeblendeten Anweisungen in diesem Film folgt: ein erster Glockenton signalisiert, man solle die Augen schliessen, ein zweiter, wann man sie wieder öffnen darf. So viel Interaktion war selten. Nach fünf Minuten wandert der Blick zur Uhr und es stellt sich die bange Frage, wie man die noch folgenden 145 überstehen soll. Schön, dass es auch mittelmässige Studentenfilme in das Wettbewerbsprogramm schaffen. Gewinnt bestimmt den Goldenen Bären.

Deutscher Titel „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“
Deutschland / Georgien 2021
150 min
Regie Alexandre Koberidz

BERLINALE SPEZIAL

LIMBO

Ein Jungpolizist und sein erfahrener Partner sind einem obsessiven, besonders brutalen Frauenmörder auf der Spur. Müll, abgetrennte Hände und überall Schmeißfliegen – Hongkong zeigt sich hier von seiner schmutzigsten Seite.
Der neue Film von Soi Cheang (Dog Bite Dog) ist ein stylisher, in schwarz-weiß gedrehter Cop-Thriller – spannend bis zuletzt und teils exzessiv brutal. Das schreit nach US-Remake: Russell Crowe und Joseph Gordon-Levitt bitte für die Hauptrollen besetzen. 

Hongkong, China / Volksrepublik China 2021
118 min
Regie Soi Cheang

BERLINALE 2021 – TAG 2

Alles anders – diesmal gibt es (zum ersten Mal) keine einzige US-amerikanische Produktion im Wettbewerb. Dafür einen Film mit den Worten „Sau“ und „Porno“ im Titel, das ist Entschädigung genug.

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TERMÉSZETES FÉNY

Der ungarische Regisseur Dénes Nagy erzählt eine winterliche Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg. „Natural Light“ ist ein filmisches Gemälde, schlammfarben, fahl und stimmungsvoll. Ein Film über wortkarge Soldaten im Wald, die von einem moralischen Dilemma ins nächste geraten. Schwere Kost für die Sichtung am heimischen Computer, so was gehört ins dunkle Kino auf die große Leinwand. Meanwhile wächst die Sehnsucht nach leichter Unterhaltung.

Englischer Titel „Natural Light“
Ungarn / Lettland / Frankreich / Deutschland 2020
103 min
Regie Dénes Nagy

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BABARDEALĂ CU BUCLUC SAU PORNO BALAMUC

„Schlampe!“, die Empörungswelle der Eltern schlägt hoch. Ein Video, das eine junge Lehrerin beim Sex mit ihrem Ehemann zeigt, ist viral gegangen. Kein echter Skandal, eher eine private Peinlichkeit. Doch schon Dirty Harry wusste: Meinungen sind wie Arschlöcher, jedermann hat eins. Das trifft in einer von Social-Media verzerrten Welt umso mehr zu. Jeder kann alles sagen, posten und kommentieren, die nächste große Verschwörungstheorie lauert schon um die Ecke.
„Bad Luck Banging or Loony Porn“, so der englische Titel, zeichnet ein düsteres Bild von unserer modernen, übersexualisierten Gesellschaft.  In drei Kapiteln – deprimierend und lustig zugleich – hält Regisseur Jude seinen rumänischen Mitbürgern gnadenlos den Spiegel vors Gesicht.

Englischer Titel „Bad Luck Banging or Loony Porn“
Rumänien / Luxemburg / Kroatien / Tschechische Republik 2021
106 min
Regie Radu Jude

WETTBEWERB

ALBATROS

Étretat, eine malerische Gemeinde in der Normandie: Laurent (ausgezeichnet: Jérémie Renier) ist Vorgesetzter einer Polizeieinheit und hat täglich vom Versicherungsbetrug über Kindesmissbrauch bis zum Mopedfahren ohne Helm mit einem bunten Programm an Delikten zu tun. Als er einen verzweifelten Landwirt vom Selbstmord abhalten will, kommt es zur Katastrophe.

Gleich zu Beginn gibt es eine Szene, die als Omen für das Schicksal von Laurent gedeutet werden kann: Ein lebensmüder Mann springt vom Felsplateau und kracht in eine gerade am Strand stattfindende Fotosession. Gerade noch banale Normalität, die urplötzlich zerstört wird. So stark die erste Hälfte mit den Alltagsbeschreibungen der Polizisten, so einschläfernd die zweite. Nachdem die Tragödie geschehen ist, switcht der Film in eine seltsam melancholische „Der Mann und das Meer“-Studie, die in einem schalen Happy End ausfranst.

