BERLIN ALEXANDERPLATZ

Wäre Rainer Werner Fassbinder noch am Leben und würde Alfred Döblins Roman zum zweiten Mal verfilmen – vielleicht käme etwas ähnlich Aufregendes dabei heraus.

In fünf Kapiteln (plus Epilog) erzählt das Drama die düstere Geschichte vom Flüchtling Francis aus Westafrika. Im heutigen Berlin trifft er auf den durchgeknallten Drogendealer Reinhold und die Leben der beiden Männer verbinden sich zu einer verhängnisvollen Schicksalsgemeinschaft. Immer wieder versucht Reinhold, Francis für seine Zwecke einzuspannen, immer wieder widersteht der. Als sich Franz (so hat ihn Reinhold inzwischen zwecks „Germanisierung“ getauft) in das Escort-Girl Mieze verliebt, verspürt er seit Langem so etwas wie Glück.

„Berlin Alexanderplatz“ wird spalten. Regisseur Qurbani wendet sich mit seiner Verfilmung nicht an die breite Masse. So wie es Menschen gibt, die Freude an einer 3-stündigen Volksbühnen-Inszenierung haben, so wird es (hoffentlich) auch Zuschauer geben, die diesen Film lieben. Andere, die nach 20 Minuten entnervt aus dem Kino fliehen, verpassen einen der interessantesten deutschen Filme der letzten Zeit.

Welket Bungué, Jella Haase, Joachim Król – durchweg großartige Schauspieler. Aber vor allem Albrecht Schuch als Reinhold stiehlt mit seiner Präsenz jede Szene. Der Film glänzt: Kamera, Schnitt, Musik, Ausstattung – das ist alles gekonnt, von höchster Qualität und packend inszeniert. Selbst an die in der Jetztzeit befremdlich wirkenden Dialoge – Qurbani lässt seine Figuren immer wieder Originalsätze aus dem Roman sprechen – hat man sich rasch gewöhnt. 

FAZIT

Kraftstrotzendes Kino.

Deutschland / Niederlande 2020
183 min
Regie Burhan Qurbani
Kinostart 16. Juli 2020

BENT

Was haben Kinos und Bordelle gemeinsam?
Beide gehören zu den sogenannten „Vergnügungsstätten“ und dürfen deshalb – im Gegensatz zu Theatern und Konzerthäusern – bald wieder aufmachen. Juche!
Die Bundesländer können sich überraschenderweise nicht einigen: Hier gehts am 15. Mai, da drei Tage später und dort erst nach Pfingsten los. Berlin macht sich’s gemütlich und nimmt sich ein bisschen länger Zeit – in der Hauptstadt bleiben die Kinosäle bis 5. Juni verschlossen. Das uneinheitliche Vorgehen ist für Verleiher ein Desaster, denn ein großer Hollywoodfilm wird kaum Bundesland für Bundesland an den Start geschickt. Bis sich dann alle doch noch geeinigt haben, gibt es weiterhin neue Video-on-Demand-Veröffentlichungen: diesmal ein digital restaurierter Klassiker des Queerfilms, „Bent“.

Erstaunlich, wer da alles mitspielt: Mick Jagger, Clive Owen, Nikolaj Coster-Waldau, Ian McKellen und der noch unbekannte Jude Law – in einer winzigen Nebenrolle, „Bent“ wurde 1997 gedreht.

Der homosexuelle Max (Clive Owen) genießt ein rauschhaft dekadentes Leben im Berlin der 30er Jahre. Während des „Röhm-Putsches“ können er und sein Freund Rudi zunächst fliehen, werden aber bald gefasst und verhaftet. Um nicht den rosa Winkel für Homosexuelle tragen zu müssen, lässt sich Max auf dem Weg nach Dachau einen Judenstern geben. Seine Selbstverleugnung geht sogar so weit, dass er seinen Freund auf Geheiß der Nazis tot prügelt.

Im Lager trifft Max auf Horst (Lothaire Bluteau), einen Insassen, der stolz das rosa Dreieck trägt. Die beiden Männer verlieben sich, obwohl ihnen streng verboten ist, miteinander zu sprechen oder sich gar zu berühren. 

