CALL JANE

CALL JANE

Kinostart 01. Dezember 2022

Joy ist schwanger. Doch etwas stimmt nicht. Immer wieder wird ihr schwindlig, verliert sie das Bewusstsein. Der Arzt rät zu einem Schwangerschaftsabbruch, da sonst Lebensgefahr bestehe. Das Problem: Ende der 60er-Jahre sind Abtreibungen in den USA verboten und der rein männlich besetzte Klinikvorstand lehnt den Eingriff ab. Die Lage scheint aussichtslos, bis Joy auf eine illegale Gruppe trifft. Die „Janes“ helfen Frauen, ungewollte Schwangerschaften zu beenden und notfalls vor Gericht zu ziehen. Joy wird Teil des Untergrundkollektivs.

Ein wichtiges Thema, gerade in Zeiten, in denen das Recht auf Abtreibung in vielen Ländern wieder zur Diskussion steht (im Juni diesen Jahres wurde das generelle Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch in den USA abgeschafft). Umso bedauerlicher, dass „Call Jane“ nicht richtig packt. Phyllis Nagy, die schon das Drehbuch zu Todd Haynes „Carol“ geschrieben hat, interessiert sich in ihrem Regiedebüt überraschend wenig für die aufkommende Frauen- und Hippiebewegung in den USA. Ihr eher konventioneller, zu netter Film fokussiert sich hauptsächlich auf die Frage: Finden Joys Ehemann und Tochter heraus, dass sich Mutti mit gesetzlosen neuen Freundinnen umgibt?

„Call Jane“ ist solide, gut gespielte, aber letztendlich biedere US-Ware. Einen weitaus besseren Film zum Thema hat die Französin Audrey Diwan mit „Das Ereignis“ gemacht, der im März diesen Jahres in den Kinos lief.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Call Jane“
USA 2022
121 min
Regie Phyllis Nagy

alle Bilder © DCM

CLOUDY MOUNTAIN

CLOUDY MOUNTAIN

Kinostart 01. Dezember 2022

Eine riesige Berglandschaft im Südwesten Chinas droht zu kollabieren. Nur der clevere Sprengstoffexperte Yizhou kann gemeinsam mit seinem Vater die Menschheit vor einer Katastrophe retten.

Die Helden sind tapfer, stark und exzellente Multitasker

„Cloudy Mountain“ ist Chinas Antwort auf Dwayne-Johnson-Filme, nur ohne The Rock. Die Großmeister der Kopie haben einen Actionblockbuster produziert, der mehr physikalische Grenzen ignoriert als „San Andreas“ und „Skyscraper“ zusammen. Stürze in einem Bus in ein tiefes Erdloch? Freeclimbing an einer regennassen Felswand? Ein zehn Meter Hechtsprung durch die Luft, um an den Kufen eines vorbeifliegenden Helikopters zu landen? Alles kein Problem, denn die Helden sind tapfer, stark und exzellente Multitasker. Die Krönung ist eine Szene, in der der Hauptdarsteller einen Jeep mit Höchstgeschwindigkeit durch eine enge Serpentinenstraße steuert, während er hoch komplizierte mathematische Gleichungen in seinen Computer hämmert und es um ihn herum hausgroße Felsbrocken regnet. Auf Mensch und Technik ist eben Verlass. Internet ist immer und überall verfügbar, im Reich der Mitte scheint es flächendeckend stabiles Netz zu geben. 5 G sogar im Erdinneren – davon kann unsereins nur träumen.

„Cloudy Mountain“ ist ein Propagandafilm, in dem Sätze wie „Vertrauen Sie der Partei und der Regierung“ fast im Allgemeinlärm untergehen. Auf der Filmdatenbank IMDb hat das Katastrophenepos derart viele 10 von 10 Punkte Jubelbewertungen bekommen, dass man sich fragt, ob Xi Jinping hier persönlich nachgeholfen hat.

