BERLINALE SUMMER SPECIAL – TEIL 2

BERLINALE SUMMER SPECIAL – TEIL 2

Heute geht’s in Teil 2 weiter mit dem Programm vom 13. bis 20. Juni

ENCOUNTERS

NOUS

Das Leben ist eine lange, ruhige Bahnfahrt. „RER B“ heißt ein Nahverkehrszug, der Paris und sein Umland von Norden nach Süden verbindet. Regisseurin Alice Diop hat sich vom gewöhnlichen Leben entlang dieser Bahnlinie inspirieren lassen. Ihr Film beschreibt eine zerrissene Gesellschaft in einer Art Patchwork-Porträt. „Nous“ konserviert das alltägliche Leben in französischen Vorstädten. Die Existenz all der Migranten, Außenseiter und Alten wäre ohne dieses filmische Denkmal früher oder später vergessen gewesen. Gewinner der Encounters-Reihe.

Frankreich 2021
115 min
Regie Alice Diop 
Sommer-Berlinale ab 13. Juni

PANORAMA

CENSOR

England, 1980er-Jahre: Enid nimmt ihren Job als Filmzensorin ausgesprochen ernst. Schließlich müssen die unschuldigen Zuschauer vor brutalen Splatterszenen bewahrt werden. Blutige Enthauptungen und Vergewaltigungen fallen ihrer gestrengen Schere zum Opfer. Als Enid einen besonders verstörenden Film sichtet, ruft das Erinnerungen an ihre seit Jahren verschollene Schwester hervor.

Prano Bailey-Bond liefert mit „Censor“ eine liebevolle Hommage an die Ära der unterm Videotheken-Ladentisch gehandelten VHS-Horrorfilme der 80er-Jahre. Eine echte Entdeckung ist die Hauptdarstellerin: Niamh Algars spielt Enids zunehmend verstörte Wahrnehmung perfekt, während sich die Grenzen zwischen Realität und Einbildung langsam aufheben. Leider verliert der Film in der zweiten Hälfte an Spannung. Regisseur Bailey-Bond ist zu sehr in seine David Cronenberg-Zitatensammlung verliebt, die Geschichte wird immer wirrer.

GB 2021
84 min
Regie Prano Bailey-Bond
Sommer-Berlinale ab 14. Juni

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

WOOD AND WATER

Die frisch gebackene Rentnerin Anke freut sich auf einen gemeinsamen Familienurlaub mit den Kindern, doch Sohn Max sagt in letzter Minute ab. Er sitzt in Hongkong fest, die Flughäfen sind wegen der Protestbewegung geschlossen. Seine Mutter beschließt kurzerhand, um die halbe Welt zu fliegen und ihren Sohn zu besuchen.

Wenn Mutti eine Reise tut. Jonas Bak begleitet in seinem Spielfilmdebüt die eigene Mutter vom beschaulichen Schwarzwald in die chinesische Mega-Metropole. „Wood and Water“ bleibt dabei dicht an seiner Hauptfigur. Auf ihren Erkundungen in der Fremde begegnet sie verschiedenen Menschen, versucht zarte Freundschaften zu knüpfen. So entsteht ein stilles Porträt über das Älterwerden und die damit verbundene Einsamkeit in einer chaotischen Welt.

Die etwas laienhaft vorgetragenen Dialoge erinnern an die Regiearbeiten von Klaus Lemke. Und obwohl die Inszenierung teils unbeholfen wirkt – „Wood and Water“ ist ein Zwitter aus Spiel- und Dokumentarfilm – fühlt man sich Mutter Anke bald sehr nah und schaut ihr gerne dabei zu, wie sie sich in Hongkong einlebt und dabei einiges über sich selbst herausfindet.

Deutschland / Frankreich / Hongkong 2021
79 min
Regie Jonas Bak
Sommer-Berlinale ab 16. Juni

ENCOUNTERS

BLUTSAUGER

Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian verfolgen konsequent ihre Vision, aus der Berlinale ein verkopftes Undergroundfilmfestival zu machen. Viel schwer verdauliche Kost, die höchste intellektuelle Ansprüche erfüllt, plumpe Unterhaltung hat da nichts verloren.

