WARTEN AUF BOJANGLES

Kinostart 04. August 2022

Vom Song „Mr. Bojangles“ existieren etliche Cover-Versionen, das Original stammt von Jerry Jeff Walker aus dem Jahr 1968. In Régis Roinsards Film wird der Welthit nun von Marlon Williams neu interpretiert. Framerate kann auch Formatradio, deshalb hier die Top Four aus vier Jahrzehnten:

Camille – oder Antoinette, wer nimmt das schon so genau, denn „ein Name für ein ganzes Leben ist zu langweilig“ – und Georges verlieben sich Ende der 1950er-Jahre Hals über Kopf ineinander. Neun Monate später kommt ihr Sohn Gary zur Welt. Die unkonventionelle Kleinfamilie lebt zwischen Realitätsverweigerung (Briefpost bleibt grundsätzlich ungeöffnet) und einer Welt voller Fantasie und Poesie. Bei den allabendlichen Cocktailpartys mit Dutzenden von Gästen führt der mittlerweile 10-jährige Gary Erwachsenengespräche und seine Eltern tanzen zu „Mr. Bojangles“. Ein Tanz am Abgrund, denn während George einen Rest Bodenhaftung behält (er geht jeden Tag zur Arbeit in seine Autowerkstatt), entgleitet Camille zusehends in manische Depressionen und wird bald eine Gefahr für sich und andere. Eine Einweisung in die psychiatrische Klinik scheint unausweichlich.

Dass es „Warten auf Bojangles“ in dieser Version gibt, ist der Frau des Regisseurs zu verdanken, denn die sagte, nachdem sie das Buch gelesen hatte: „Wenn Du daraus keinen Film machst, verlasse ich Dich.“ Ihr Wunsch war ihm Befehl. Mit der Verfilmung des Romans von Olivier Bourdeaut knüpft Régis Roinsard an den leicht slapstickartigen Retro-Ton seines Erfolgsfilms „Mademoiselle Populaire“ an (ebenfalls mit Romain Duris in der Hauptrolle). 

Vor allem zu Beginn ist der Geist von „Die fabelhafte Welt der Amélie“ zu spüren. Farbenfroh, leicht versponnen und sehr französisch – eine idealisierte Welt mit imposanter Ausstattung am Rande des Kitsches. Doch im Gegensatz zu Jean-Pierre Jeunets Klassiker kippt „Warten auf Bojangles“ in der zweiten Hälfte in ein handfestes Drama, in dem vor allem Virginie Efira als Camille ihre schauspielerischen Fähigkeiten entfalten kann. „Warten auf Bojangles“ ist eine etwas zuckrige Dramödie, tonal irgendwo zwischen „Amélie“ und „Betty Blue“, die sich gegen Ende ein wenig zieht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „En attendant Bojangles“
Frankreich / Belgien 2021
124 min
Regie Régis Roinsard

alle Bilder © STUDIOCANAL

EIFFEL IN LOVE

EIFFEL IN LOVE

Kleine Quizrunde für Senioren: Mit welchem Gebäude erlangte Gustave Eiffel im 19. Jahrhundert Weltruhm?

A) Kölner Dom
B) Berliner Fernsehturm
C) New Yorker Freiheitsstatue
D) Londoner Tower Bridge

Richtige Antwort: C. Neben der Erkenntnis, daß niemand Klugscheißer mag, ist das schon wieder eine geschlossene Wissenslücke. Eiffel hat Lady Liberty zwar nicht entworfen, sie aber dank ausgeklügelter Stahlkonstruktion auf Jahrhunderte standsicher gemacht.

Sein nächstes großes Ding ist der Tour Eiffel. 1889, pünktlich zur Pariser Weltausstellung, soll der 324 Meter hohe Turm fertig sein, um eigentlich zwei Jahre später wieder zurückgebaut zu werden. Streikende Bauarbeiter, Probleme mit der Finanzierung, wütende Anwohner – was wie der Bau des BER klingt, ist in Wahrheit die fast gescheiterte Geschichte eines der schönsten Architekturkunstwerke der Welt. Gustave Eiffel will die Weltbevölkerung ursprünglich mit seiner neugebauten Metro beeindrucken, erst die wiedererwachte Liebe zu einer Frau inspiriert ihn zu dem eleganten Phallus mitten in Paris. Weniger sexuell aufgeladen lässt sich in die Form des Eiffelturms auch ein großes A interpretieren, den Anfangsbuchstaben der Angebeteten Adrienne.