Wer über die teils lachhafte Handy-Videospiel-Qualität der Spezialeffekte spotten möchte – bitte schön. Unterhaltsam ist die rasante Achterbahnfahrt trotzdem. In einer Art Rudis Resterampe der Katastrophenfilme werden immer grotesker werdende Actionszenen aneinandergereiht, es bleibt kaum Zeit zum Luftholen. Überwältigungskino in Reinform.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Feng Bao“
China 2021
115 min
Regie Li Jun

alle Bilder © PLAION PICTURES GmbH

MERKEL – MACHT DER FREIHEIT

MERKEL – MACHT DER FREIHEIT

Kinostart 24. November 2022

Ist schon genügend Zeit vergangen? Will man sich nur ein Jahr nach ihrem freiwilligen Ausstieg aus der Politik einen Film über Angela Merkel anschauen? Die Regisseurin Eva Weber hat diese Fragen mit „ja“ beantwortet und aus umfangreichem Archivmaterial und zahlreichen Interviews mit Zeitzeugen eine Dokumentation über das Leben und Wirken der ewigen Kanzlerin gemacht.

Das entscheidende Merkmal von Angela ist die Abwesenheit von Ego

Frau und Ossi: Kann die das? Angela Merkel muss sich zu Beginn ihrer politischen Karriere viele Seltsamkeiten anhören. „Geht das nicht alles ein bisschen schnell für Sie? Haben Sie gelegentlich das beklemmende Gefühl, es geschehe etwas mit Ihnen, mehr als dass Sie selber etwas aus sich machen? Angela Merkel: derzeit mehr Objekt als Subjekt?“, fragt der Journalist Günter Gaus 1991. Die gleiche Frage einem Mann gestellt – undenkbar. Merkel zuckt kaum wahrnehmbar mit den Mundwinkeln. Provokationen sitzt sie aus.

Mit maximaler Effizienz räumt sie später politische Gegner aus dem Weg. Ihre Rolle im Machtkampf um das Ende der Ära Kohl fasst der ehemalige britische Botschafter Lord McDonald nicht ohne Bewunderung so zusammen: „Der alte Mann musste weg. Jemand musste ihn abfertigen.“ Während andere Energie auf eitle Hahnenkämpfe verschwenden, verfolgt Angela Merkel stoisch ihre Ziele, immer im Dienste der Sache. „Das entscheidende Merkmal von Angela ist die Abwesenheit von Ego“, sagt der ehemalige britische Premierminister Tony Blair über sie.

„MERKEL – Macht der Freiheit“ ist das unaufgeregte Porträt einer unaufgeregten Politikerin. Die Ex-Kanzlerin selbst taucht im ganzen Film nur in bereits bekanntem Material auf, für ein neues Interview stand sie nicht zur Verfügung. Unzählige Archivausschnitte, Fotos und Filme hat die Regisseurin ausgewertet und neu zusammengefügt. Kritische Töne bleiben dabei größtenteils aus. So entsteht das unterhaltsame, aber gerade im Angesicht der aktuellen Russlandkrise etwas zu positive Bild einer Politikerin, die sechzehn Jahre lang die mächtigste Frau der Welt war.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / GB / Dänemark 2022
96 min
Regie Eva Weber

alle Bilder © PROGRESS Filmverleih

ZEITEN DES UMBRUCHS

Kinostart 24. November 2022

Dass ein Schmock wie Ronald Reagan der nächste US-Präsident werden könnte, versetzt Irving Graff (Jeremy Strong) in Unglauben. Der liberale jüdische Familienvater lebt Anfang der 1980er-Jahre in Queens, New York. Mit seiner Frau Esther (Anne Hathaway) hangelt er sich so durch, vom klassischen Wunsch getrieben, die beiden Kinder mögen es „mal besser haben“. Doch Undank ist der Welten Lohn: Sohn Paul (Banks Repeta) ist verträumt und mehr am Zeichnen als an Lehren fürs Leben interessiert. Verständnis findet er nur bei seinem Großvater (Anthony Hopkins), dem einzigen Erwachsenen, auf den der Junge hört.

Der Film findet keinen großen dramatischen Bogen, bleibt skizzenhaft

Wer hat sich nicht schon mal gefragt, ob die eigene Familiengeschichte es nicht wert wäre, aufgeschrieben oder verfilmt zu werden? Da aber die meisten von uns kein Soap-Opera-Leben führen, hielte das Ergebnis den Rest der Menschheit vermutlich nicht in Atem. Und auch die Kindheitserinnerungen von James Gray sind weniger aufregend, als es der Drehbuchautor und Regisseur vermutet. Sein Film findet keinen großen dramatischen Bogen, bleibt skizzenhaft und ist nur mäßig interessant. Ständig wartet man auf einen großen Knall, Gefühle oder Drama, doch es passiert fast nichts. Wenigstens hat er eine fabelhafte Besetzung vor der Kamera versammelt: Neben Jeremy Strong und Anne Hathaway vor allem Anthony Hopkins, der endlich aufgehört hat, drittklassige Thriller fürs Geld zu drehen, und seit „The Father“ wieder zu Bestform zurückgefunden hat.