Der deutsche Encountersbeitrag „Blutsauger“ passt ganz hervorragend ins neue Muster. Ein russischer Schauspieler wartet auf seine Überseefahrt nach Amerika. Beim Strandspaziergang lernt er eine mondäne Fabrikantin kennen, die sich als Vampir entpuppt. Es wird viel über Marx und Lenin diskutiert, und obwohl die Geschichte Ende der 1920er-Jahre spielt, tauchen immer wieder Coca-Cola-Dosen oder andere moderne Elemente im Bild auf. Klingt interessanter, als es ist. Julian Radlmaiers „Blutsauger“ hat den bemühten Charme einer Filmhochschul-Abschlussarbeit, besetzt mit Laiendarstellern. Dass Corinna Harfouch in einer kleinen Nebenrolle auftaucht, lässt sich nur als Freundschaftsdienst erklären.

Deutschland 2021
128 min
Regie Julian Radlmaier
Sommer-Berlinale ab 18. Juni

PANORAMA DOKU

THE LAST FOREST

Davi Kopenawa ist Schamane und Ältester der Yanomami, einer indigenen Gemeinschaft von Ur-Einwohnern an der brasilianisch-venezolanischen Grenze. Sein Volk ist in Gefahr, denn Brasilien wird seit 2019 von einem Verbrecher regiert. Jair Bolsonaro hat (neben vielen anderen Untaten) auch dafür gesorgt, dass tausende von Goldsuchern in den bislang geschützten Lebensraum der Yanomami eindringen dürfen. Die Fremden bringen Gift, Krankheit und Tod in den Regenwald.

Luiz Bolognesis erhellender Dokumentarfilm „The Last Forest“ gibt einen Einblick in die über tausendjährige Geschichte des Naturvolks. Er lässt dabei die Betroffenen selbst zu Wort kommen und verzichtet auf belehrende Offtexte. In einigen Szenen spielen die Yanomami mythologische Erzählungen ihres Volks nach – das ist zwar ein wenig schülertheaterhaft, hat aber auch einen gewissen Charme.

Originaltitel „A Última Floresta“
Brasilien 2021
74 min
Regie Luiz Bolognesi
Sommer-Berlinale ab 19. Juni

DAS LÄUFT SONST NOCH VOM 13. BIS 20. JUNI

BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN

Wettbewerb - Goldener Bär Bester Film

NATURAL LIGHT

Wettbewerb - Silberner Bär Beste Regie

WHEEL OF FORTUNE AND FANTASY

Wettbewerb - Silberner Bär Großer Preis der Jury

HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE

Wettbewerb - Silberner Bär Preis der Jury

JE SUIS KARL

Berlinale Special Gala

INDUSTRY EVENT ZUM NACHLESEN

BERLINALE 2021 – TAG 4

Ein Wort zum Plakat- und Logodesign: Bravo Kinder! Hier hatte eindeutig die LOBI-AG ihre Tatzen im Spiel. Hübsch und handgemacht, um Klassen besser, als das bemüht künstlerische Grafikfiasko vom letzten Jahr.

WETTBEWERB

GUZEN TO SOZO

Zwischenbilanz: In allen – ALLEN – Wettbewerbsfilmen wird geraucht. Manchmal mehr (Inteurodeoksyeon), manchmal weniger (Petite Maman). Geraucht und geredet, möchte man sagen. Denn Geschwätzigkeit ist das andere Laster in diesem Berlinalejahr. Vielleicht eine neue Form der sozialen Interaktion: Statt sich in Kneipen zu treffen und zu reden, schaut man Filme an, in denen die Schauspieler reden. Und reden. Und reden.
In drei verschiedenen, nicht miteinander verknüpften Episoden erzählt „Guzen To Sozo“ von Frauen und Männer, die über ihre Beziehungen sprechen. Regisseur Ryusuke Hamaguchi scheint ein großer Bewunderer von Woody Allen zu sein. Wie sein unerreichtes Vorbild lässt auch er seine Figuren in teils skurrile Situationen stolpern. Nur mit dem Unterschied, dass „Guzen To Sozo“ visuell sehr tranig daherkommt.