Regisseur Martin Bourboulon, sonst eher Spezialist für Komödien, erfindet mit „Eiffel in Love“ das Rad nicht neu: Ein bisschen erinnert das Liebesdrama an „Titanic“ – nur eben nicht zu Wasser, sondern an Land. Wirklichkeit und Fiktion decken sich auch hier nur teilweise: Als der 28-jährige Jungarchitekt in Bordeaux eine Brücke baut, haben Gustave und Adrienne tatsächlich eine leidenschaftliche Beziehung. Ob die Liebe zwischen den beiden allerdings Jahre später noch einmal erblüht und Monsieur Eiffel tatsächlich zum Turmbau inspiriert, ist eine unbewiesene Drehbuchidee.

Die Romanze ist mit Romain Duris und der aus „Sex Education“ bekannten Emma Mackey ausgezeichnet besetzt. Trotz der etwas konventionellen Erzählweise: „Eiffel in Love“ ist unterhaltsam, bildgewaltig und dazu noch romantisch, ohne in Kitsch abzudriften. Vive la France!

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Eiffel“
Frankreich 2021
109 min
Regie Martin Bourboulon
Kinostart 18. November 2021

alle Bilder © Constantin Film

AZNAVOUR BY CHARLES

AZNAVOUR BY CHARLES

Der absolute Albtraum für jeden Influencer: Jahrzehntelang Aufnahmen machen und dann sieht sie keiner. Bei heutigen Instagram-Stars wäre das nicht weiter tragisch, bilden sie doch entweder den schnöden Alltag ab, den man eh selbst erlebt, oder zeigen die immer gleichen Strand-, Body-, Party-, Food-Arrangements.

Ganz anders Charles Aznavour. Der armenisch-französische Schauspieler und Chansonnier hat wirklich was erlebt und war seiner Zeit weit voraus: Seit Ende der 1940er-Jahre führte er ein filmisches Tagebuch auf Schmalfilm und 16 mm. Der Legende nach bekam er seine erste Kamera von Édith Piaf geschenkt, deren Sekretär er damals war.

Aznavour entpuppt sich im Nachhinein nicht nur als fabelhafter Sänger und Schauspieler, sondern auch als talentierter Chronist. Beinahe hätte die Nachwelt von all dem nichts erfahren, denn bis kurz vor seinem Tod lagerten die Filmschätze in einer geheimen Kammer in Aznavours Haus. 2017 übergab er das bis dahin ungesichtete Material dem Filmemacher Marc di Domenico und gewährte ihm freie Hand.

Die über 40 Stunden gefilmtes Leben wurden geschnitten, mit Aznavours Musik und Auszügen aus seinen Memoiren unterlegt, gesprochen von Schauspieler Romain Duris. Das hat den Charme eines privaten Kinoabends, bei dem Opa von früher erzählt. Allerdings ein formidabler Opa mit einer aufregenden Vergangenheit.

Wie im wahren Leben hat der Blick zurück zwischendurch auch mal zähe Momente, vor allem wenn die Bilder zu artig aufs Wort geschnitten sind oder wenn sich der Begleittext in zu allgemeinen Lebensweisheiten ergeht.

Umso fesselnder sind die Bilder von unwiderruflich vergangenen Zeiten im Paris oder New York der 60er-Jahre und (natürlich) die sehr privaten Erinnerungen: Aznavour, ein Meister der Euphancolie (© Benedict Wells), analysiert seine Beziehungen zu den Frauen – den Weg vom ersten euphorischen Verliebtsein bis zum melancholischen Ende.

Aznavours Karriere war eine der beständigsten des 20. Jahrhunderts. Er stand in zahlreichen Filmen vor der Kamera, unter anderem für Truffaut und Schlöndorff. Bis heute verkaufte er fast 200 Millionen Platten und war Autor von über 1.000 Chansons. Sein letztes Konzert gab er 2018 in Japan, nur wenige Wochen vor seinem Tod.

FAZIT

„Aznavour by Charles“ – ein ungewöhnlich intimer Einblick in das Leben eines großen Entertainers.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Le regard de Charles“
Frankreich 2019
83 min
OmU
Regie Charles Aznavour und Marc di Domenico
Kinostart 17. Juni 2021

alle Bilder © Arsenal Filmverleih