„Armageddon Time“ – der Originaltitel klingt brachial und vielversprechend. Überraschend, dass sich dahinter eine so fade Familiengeschichte verbirgt. Wie schon zuletzt „Ad Astra – Zu den Sternen“ ist auch Grays neuer Film kein Unterhaltungsfeuerwerk, eher eine Beobachtung von Zuständen. „Zeiten des Umbruchs“ möchte ein bildgewordener Jonathan Franzen-Roman sein: eine ausführliche Beschreibung vom Leben, bei der nicht viel passieren muss, die aber trotzdem fesselt. Das funktioniert bei Franzen auf dem Papier. Kino folgt anderen Regeln. Da können zwei Stunden ohne nennenswerte Geschichte ganz schön lang werden.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Armageddon Time“
USA 2022
114 min
Regie  James Gray

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

BONES AND ALL

Kinostart 24. November 2022

Das Rückgrat geknickt,
Die Knochen zerknackt,
Die Schenkel gespickt,
Die Lebern zerhackt.

Joachim Ringelnatz beschreibt in seinem Gedicht „Silvester bei den Kannibalen“ genau wie’s geht. Derlei Anleitung könnte auch Maren gut gebrauchen, denn sie ist seit Kindesbein scharf auf Menschenfleisch. Als sich pünktlich zu ihrem 18. Geburtstag ihr Vater aus dem Staub macht, begibt sie sich auf die Suche nach ihrer verschollen geglaubten Mutter – ein Roadtrip quer durch die Vereinigten Staaten der Reagan-Ära. Unterwegs trifft sie Gleichgesinnte (man kann sich gegenseitig erschnuppern) und findet im Wild Boy Lee ihre erste große Liebe. Liebe unter Kannibalen. Schön.

Regisseur Luca Guadagnino ist ein Meister der Stimmung

„Bones and All“ würde in der modernen Gastronomie wohl „Nose to Tail“ heißen. Denn in der Adaption von Camille Deangelis’ Jugendroman geht es (auf den ersten Blick) genau darum: das Verspeisen von Menschen mit Haut und Haar. Regisseur Luca Guadagnino hat sich dafür erneut Timothée Chalamet vor die Kamera geholt und der macht, was er am besten kann: mit niedlichem Hundeblick unter der Lockenfrisur hervorschauen und sexuelle Ambivalenz verströmen. Sehr putzig auch Oscarpreisträger Mark Rylance als gruselig-irrer Körperfresser mit Prinzipien: Ihm kommen nur bereits Verstorbene auf den Teller. Die Hauptrolle ist mit Taylor Russell besetzt, die schon im sträflich vom Publikum ignorierten Coming-of-Age-Drama „Waves“ begeistern konnte.

Was dem Immobilienmakler „Locatio, Location, Location“, ist für Luca Guadagnino „Mood, Mood, Mood“. Die Filme des italienischen Regisseurs sind in erster Linie perfekt eingefangene Atmosphäre, weniger klassisch erzählte Geschichte. Wer wollte nach „Call Me by Your Name“ nicht sofort die Koffer packen und einen sonnenflirrend verliebten Urlaub im Süden verbringen? Ein Meister der Stimmung also. Mit „Bones and All“ hat er nun einen – sich selbst vielleicht etwas zu ernst nehmenden – romantischen Arthousefilm mit Horrorelementen gedreht. Top besetzt, zwischendurch mit Längen, aber insgesamt sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Bones and All“
Italien / USA 2022
131 min
Regie Luca Guadagnino

alle Bilder © Warner Bros. Pictures (international)

SHATTERED – GEFÄHRLICHE AFFÄRE

Kinostart 24. November 2022

Große Sorge um John Malkovich! Der preisgekrönte Schauspieler ist in finanziellen Schwierigkeiten! Oder warum sonst spielt er in diesem zweitklassigen C-Picture mit?