Englischer Titel „Wheel of Fortune and Fantasy“
Japan 2021
121 min
Regie Ryusuke Hamaguchi

WETTBEWERB

GHASIDEYEH GAVE SEFID

Der Makler macht der jungen Mutter wenig Hoffnung: Witwen, Hunde- oder Katzenbesitzer und Junkies haben in Teheran keine Chance. Für ihre Notlage kann Mina nichts, denn ihr Ehemann Babak wurde zu Unrecht für ein Verbrechen hingerichtet. Wie ein guter Geist taucht da plötzlich Reza auf, der behauptet, Schulden bei Babak gehabt zu haben, die er jetzt begleichen möchte. Mina ahnt nicht, dass Reza ein dunkles Geheimnis vor ihr verbirgt.
Schuld und Sühne – ein klassisches Filmsujet, hervorragend besetzt und meisterhaft inszeniert. „Ballad of a White Cow“ führt im Iran zu Kontroversen, schließlich hinterfragt er kritisch das dortige Justizsystem und thematisiert nebenbei noch weitere Tabus, wie Frauenfeindlichkeit und staatliche Unterdrückung.
Hauptdarstellerin Maryam Moghaddam führte gemeinsam mit Behtash Sanaeeha die Regie bei diesem stillen und doch wuchtigen Film.

Englischer Titel „Ballad of a White Cow“
Iran / Frankreich 2020
105 min
Regie Behtash Sanaeeha, Maryam Moghaddam

BERLINALE SPEZIAL

JE SUIS KARL

Genau so könnte es in nicht allzu ferner Zukunft kommen: Die junge Generation hat es gründlich satt und tut sich zusammen, um ein „neues Europa“ zu gründen. Dass das scheinbar nur mit rechtspopulistischen Parolen geht, ist die Kehrseite der Medaille.
Maxi ist nach einem Terroranschlag traumatisiert, sie hat ihre Mutter und ihre beiden Brüder verloren. Da tritt der charismatische Karl in ihr Leben. Der hat große Pläne, will ganz Europa verändern. „Was wäre für dich das Schlimmste?“, fragt sie ihn. „Sinnlos zu sterben“, antwortet er. „Und das Beste?“ „Sinnvoll“. Maxi verliebt sich Hals über Kopf in den charismatischen Neonazi und folgt ihm blind auf seiner Tour durch Europa. Das neue Unheil verbirgt sich hinter hübschen Gesichtern und ist im Social Network präsent.
Christian Schochow zeigt realistisch, wie die next generation der rechten Szene ihre Follower verführen könnte: Konzerte, Influencer-Liveberichte, aufwiegelnde Reden und ein paar free T-Shirts unters Volk geschmissen. Baby-Hitler ist ein Rockstar.
„Je Suis Karl“ erzählt eine interessante Geschichte, doch alles passiert ein bisschen zu schnell. Vor allem Maxis Radikalisierung findet im Zeitraffertempo statt, der Stoff hätte locker für ein paar Folgen einer Miniserie gereicht. Gegen Ende sind Drehbuchautor Thomas Wendrich dann die Pferde durchgegangen – die Zufälle häufen sich, die Handlung wirkt zusehends konstruierter. Wirklich toll sind die Schauspieler: Jannis Niewöhner kauft man das manipulative Neonazi-Arschloch voll und ganz ab. Die Schweizerin Luna Wedler hat mit ihren 21 Jahren schon mehrfach mittelmäßige Filme aufgewertet. Und es ist schön, den unterschätzten Milan Peschel endlich mal nicht in einer Klamotte zu sehen.

Deutschland / Tschechische Republik 2021
126 min
Regie Christian Schwochow

BERLINALE SHORTS

DEINE STRASSE

Zum Schluss noch eine Kurzfilm-Perle: Die von Sibylle Berg erzählte Geschichte, wie es dazu kam, dass es in Bonn eine Straße namens „Saime-Gençe-Ring“ gibt.

Schweiz 2020
7 min
Regie Güzin Kar