Englischer Titel „Drift Away“
Frankreich 2020
115 min
Regie Xavier Beauvois

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INTEURODEOKSYEON

Da setzt der erste Kopfschmerz ein: Der neue Film von Hong Sang-soo sieht aus, als wäre er auf U-Matic Lowband mit einer Kamera gedreht worden, bei der das Auflagemaß nicht richtig eingestellt ist. Zu sehen sind Koreaner, die viel rauchen – in Korea und an Berlins hässlichstem Ort, dem Potsdamer Platz. Ist schwarz/weiß und nur 66 Minuten lang – muss Kunst sein.

Englischer Titel „Introduction“
Republik Korea 2020
66 min
Regie Hong Sang-soo

ENCOUNTERS

THE SCARY OF SIXTY-FIRST

Über Verstorbene soll man nichts Schlechtes sagen – eine Empfehlung, die Regisseurin Dasha Nekrasova herzlich wenig juckt. Das Debüt der Podcast-Moderatorin ist eine Abrechnung mit dem Milliardär Jeffrey Epstein – und gleichzeitig eine Reminiszenz an die grobkörnigen Psycho-Horror-Filme der 1970er-Jahre. „The Scary of Sixty-First“ besticht durch seinen handgemachten (um nicht zu sagen amateurhaften) Independent-Look. Krude, wirr und trotzdem einigermaßen unterhaltsam.

USA 2020
81 min
Regie Dasha Nekrasova

PANORAMA

LE MONDE APRÈS NOUS

Die Welt nach uns – nein, das ist keine apokalyptische Zukunftsvision, sondern der Titel von Labidis Erstlingsroman. Als sich der bitterarme Jung-Schriftsteller in die niedliche Schauspielschülerin Elisa verliebt, träumt er von der großen Liebe. Sehr entspannt erzählt Louda Ben Salah-Cazanas in seinem Spielfilmdebüt von einer jungen Migranten-Generation in Frankreich, hin- und hergerissen zwischen dem Kampf ums banale Überleben und der großen Sehnsucht nach mehr. Lieben, leben, rauchen – très français.

Englischer Titel “ The World After Us“
Frankreich 2021
85 min
Regie Louda Ben Salah-Cazanas

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

DIE SAAT

Rainer ist Bauarbeiter und muss mit seiner Familie aufs Land ziehen, die Stadt ist zu teuer geworden. Seine 13-jährige Tochter Doreen lernt dort Mara kennen, die keinen guten Einfluss ausübt und ihre neue Freundin sogar zum Diebstahl verführt. Auch bei Rainer auf der Arbeit läuft es zunehmend  schlechter. Als sein neuer Vorgesetzter einen älteren Mitarbeiter feuert, brennen bei Rainer die Sicherungen durch. Eine Familie unter Druck: Hanno Koffler, Anna Blomeier und Dora Zygouri spielen die Kleinfamilie im zweiten Spielfilm von Mia Maariel Meyer. Das Drehbuch zu diesem intensiven und sehenswerten Familiendrama hat die Regisseurin gemeinsam mit Hauptdarsteller Hanno Koffler geschrieben.

Englischer Titel “ The Seed“
Deutschland 2021
100 min
Regie Mia Maariel Meyer

BERLINALE 2021 – TAG 1

Kurzes Jammern: Buhuhu – Die Berlinale findet in diesem Jahr nur im Wohnzimmer statt, wenigstens der erste Teil, das sogenannte „Industry Event“. Keine große Leinwand, kein Gruppenerlebnis, keine schlechten Snacks im Foodcourt. Dafür muss man sich nicht mehr schamvoll aus dem Kino schleichen, sondern kann einfach vorspulen, wenn es zu langweilig wird.
Das große Publikumsfestival folgt im Juni – dann hoffentlich ohne Coronaeinschränkungen.