Die überraschungsfreie Geschichte wird inklusive aller Twits bereits im Trailer verraten: Der in einem Luxusanwesen in den Bergen lebende Tech-Millionär Chris (Cameron Monaghan) verliebt sich in die attraktive Sky (Lilly Krug). Als der bebrillte Beau bei einem Überfall verletzt wird, springt die junge Frau kurzerhand als Privatkrankenschwester ein. Doch die hilfsbereite Fassade täuscht, Sky verfolgt einen perfiden Plan. Natter!

„Shattered“ ist eine Mischung aus „Misery“ und „Fatal Attraction“, nur mit schlechteren Darstellern und überschaubarerem Production Value. Früher landeten solche Filme als Direct-to-DVD in Videotheken, heute werden sie auf Streamingplattformen verheizt. Weshalb es „Shattered“ auf die große Leinwand ins Kino geschafft hat, bleibt rätselhaft. Trotz seiner Schlichtheit in jeder Hinsicht, ist der Thriller wenigstens in der zweiten Hälfte ein bisschen spannend.

Stupid German Money goes Hollywood: Veronica Ferres ist nicht nur die Mutter der Hauptdarstellerin, sondern auch Produzentin des Films und privat mit Malkovich befreundet. Ach so, drum.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Shattered“
USA 2022
94 min
Regie Luis Prieto

alle Bilder © Leonine

EINFACH MAL WAS SCHÖNES

Kinostart 17. November 2022

Deutschlands fleißigste „Ich warte nicht auf Rollenangebote, sondern inszeniere mich selbst“-Schauspielerin und Regisseurin Karoline Herfurth hat es schon wieder getan. Gerade mal neun Monate nach „Wunderschön“ startet nun „Einfach mal was Schönes“ in den Kinos. Ähnlicher Titel, ähnlicher Film.

Karla ist 39 und familiengestresster Single. Sie möchte unbedingt ein Kind bekommen, doch es fehlt der richtige Mann. Also beschließt sie, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen: Samenbank sei Dank ist schnell ein Spender gefunden. Doch als ihr der viel zu junge Ole über den Weg läuft, wird ihr Leben auf den Kopf gestellt.

Karoline Herfurth beweist, dass sie nicht nur ein Händchen fürs Komödiantische, sondern auch fürs Dramatische hat. Vielleicht sollte sie mit ihrem nächsten Projekt mal das Sujet wechseln. Drama mit Humor statt Komödie mit Drama. „Einfach mal was Schönes“ ist ein harmloser Film mit einer süßen Hauptdarstellerin und einem süßen Hauptdarsteller sowie einer grandiosen Ulrike Kriener als Höllenmutter. Obwohl das alles unterhaltsam ist, trägt die simple Geschichte nur für maximal 90 Minuten. Wie schon bei ihrem Vorgängerfilm (131 Minuten!!) möchte man sich mit der Regisseurin an den Schneidetisch (bzw. Computer) setzen und fragen: Braucht es diese redundanten Szenen wirklich? Wie oft muss man eine Fahrt über abgelegte Kleidungsstücke zeigen, um eine Beischlafszene anzukündigen? Einmal? Zweimal? Dreimal? Die Kunst des Weglassens beherrscht Herfurth nicht. Wenigstens konzentriert sich die Geschichte diesmal auf wenige Figuren, so bleibt genügend Zeit, Charaktere nicht nur anzureißen, um dann ihre Probleme im Schweinsgalopp zu lösen. Insgesamt also eine echte Weiterentwicklung zum zerfaserten Vorgängerfilm „Wunderschön“.

Karoline Herfurth bleibt ihrem Hit and Miss-Rezept treu: Neben wirklich lustigen gibt es mindestens genauso viele dämliche Szenen zum Fremdschämen. „Einfach mal was Schönes“ ist generationsübergreifende Mainstream-Unterhaltung für zwei Stunden Lachen und ein bisschen Weinen ohne großen Anspruch.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
116 min
Regie Karoline Herfurth

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

the MENU

Kinostart 17. November 2022

„Die im Feuer alter Buchenstämme vierzehn Stunden geräucherte Hippe wird von einem Schmand begleitet, den wir von Bauer William aus Schottland beziehen. Seine Kuh Mathilda gibt nur einen Liter Milch pro Woche, welcher exklusiv für diesen Gang in osmanischer Salzlake fermentiert wurde“.
So klingt die nicht erfundene Beschreibung eines verbrannten Stück Teigs mit saurer Sahne in einem Berliner Sterne-Restaurant. Man sitzt da, hört sich’s an und staunt. Jede Zutat wird mit einer Geschichte aufgeladen, alles ist Kunst. Wer schon mal das zweifelhafte Vergnügen hatte, in diesem nicht näher genannten Lokal zu dinieren, der ahnt, dass die im Film „the MENU“ gezeigte Welt der Superfoodies ziemlich nah an der Realität ist.

