Systemsprenger ● Grâce à Dieu ● Öndög ● ACID

Natürlich stinken nicht alle Festivalbesucher. Aber viele. Anders ist der Geruch nach ungelüfteter Bettwäsche, der sich in den Berlinalekinos ausbreitet, nicht zu erklären. Danke auch an die Frau, die eine sehr reife Banane im Kino verspeisen musste. Da überlagert ein übler Geruch den anderen.
Dieses Jahr kein Schnee zur Berlinale?

Systemsprenger

MAMAAAAA!!! AAAAAHHHHH! Kreisch, Strampel, Tob: der Film zum Prenzlpanther. Benni ist ein „Systemsprenger“. So nennt man Kinder, die durch alle Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilfe fallen. Die Neunjährige schreit und prügelt sich schon nach kurzer Zeit aus jeder Pflegeeinrichtung raus. Und genau das will sie auch, denn sie möchte viel lieber bei ihrer Mutter leben.
Nora Fingscheidt ist ein extrem intensiver Film mit einer herausragenden Hauptdarstellerin gelungen. Als Zuschauer schwankt man zwischen Mitleid, Genervtheit und Hass. Das Dauer-Geschrei, aber auch die Ungerechtigkeit der Welt, geht an die Grenzen des Ertragbaren. Guter Film, großartige Schauspieler, vor allem die junge Hauptdarstellerin Helena Zengel ist jetzt schon eine würdige Bärenkandidatin.

Deutschland 2019
118 min
Regie Nora Fingscheidt

Grâce à Dieu – Gelobt sei Gott

Und noch mal leidende Kinder: François Ozons neuer Film erzählt von den Opfern des Paters Bernard Preynat, der 2016 wegen sexueller Übergriffe auf rund 70 Jungen angeklagt wurde. Die meisten der Fälle sind mittlerweile verjährt. Stellvertretend erzählt Grâce à Dieu vom Schicksal dreier erwachsener Männer, die es erst nach vielen Jahren schaffen, sich ihrem Dämon zu stellen. Sie leiden bis heute unter den Verletzungen, die ihnen der Pater ungehindert zufügen konnte. Und das trotz zahlreicher Hinweise und Beschwerden von Eltern. Der Film prangert nicht nur den Priester, sondern vor allem das Schweigen der Kirche insgesamt an. Souverän inszenierter, unaufgeregter  – dadurch umso eindringlicher – erzählter Film zu einem lange verschwiegenen Thema. 

Frankreich 2019
137 min
Regie François Ozon

Öndög

Der erste „klassische“ Berlinalefilm in diesem Jahr. So was gibt es außerhalb des Festivals höchstens im Spätprogramm bei 3sat zu sehen. Entschleunigung pur, fast zwei Stunden passiert so gut wie nichts. In eine Einstellung von Öndög hätten andere Filmemacher dreißig Schnitte gesetzt.
Das Programmheft schreibt: „Im Zentrum des Films steht eine starrsinnige Frau in menschenleerer Weite. Ihren fürsorglichen Nachbarn duldet die ansonsten autark lebende Hirtin, die von allen „Dinosaurier“ genannt wird, nur, wenn es Probleme mit ihrer Herde gibt. Für sich und ihre Zukunft hat sie einen ganz eigenen Plan, der mit der einsamen Landschaft und deren Mythen in Beziehung steht.“
Wer dafür die nötige Geduld aufbringt, wird mit lakonischem Humor und ungewöhnlichen Einblicken in eine fremde Kultur belohnt.

Mongolei  2019
100 min
Regie Wang Quan’an

ACID (KISLOTA)

„Wenn Du springen willst, spring!“
Keine gute Idee, das zu einem splitternackten Freund zu sagen, der gerade über das Balkongeländer im fünften Stock geklettert ist. Aber Pete sagt es und Vanya springt in den Tod. Auf seine Beerdigung folgt eine wilde Clubnacht und die Begegnung mit dem Künstler Vasilik. Der taucht nicht nur die Skulpturen seines Vaters in Acid/Säure, sondern hat auch Interesse, den frisch beschnittenen Penis von Petes Freund Sasha zu fotografieren. Das kann natürlich nur unter Drogeneinfluss geschehen, und weil die Flasche mit der Säure gerade so verführerisch rumsteht, trinkt Pete auch noch einen kräftigen Schluck daraus. Selbst zugefügte Schmerzen helfen gegen die Watte im Kopf.
Die unglücklichen jungen Männer, die im Mittelpunkt des Regiedebüts von Alexander Gorchilin stehen, haben die gleichen Probleme wie andere Jugendliche irgendwo sonst auf der Welt auch. Verloren und auf der ewigen Suche nach Perspektive und Orientierung im Leben.
ACID – ein streckenweise anstrengendes, aber nicht uninteressantes Porträt einer (weiteren) „lost generation“, diesmal aus Russland.

Russland 2018 
98 min
Regie Alexander Gorchilin

Mackie Messer – Brechts 3Groschenfilm

BERLINER MUSICAL

Bertholt Brechts „Die Dreigroschenoper“ ist Ende der 20er-Jahre ein weltweiter Hit. Deshalb soll das Stück fürs Kino verfilmt werden. Doch der selbstbewusste Brecht (Lars Eidinger) verlangt, dass es nach seinen Regeln läuft: der Film muss radikal und kompromisslos werden. Seine fiktive Filmversion erzählt zwar auch vom Kampf des Londoner Gangsters Macheath (Tobias Moretti) gegen den Chef der Bettlermafia Peachum (Joachim Król), unterscheidet sich aber dramatisch von der Bühnenvorlage. Zu viele Änderungen, die Produktionsfirma will dem nicht folgen. Nach Brechts Meinung hat sie aber ohnehin nur den schnöden Mammon im Sinn. Also zieht er vor Gericht, um sein Recht als Autor durchzusetzen.

MACHART

Wenigstens hat sich Regisseur Lang was getraut. In einem gewagten Kunstgriff lässt er Brecht ausschließlich in seinen eigenen Worten sprechen: Alles, was dieser im Film sagt, beruht auf Zitaten. Das mag zwar ganz lehrreich sein, wirkt aber stellenweise sehr aufgesetzt. Die leider viel zu lange (130 Minuten) Verfilmung des „Dreigroschen“-Werks bietet, neben ausgezeichneter Besetzung und teilweise peppiger Inszenierung, auch eine etwas irritierende Fernsehballettchoreografie. Oder ist das ironisch gemeint?

FAZIT

Brecht goes Musical. Wunderbare Schauspieler, guter Look, moderne Bildsprache – aber es zieht sich gewaltig.

Deutschland, 2018
Regie Joachim A. Lang
136 min
Kinostart 13. September 2018