THREE THOUSAND YEARS OF LONGING

Kinostart 01. September 2022

Berlin ist gefährlich: Jederzeit kann man auf dem Gehweg von erwachsenen Männern in kurzen Hosen auf 70er-Jahre-Klapprädern umgefahren werden. Schrecken verbreiten auch lachende Rentnerpaare, die zu zweit auf einem Elektroscooter stark frequentierte Straßen bei Rot kreuzen. Schnell, die Opernfestspiele fangen gleich an. Allüberall posieren Ü-40-Models mit Stofftieren im Arm. Und dürfte die Zigarettenindustrie noch Plakate kleben, es wäre wahrscheinlich der Marlboro Man mit einem kuschligen Lamm im Arm darauf zu sehen. So cute! Was das alles mit „Three Thousand Years of Longing“ zu tun hat? Nichts. Außer, dass es der Film bei der galoppierenden Infantilisierung der Menschheit an der Kinokasse schwer haben dürfte. Denn „3TYoL“ (auch Akronyme sind modern und süß) ist ein Märchen für Erwachsene. Und die sterben scheinbar aus.

Dr. Alithea Binnie (Tilda Swinton) befreit beim Reinigen einer antiken Glasflasche versehentlich einen Dschinn (Idris Elba). Das Märchen beginnt, wie tausendundein Märchen vor ihm begonnen haben: Zur Belohnung hat sie drei Wünsche frei. Die Geschichtsgelehrte ist skeptisch, weiß sie doch, dass das Wünschen in der Literatur oft verheerende Folgen hat. Stattdessen bittet sie den Dschinn, aus seiner Vergangenheit zu erzählen, die sich über viele Jahrtausende erstreckt.

Der Film besteht in erster Linie aus Gesprächen und bietet im Gegenzug dazu herzlich wenig Action. Das liegt daran, dass die Hauptfiguren einen Großteil der Handlung in einem Hotelzimmer in Istanbul verbringen. In weiße Bademäntel gehüllt, wird über Liebe, Leben und Geschichte sinniert.

Das klingt nicht besonders aufregend, ist es über weite Strecken aber doch. Regisseur George Miller verbindet die Gegenwartsebene mit den mythischen Erzählungen des Flaschengeistes auf fesselnde Weise voll opulenter visueller Effekte. Fantasy, Märchen, philosophische Diskussion, Liebesgeschichte: „3TYoL“ lässt sich in keine Genreschublade stecken. Schön, dass es mal wieder ein originärer Film in die Kinos schafft, der nicht Teil des MCUs, DCUs oder irgendeines anderen Franchises ist.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Three Thousand Years of Longing“
USA / Australien 2022
108 min
Regie George Miller

alle Bilder © Leonine

MIT 20 WIRST DU STERBEN

Kinostart 25. August 2022

Muzamils Uhr tickt, denn „Gottes Befehl ist unausweichlich“. Kurz nach der Geburt prophezeit ein Imam Muzamils Mutter, der Junge werde mit 20 sterben. Vor Schreck verabschiedet sich der Vater auf Nimmerwiedersehen und die Mutter trägt fortan schwarz.

Im Dorf ist Muzamil der Todgeweihte, die Mitschüler reiben ihn mit Asche ein und „beerdigen“ ihn schon mal probehalber in einer Metallkiste. Nur Naima ist sich schon früh sicher, dass Muzamil ihr Mann fürs Leben wird.

Die Freundschaft mit dem weit gereisten Sulaiman öffnet Muzamil ein Jahr vor seinem 20. Geburtstag neue Perspektiven, sein bisheriges Weltbild gerät ins Wanken: Es gibt eine Alternative zum Aberglauben, er hat es selbst in der Hand. Regisseur Amjad Abu Alala sieht sein Regiedebüt als eine Einladung für die Freiheit: „Nichts und niemand kann dir jemals sagen: Das ist dein Schicksal. Du musst selber entscheiden, wie dein Leben sein wird.“

Die lakonische Coming-of-Age-Story ist erst der achte im Sudan produzierte Film überhaupt. Zwischendurch etwas schwerfällig, punktet das fast dokumentarische Drama mit magischen Bildern und gibt einen ungewohnten Einblick in ein vom Bürgerkrieg zerrissenes Land. Bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig gewann „Mit 20 wirst Du sterben“ den Preis als bester Debütfilm.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „You Will Die at Twenty“
Sudan / Ägypten / Deutschland / Frankreich / Katar / Norwegen 2019
103 min
Regie Amjad Abu Alala