Selten wurde Grausamkeit so ästhetisch serviert

Eine Gruppe reicher und berühmter Menschen reist auf eine Insel, um dort im ultra-exklusiven Restaurant Hawthorne zu speisen. Spaß kostet Geld: Für das Menü des legendären Chefkochs Slowik (Ralph Fiennes) sind 1.250 $ pro Kopf fällig. Doch was als unvergessliches Gourmet-Erlebnis geplant war, wandelt sich im Laufe des Abends zum Höllentrip.

Menu surprise: Regisseur Mylod spannt einen eleganten Bogen von satirischer Komödie über ausgewachsenen Thriller bis hin zum blanken Horror. Man weiß nie, was als Nächstes passiert, es bleibt bis zum Ende wunderbar überraschend. Das intelligente, mit scharfzüngigen Dialogen gespickte Drehbuch von Seth Reiss und Will Tracy nimmt dabei gekonnt die Auswüchse des Kapitalismus aufs Korn. Insofern ist „the MENU“ dem oscargekrönten „Parasite“ nicht unähnlich.

Selten wurde Grausamkeit so ästhetisch serviert. „the MENU“ nutzt den visuellen Stil der augenschmausigen NETFLIX-Serie „Chef’s Table“, inklusive ironischer Zwischentitel mit pseudo-poetischen Wortschöpfungen für den jeweiligen Gang. Aus der rundum delikaten Besetzung stechen vor allem der immer fabelhafte Ralph Fiennes als Chefkoch und Hong Chau als eiskalt professionelle Oberkellnerin Elsa hervor. „the MENU“ ist eine zugleich komische und bitterböse Abrechnung mit der grotesken Welt der Spitzengastronomie. Guten Appetit.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Menu“
USA 2022
107 min
Regie Mark Mylod

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

BEAUTIFUL BEINGS

Kinostart 10. November 2022

Für den 14-jährigen Balli läuft es denkbar schlecht: Er lebt mit seiner drogenabhängigen Mutter in einem runtergekommenen Haus, ein Auge wurde ihm „versehentlich“ vom Stiefvater weggeschossen, in der Schule wird er regelmäßig gemobbt. Kein schönes Leben. Als Balli die gleichaltrigen Addi, Konni und Siggi kennenlernt, entwickelt sich langsam eine Freundschaft zwischen den vier Jungs.

Was ist wahre Freundschaft?

Der Film des isländischen Regisseurs wirkt wie eine zeitgemäße Interpretation von „Stand By Me“. Nur um einiges rougher und näher an der Wirklichkeit. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Zu Hause dominieren die Väter, durchweg Loser, vom Trinker bis zum brutalen Schläger ist alles dabei. Auf der anderen Seite steht die pubertäre Grenzen austestende Freundschaft zwischen den Jungs, die immer wieder überraschend zärtliche Momente hat.

„Beautiful Beings“ wirft interessante Fragen auf: Was ist wahre Freundschaft? Wie lässt sich der eigene Weg finden? Und können beste Freunde schlechten Einfluss nehmen? Regisseur Guðmundsson ist ein bewegendes, in stimmungsvollen Bildern gedrehtes Coming-Of-Age-Drama mit vier tollen Newcomern geglückt. „Berdreymi“ wird im kommenden Jahr von Island ins Rennen um den Oscar für den besten internationalen Film geschickt.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Berdreymi“
Island / Dänemark / Schweden / Niederlande / Tschechische Republik 2022
123 min
Regie Guðmundur Arnar Guðmundsson

alle Bilder © Salzgeber

BLACK PANTHER WAKANDA FOREVER

Kinostart 10. November 2022

Regisseur Ryan Coogler hatte keine leichte Aufgabe. Nach dem überraschenden Tod seines Hauptdarstellers Chadwick Boseman 2020 war es mehr als unklar, ob es überhaupt eine Fortsetzung des Megaerfolgs „Black Panther“ geben könnte und sollte.