WETTBEWERB

ICH BIN DEIN MENSCH

Frauen arbeiten in deutschen Berlinale-Beiträgen offenbar gerne im Museum: Letztes Jahr gab Paula Beer als Undine die Historikerin, diesmal arbeitet Maren Eggert als Alma am Pergamonmuseum. Um Fördermittel zu ergattern, nimmt sie an einem außergewöhnlichen Experiment teil: Drei Wochen lang muss sie mit Tom (Dan „Downton Abbey“ Stevens), einem sehr menschlichen Roboter zusammen leben. Der soll sich dank KI in den perfekten Lebenspartner verwandeln. Doch einen guten Flirt zu programmieren, bleibt auch in dieser Zukunftsvision schwierig. „Deine Augen sind wie Bergseen, in denen ich versinken möchte.“ Mit Poesie aus der Mottenkiste kann Tom das verhärtete Herz von Alma nicht öffnen. Maria Schraders nicht uncharmanter Film mäandert zwischen theaterhafter Künstlichkeit und leisem, intelligentem Humor. Das ist unterhaltsam, packt aber nie so ganz.
„Ich bin dein Mensch“ ist einer von vier (!) deutschen Wettbewerbsbeiträgen, am Freitag gibt es noch „Herr Bachmann und seine Klasse“ zu besprechen. “Fabian oder Der Gang vor die Hunde” mit Tom Schilling und “Nebenan”, das Regiedebut von Daniel Brühl, stehen im Stream leider nicht zur Verfügung.

Englischer Titel „I’m Your Man“
Deutschland 2021
105 min
Regie Maria Schrader

WETTBEWERB

MEMORY BOX

Seit „Bridges of Madison County“ ein beliebter Drehbuchkniff: Die Kinder kramen in den Hinterlassenschaften der Eltern und finden dabei heraus, dass die auch mal ein Leben jenseits der bekannten Familienstrukturen hatten. „Memory Box“ ist eine Fortentwicklung, eine tiefer gehende, sozusagen 2.0-Version dieser Idee. Die libanesische Regisseurin und Künstlerin Joana Hadjithomas schickt zwischen 1982 und 1988, im Alter von 13 bis 18 Jahren ihrer besten Freundin regelmäßig Kassetten, Briefe und Fotos nach Frankreich. Sechs Jahre lang erzählen sich die Mädchen bis ins kleinste Detail von ihrem Leben. Die eine aus Paris, die andere aus dem libanesischen Bürgerkrieg. Aus dieser wahren Geschichte ist nun „Memory Box“ entstanden. In ihrem teils experimentellen Drama verbinden die Regisseurinnen dokumentarische mit fiktionalen und rekonstruierten Elementen zu einem visuell aufregenden Mix. Herausgekommen ist ein ergreifender und erkenntnisreicher Film, der sich mit den elementaren Fragen beschäftigt: Wie wichtig sind Erinnerungen? Wie beeinflusst die Vergangenheit die Gegenwart? Sehenswert.

Frankreich / Libanon / Kanada / Katar 2021
100 min
Regie Joana Hadjithomas, Khalil Joreige

ENCOUNTERS

Vị

Ein nigerianischer Mann lebt mit vier Vietnamesinnen in den Slums von Ho-Chi-Minh-City. Die Tage dröppeln so vor sich hin: Die meiste Zeit sind alle nackt, bereiten Speisen zu oder waschen sich gegenseitig. Einmal sitzt eine Schnecke auf dem Penis des Mannes. Zwischendurch essen er und sein Sohn Wassermelone im Videochat. 
Lê Bảos Erstlingswerk wirkt wie ein filmgewordenes Kunstprojekt und ist eine Kontemplation in Blau und Braun. Jedenfalls schön anzusehen.

Englischer Titel „Taste“
Vietnam / Singapur / Frankreich / Thailand / Deutschland / Taiwan 2021
97 min
Regie Lê Bảo

BERLINALE SPEZIAL

TIDES

Mad Max im Wattenmeer: Schreckliche Geheimnisse und schicksalhafte Entscheidungen – verpackt in einem Sci-Fi-Thriller mit Öko-Kritik – produziert vom Hollywood-Schwaben Roland Emmerich. Das lässt nichts Gutes erahnen.
Die Menschen haben die Erde endgültig kaputt gemacht. Deshalb fliehen ein paar Reiche auf den must-have-Planeten aller modernen Science-Fiction-Filme „Kepler“ (guter Hundename). Zwei Generationen später kehrt eine Gruppe Auserwählter zur mittlerweile überfluteten Erde zurück, denn da soll wieder Leben möglich sein.
Inhaltlich werden dicke Bretter gebohrt: Kolonialismus, Ausbeutung, das Brandschatzen der Erde, der Klimakollaps, das Ende des Patriarchats und natürlich der elendigliche Überlebenswille der Menschheit. Relativ rasch verflacht der Film zum konventionellen Gut-gegen-Böse-Drama mit absehbarem Ende. Dass „Tides“ trotzdem ganz okay geworden ist, liegt vor allem an der stimmungsvollen Kamera von Markus Förderer und der souveränen Regie von Tim Fehlbaum.

Deutschland / Schweiz 2021
104 min
Regie Tim Fehlbaum