alle Bilder © missingFILMs

JADGSAISON

Kinostart 18. August 2022

Das kennt man: Kaum auf der Autobahn, Berlin nur noch im Rückspiegel, wird das Radioprogramm unterirdisch. Ein nerviger Hit aus den 80er, 90er und 2000er-Jahren jagt den nächsten. „Dreams are my reality“, „Push It“ oder „Ich find’ dich scheiße“. Zum Abschalten. Genau wie dieser Film. „Jagdsaison“ zeigt einmal mehr eine Gruppe „Erwachsener“, die sich wie Teenager benehmen. Und da Frauen im Zuge der Gleichberechtigung genauso dämlich wie Männer sein können, präsentieren sich hier drei Thirtysomethings bei einem gemeinsamen SPA-Wochenende mit Jagdausflug und vielen unlustigen Zwischenfällen. Zum Brüllen komisch ist das nicht, nicht mal zum Schmunzeln. Nur zum Fremdschämen. Unterlegt ist das Unheil mit einem vollkommen unpassenden Mix aus oben genannter musikalischer Resterampe. Gruselig.

Die lieblos, ohne jeden Sinn für komödiantisches Timing inszenierte „Jagdsaison“ wurde von der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ ausgezeichnet. Wenigstens das ist lustig.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
93 min
Regie Aron Lehmann

alle Bilder © TOBIS

NOPE

Kinostart 11. August 2022

Schon wieder drei Sterne! Lang-wei-lig!! Aber wie sonst soll Freude über die erste und zunehmender Frust über die zweite Hälfte eines Films bewertet werden? Irgendwas zwischen zwei und vier? Eben.

Worum es geht, verrät bereits der Trailer, der ein einziger großer Spoiler ist. Kurz gefasst: OJ und seine Schwester Emerald betreiben eine Farm, auf der sie Pferde für Hollywoodproduktionen trainieren. Eines Tages macht OJ eine beunruhigende Entdeckung am Himmel. So weit, so „Unheimliche Begegnung der dritten Art“.

„Nope“ nimmt sich viel Zeit, Spannung aufzubauen. Unwohlsein und die Ahnung, dass gleich etwas Entsetzliches passieren wird, kriechen den Nacken hoch. Problematisch nur, wenn all die aufgebaute Spannung immer wieder verpufft.

Jordan Peele gehört zu den interessantesten neuen Regisseuren Hollywoods, droht mit seinem dritten Spielfilm aber einen ähnlichen Weg wie der einstmals gefeierte M. Night Shyamalan einzuschlagen. Peeles Filme sind zwar um Längen cooler und besser inszeniert als beispielsweise „Old“ (oder fast alle anderen Filme Shyamalans), aber das Einzelkämpfertum – Drehbuch, Produktion und Regie aus einer Hand – tut der Sache nicht immer gut. Vor allem der Story hätten noch ein bisschen Feintuning und Straffung nicht geschadet. Zu Anfang gibt es eine besonders schön schreckliche Szene mit einem Schimpansen im Fernsehstudio. Diese und eine spätere Rückblende darauf sind für sich genommen schockierende Szenen mit echtem Horror. Im Gesamtfilm wirken sie aber wie ein Fremdkörper und haben nur sehr bedingt mit der restlichen Handlung zu tun.

So lässt „Nope“ mit gemischten Gefühlen zurück: Lob für die originelle Idee, die Besetzung und den tollen IMAX-Look. Doch das teils unausgegorene Drehbuch und das schwache Ende trüben den Spaß. Eine Empfehlung mit Einschränkung.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Nope“
USA 2022
130 min
Regie Jordan Peele

alle Bilder © Universal Pictures

DER ENGLÄNDER, DER IN DEN BUS STIEG UND BIS ANS ENDE DER WELT FUHR

Kinostart 11. August 2022

Pensionär Tom begibt sich auf eine lange Fahrt vom äußersten Norden Schottlands zum südlichsten Punkt Englands, Land’s End. Es ist eine finale Reise in die Vergangenheit, kürzlich verwitwet und nun selbst dem Tode nahe, hat der 90-Jährige noch eine letzte Angelegenheit zu erledigen. Als alter Sparfuchs benutzt er ausschließlich Öffis, denn mit denen dürfen Rentner in Großbritannien dank eines „Freifahrtausweises“ umsonst fahren. Wie das bei einem Roadmovie so ist, lernt Grumpy Cat Tom unterwegs allerhand Menschen kennen.

Klingt dröge, ist es über weite Strecken auch. Ein alter Herr, der von einem Bus in den nächsten steigt. Auch die Begegnungen unterwegs sind ausgesprochen vorhersehbar und wenig aufregend. Die Welt besteht nur aus hundsgemeinen Fieslingen und zuckersüßen Engeln. Ganz normale Menschen haben zugegebenermaßen deutlich weniger Unterhaltungswert, eine Fahrt mit der BVG ist der beste Beweis dafür.