Der beste MCU-Film aller Zeiten?

Und nun? Die Onlinekritiker überschlagen sich im Vorfeld: „Black Panther Wakanda Forever“ sei „zwar nicht der beste MCU-Film aller Zeiten“, aber immerhin „der beste aus der aktuellen Phase 4“. Darüber lässt sich streiten. Das größte Problem ist nicht die Abwesenheit Bosemans – in all den langen Dialogszenen geht das ohnehin unter – es ist das Fehlen eines schwarzen Panthers generell. Geschlagene zwei Stunden lässt sich der Film Zeit, ehe seine Titelfigur überhaupt in Erscheinung tritt. Doch dann ist es zu spät und zu wenig. Immerhin hält das Kriegsepos einen der besseren MCU-Gegenspieler parat: Namor, König einer verborgenen Unterwassernation, ist ein gut ausgearbeiteter Charakter aus Fleisch und Blut, der sich nicht in eine Reihe mit den oft vergessbaren CGI-Kreaturen stellt.

„Black Panther 2“ sieht wie die düstere Verfilmung einer Las-Vegas-Show von Cirque du Soleil aus und ist erstaunlich humorfrei. Das wiederum kann dem Drehbuch gar nicht hoch genug angerechnet werden, denn witzige oneliner kann wirklich niemand mehr hören. Der epische Abenteuerfilm beeindruckt mit tollen Unterwasserszenen, ist aber mit 161 Minuten entschieden zu lang geraten. „Wakanda Forever“ bekommt da eine ganz neue Bedeutung.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Black Panther Wakanda Forever“
USA 2022
161 min
Regie Ryan Coogler

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

MRS. HARRIS UND EIN KLEID VON DIOR

Kinostart 10. November 2022

von Anja Besch

Im London der späten 50er fristet die ältliche Kriegerwitwe Ada Harris mit verschiedenen Putzjobs ein bescheidenes Dasein, dessen einzige Ausschweifungen gelegentliche Pub-Besuche sind – bis sie eines Tages ausgerechnet durch die Haute-Couture-Robe einer Kundin aus ihrer pragmatischen Genügsamkeit gerissen wird. Dank eiserner Sparsamkeit und eines ebenso unverhofften Geldsegens läppert sich zwar die nötige Anschaffungssumme zusammen, doch noch befindet sich der Stoff, aus dem ihre Träume sind, im Atelier des großen Couturiers Christian Dior. Endlich in der Hauptstadt der Mode angekommen, schafft es Mrs. Harris nicht nur, ins Allerheiligste vorzudringen, sondern – um aus dem Nähkästchen zu spoilern – eine griesgrämige Direktrice, einen charmanten Grafen, ein existenzialistisches Pärchen und eigentlich tout Paris zu bezaubern.

Wem diese Geschichte vage bekannt vorkommt, der musste vielleicht 1982 die betuliche Fernsehadaption mit Inge Meysel ertragen. Vierzig Jahre später wird Anthony Fabians Kinoversion „Mrs. Harris und ein Kleid von Dior“ endlich Paul Gallicos Literaturklassiker gerecht. Buchstäblich old-fashioned, voller britischem Humor und berührend statt nur rührselig.

Kleider machen Leute und Leute machen Kleider gilt eben auch fürs Filmgeschäft – insbesondere den Cast: Die wunderbare (Oscar®- und BAFTA-nominierte) Lesley Manville in der Titelrolle schart höchstkarätige Co-Darsteller um sich wie Isabelle Huppert, Lambert Wilson oder Jason Isaacs sowie die Jungstars Alba Baptista und Lucas Bravo.

Wenn die Heizungen im Winter auf Sparflamme bleiben, wird es einem mit diesem Film wenigstens richtig warm ums Herz.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Mrs. Harris Goes to Paris“
Großbritannien / Ungarn 2021
116 min
Regie Anthony Fabian

alle Bilder © Universal Picture International Germany

DIE SCHRIFTSTELLERIN, IHR FILM UND EIN GLÜCKLICHER ZUFALL

Kinostart 10. November 2022

Zufallsbegegnungen – der Film. Die Schriftstellerin Jun-hee besucht die Buchhandlung einer früheren Freundin, zu der sie den Kontakt verloren hatte. Bei einem Ausflug trifft sie einen Filmregisseur, der einmal eines ihrer Bücher verfilmen wollte. Später lernt sie bei einem Spaziergang im Park eine berühmte Schauspielerin kennen und schlägt ihr ein gemeinsames Kurzfilmprojekt vor.

Eine beiläufig mitgedrehte, federleichte Fingerübung

So spannend wie das klingt, ist es auch. Es passiert fast nichts in „The Novelist’s Film“, der in Deutschland – das ist jetzt große Mode – unter einem ellenlangen Nonsens-Titel in die Kinos kommt. In meditativen Szenen wird viel geredet, manchmal ist das auch einigermaßen amüsant. Hong Sang-soos dialoglastiger Film ist dramaturgisch weniger kompliziert aufgebaut als seine früheren Werke, die noch viel mehr mit Verschachtelungen und Wiederholungsstrukturen gespielt haben. Den aktuellen Inszenierungsstil des Regisseurs könnte man als „spontan“ bezeichnen, „Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall“ wirkt wie eine beiläufig mitgedrehte, federleichte Fingerübung.

Nach Hong Sang-soos „The Woman Who Ran“ (2020) und „Introduction“ (2021) hat auch „Die Schriftstellerin…“ den Silbernen Bären in Berlin gewonnen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „So-seol-ga-ui yeong-hwa“
Republik Korea 2021
92 min
Regie Hong Sang-soo

alle Bilder © Grandfilm

LAND OF DREAMS

Kinostart 03. November 2022

Irgendwann in naher Zukunft in New Mexico: Die gebürtige Iranerin Simin arbeitet als Faktenprüferin und „Traumfängerin“ für das US-Zensusbüro. Ihre Aufgabe besteht darin, von Haus zu Haus zu gehen und die Menschen nach ihren Träumen zu befragen. In ihrer eigenen Wohnung verkleidet sie sich abends als die Personen, die sie interviewt hat, und übersetzt deren Traumaussagen ins Farsi. Diese Performance lädt sie dann online auf einer Social-Media-Plattform hoch. Klingt nach Kunst? Ist es auch.

Sanfte Anleihen bei Luis Buñuel und deutlichere Anleihen bei David Lynch machen „Land of Dreams“ vor allem visuell interessant. Mit prominenten Schauspielern wie Matt Dillon (als zynischer Bodyguard) und Isabella Rossellini, die covidbedingt nur eine Gastrolle per Monitorzuschaltung hat, erzählt die Regisseurin Shirin Neshat (Co-Regie: Shoja Azari) eine surreale Geschichte, die sich in 113 Minuten etwas zu lang entfaltet. Trotz des überbetonten Themas vom „Staat, der die Träume seiner Bürger kontrollieren will“, sind es die poetischen Bilder und die Musik von Michael Brook, die „Land of Dreams“ sehenswert machen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Land of Dreams“
Deutschland / USA 2021
113 min
Regie Shirin Neshat und Shoja Azari

alle Bilder © W-Film

AMSTERDAM

Kinostart 03. November 2022

Anstrengend! Überladen! Nicht so clever, wie er glaubt zu sein! Selten wurden große Stars derart verheizt! Keine Chemie! Totalausfall! Die Kritik ist sich in ihrem vernichtenden Urteil ziemlich einig: David O. Russells neuer Film ist ein kolossaler Flop.

Drama, Screwball-Komödie, Thriller

Die Geschichte von den beiden verwundeten Soldaten, die am Ende des Ersten Weltkriegs eine Krankenschwester kennenlernen, um dann mit ihr gemeinsam eine unvergessliche Jules und Jim-Zeit in Amsterdam zu verbringen, sei von Anfang an von allem zu viel. Drama, Screwball-Komödie, Thriller, Kriegsfilm: Wie soll das zusammenpassen? Erst als sich die Handlung ins New York der 1930er-Jahre verlegt und die drei Freunde einer (wahren) Verschwörung auf die Spur kommen, die das Schicksal der ganzen Welt beeinflussen könnte, finde der Film Tritt, aber dann sei es schon zu spät. So die seltsame, nicht nachvollziehbare Meinung der Kritiker.