DER ALTE MANN UND DER BUS

DER HUNDERTJÄHRIGE, DER IN DEN BUS STIEG UND EINSCHLIEF

9 € TICKET - DER FILM

Es hätte viele bessere Titel für „The Last Bus“ gegeben. Deshalb schon mal Punktabzug für den dämlichen, an Jonas Jonassons Bestseller anbiedernden deutschen Verleihtitel. „Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr“ ist zwar inhaltlich richtig, aber schon gefährlich nah am Spoiler, denn viel mehr passiert in den 86 Minuten nicht. In der plumpen Metapher vom „Leben als Reise“ bleibt der brillante Hauptdarsteller Timothy Spall das einzig Sehenswerte.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Last Bus“
GB 2021
86 min
Regie Gillies MacKinnon

alle Bilder © Capelight Pictures

BULLET TRAIN

Kinostart 04. August 2022

Wozu mit langen Inhaltsangaben aufhalten, wenn es der Klappentext der Romanvorlage perfekt zusammenfasst: Ein Zug. Fünf Killer. Ein Koffer voller Geld.

Und noch ein typischer Guy-Ritchie-Film, den Guy Ritchie nicht gedreht hat. Das Beste an der Highspeed-Action-Komödie in einem japanischen Schnellzug ist zweifelsohne Brad Pitt als Auftragskiller in Existenzkrise. Regisseur David Leitch bleibt seinem überdrehten Comicstil aus „Atomic Blonde“ und „Deadpool 2“ treu und deckt die ganze Bandbreite von ziemlich lustig bis absolut dämlich ab. „Bullet Train“ ist ein blutiges Gemetzel mit hohem Bodycount, kombiniert mit Selbstironie. Das ist nun wirklich nichts Neues, in diesem Tempo aber wenigstens unterhaltsam.

Dank halbwegs interessanter Charaktere und Dialogen aus dem Tarantino-Handbuch nicht ganz so hirnlos wie befürchtet, aber auch längst nicht so clever, wie es die Macher glauben. Slapstickhaftes Popcornkino für zwei Stunden Eskapismus.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Bullet Train“
USA 2022
126 min
Regie David Leitch

alle Bilder © Sony Pictures

WARTEN AUF BOJANGLES

Kinostart 04. August 2022

Vom Song „Mr. Bojangles“ existieren etliche Cover-Versionen, das Original stammt von Jerry Jeff Walker aus dem Jahr 1968. In Régis Roinsards Film wird der Welthit nun von Marlon Williams neu interpretiert. Framerate kann auch Formatradio, deshalb hier die Top Four aus vier Jahrzehnten:

Camille – oder Antoinette, wer nimmt das schon so genau, denn „ein Name für ein ganzes Leben ist zu langweilig“ – und Georges verlieben sich Ende der 1950er-Jahre Hals über Kopf ineinander. Neun Monate später kommt ihr Sohn Gary zur Welt. Die unkonventionelle Kleinfamilie lebt zwischen Realitätsverweigerung (Briefpost bleibt grundsätzlich ungeöffnet) und einer Welt voller Fantasie und Poesie. Bei den allabendlichen Cocktailpartys mit Dutzenden von Gästen führt der mittlerweile 10-jährige Gary Erwachsenengespräche und seine Eltern tanzen zu „Mr. Bojangles“. Ein Tanz am Abgrund, denn während George einen Rest Bodenhaftung behält (er geht jeden Tag zur Arbeit in seine Autowerkstatt), entgleitet Camille zusehends in manische Depressionen und wird bald eine Gefahr für sich und andere. Eine Einweisung in die psychiatrische Klinik scheint unausweichlich.

Dass es „Warten auf Bojangles“ in dieser Version gibt, ist der Frau des Regisseurs zu verdanken, denn die sagte, nachdem sie das Buch gelesen hatte: „Wenn Du daraus keinen Film machst, verlasse ich Dich.“ Ihr Wunsch war ihm Befehl. Mit der Verfilmung des Romans von Olivier Bourdeaut knüpft Régis Roinsard an den leicht slapstickartigen Retro-Ton seines Erfolgsfilms „Mademoiselle Populaire“ an (ebenfalls mit Romain Duris in der Hauptrolle). 

Vor allem zu Beginn ist der Geist von „Die fabelhafte Welt der Amélie“ zu spüren. Farbenfroh, leicht versponnen und sehr französisch – eine idealisierte Welt mit imposanter Ausstattung am Rande des Kitsches. Doch im Gegensatz zu Jean-Pierre Jeunets Klassiker kippt „Warten auf Bojangles“ in der zweiten Hälfte in ein handfestes Drama, in dem vor allem Virginie Efira als Camille ihre schauspielerischen Fähigkeiten entfalten kann. „Warten auf Bojangles“ ist eine etwas zuckrige Dramödie, tonal irgendwo zwischen „Amélie“ und „Betty Blue“, die sich gegen Ende ein wenig zieht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „En attendant Bojangles“
Frankreich / Belgien 2021
124 min
Regie Régis Roinsard

alle Bilder © STUDIOCANAL