Der Film erzählt eine Geschichte – und dass die mal lustig, mal dramatisch ist und auch einmal kurz im Krieg spielt – na und? Sicher, ein paar Kürzungen hätten nicht geschadet, denn 134 Minuten klingen nicht nur lang, sie sind es auch. Aber sich über eine abwechslungsreiche Handlung zu echauffieren, das klingt eher wie eine persönliche Abrechnung mit dem Regisseur.

„Amsterdam“ beginnt stark, schwächelt ein bisschen in der Mitte und fängt sich dann wieder zum Ende. Die Namen aller mitspielenden Stars aufzulisten, würde zu weit führen, aber Christian Bale, John David Washington, Margot Robbie und Chris Rock seien genannt. Und natürlich Robert DeNiro, Rami Malek und Anya Taylor-Joy. Und nicht zu vergessen Taylor Swift. Russel hat große Namen zusammengetrommelt und liefert einen stellenweise lustigen, fast hitchcockschen Thriller mit herausragender Ausstattung, toller Kamera und einem spielfreudigen Mega-Cast.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Amsterdam“
USA 2022
134 min
Regie David O. Russell 

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN

Kinostart 03. November 2022

Es war einer der spektakulärsten Kriminalfälle Deutschlands: Am 25. März 1996 wurde um 20.20 Uhr der Publizist und Mäzen Jan Philipp Reemtsma in Hamburg-Blankenese entführt. Erst nach 33 Tagen Gefangenschaft und einer Lösegeldzahlung von 30 Millionen D-Mark wurde er wieder freigelassen. Bis dahin hielten sich Presse, Radio und Fernsehen an eine vereinbarte Nachrichtensperre, sodass die Öffentlichkeit erst im Nachhinein von dem Verbrechen erfuhr. Die Entführer waren ausnahmsweise keine Angehörigen der RAF, sondern ganz gewöhnliche Gangster. Zwei Jahre später wurden sie gefasst, vom Großteil des Lösegelds fehlt bis heute jede Spur.

Kein Kitsch, keine billige Spannung, kein Schnickschnack

Über die Erinnerungen der unheilvollen Tage des Wartens hat Johann Scheerer 2018 ein Buch geschrieben: „Wir sind dann wohl die Angehörigen – Die Geschichte einer Entführung“. Das Drama aus der Perspektive des damals erst 13-jährigen Sohns Johann. Hans-Christian Schmid hat aus diesem autobiografischen Bestseller jetzt einen Film gemacht – und was für einen! Kein Kitsch, keine billige Spannung, kein Schnickschnack. Mit Hans Löw, Justus von Dohnányi, Adina Vetter und Newcomer Claude Heinrich inszeniert der Regisseur eine Art Kammerspiel (ein Großteil der Handlung spielt im Haus der Familie Reemtsma/Scheerer), das die nervenzerreißende Anspannung, das bange Hoffen, das stümperhafte Vorgehen der Polizei und die gescheiterten Lösegeldübergaben auf nüchterne, sachliche Art zeigt, ohne dabei emotionslos zu sein.

„Wir sind dann wohl die Angehörigen“ fokussiert sich – der Titel legt es nah – auf Reemtsmas Frau Ann-Kathrin Scheerer und den gemeinsamen Sohn Johann. Von einer Sekunde auf die andere wird der Familienalltag auf den Kopf gestellt, Polizisten ziehen ins Haus ein, Post und Telefon werden dauerüberwacht. Zwischen gescheiterten Geldübergaben erreichen die Angehörigen die verzweifelten Briefe des Entführten. In all dem Chaos muss sich der pubertierende Junge zurechtfinden, während seine Mutter langsam zu zerbrechen droht.

Der beste Tatort, der kein Tatort ist

Sparsamer Musikeinsatz (hervorragend: The Notwist), punktgenaue Ausstattung und in ruhigen, unaufdringlichen Bildern erzählt – wenn man einen Kriminalfilm macht, dann bitteschön so! Obwohl der (gute) Ausgang der Geschichte bekannt ist, bleibt „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ fesselnd von der ersten bis zur letzten Minute. Wer sich über die Opferperspektive informieren will, dem sei Jan Philipp Reemtsmas Buch „Im Keller“ empfohlen.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
118 min
Regie Hans-Christian Schmid

alle Bilder © Pandora Film, 23/5