Die erste Hälfte des Films hat mit ihren opulenten Partyszenen und Mick Jagger als Dragqueen (!) noch Schauwert, doch spätestens im zweiten Teil kippt „Bent“ in eine seltsame Künstlichkeit. Im Konzentrationslager werden in weißer Kulisse minutenlang Steine von rechts nach links getragen und in gestelzten Dialogen philosophiert. Dass der Film auf einem Theaterstück basiert, merkt man ihm da nur allzu deutlich an. 

FAZIT

Stärker auf der Bühne als auf der Leinwand.

p.s. Sollten die Kinos bis Anfang Juni alle wieder auf sein, kann man sich schonmal auf folgende Filme freuen:
„Exil“ ab 04. Juni
„Undine“ von Chritian Petzold ab 11. Juni
und ab 25. Juni „Berlin Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani

Originaltitel „Bent“
UK / JP 1997
102 min
Regie Sean Mathias
OV mit dt. UT
Ab sofort als VoD bei Club Salzgeber für 4,90 €

BERLIN ALEXANDERPLATZ ● THE ROADS NOT TAKEN ● DAU. NATASHA ● SUK SUK

Liebstes Fotoobjekt bei der Berlinale ist weder Sigourney Weaver noch Johnny Depp, sondern (Tusch!) der geschlossene Vorhang im Kino. Bevor er sich verlässlich zur nächsten Premiere öffnet, werden Hunderte Handys im Saal gezückt, um den wahlweise roten oder weißen Stofflappen digital zu verewigen. Die Bilder werden dann umgehend auf den üblichen sozialen Plattformen gepostet, schließlich sollen die Follower neidisch werden. Aber auf was genau? Jetzt mal ehrlich: Fotos von geschlossenen Vorhängen will keiner sehen! Dann doch lieber hübsche Dackelbilder…

BERLIN ALEXANDERPLATZ

(Wettbewerb)

„Berlin Alexanderplatz“ ist ein Film mit Eiern! Wäre Rainer Werner Fassbinder noch am Leben und würde Alfred Döblins Roman zum zweiten Mal verfilmen – vielleicht käme etwas ähnlich Aufregendes dabei heraus.

In fünf Kapiteln (plus Epilog) erzählt das Drama die düstere Geschichte vom Flüchtling Francis aus Westafrika. Im heutigen Berlin trifft er auf den durchgeknallten Drogendealer Reinhold und die Leben der beiden Männer verbinden sich zu einer verhängnisvollen Schicksalsgemeinschaft. Immer wieder versucht Reinhold, Francis für seine Zwecke einzuspannen, immer wieder widersteht er.  Als sich Franz (so hat ihn Reinhold inzwischen zwecks „Germanisierung“ getauft) in das Escort-Girl Mieze verliebt, verspürt er seit Langem so etwas wie Glück.

„Berlin Alexanderplatz“ wird spalten. Regisseur Qurbani wendet sich mit seiner Verfilmung nicht an die breite Masse. So wie es Menschen gibt, die Freude an einer 3-stündigen Volksbühnen-Inszenierung haben, so wird es (hoffentlich) auch Zuschauer geben, die diesen Film lieben. Andere, die nach 20 Minuten entnervt aus dem Kino fliehen, verpassen einen der interessantesten deutschen Filme der letzten Zeit.

Welket Bungué, Jella Haase, Joachim Król – durchweg großartige Schauspieler. Aber vor allem Albrecht Schuch als Reinhold stiehlt mit seiner Präsenz jede Szene. Der Film glänzt: Kamera, Schnitt, Musik, Ausstattung – das ist alles gekonnt, von höchster Qualität und packend inszeniert. Selbst an die in der Jetztzeit befremdlich wirkenden Dialoge – Qurbani lässt seine Figuren immer wieder Originalsätze aus dem Roman sprechen – hat man sich rasch gewöhnt. 

„Berlin Alexanderplatz“ ist Kunst, filmgewordenes Theater, kraftstrotzendes Kino. Ein ernst zu nehmender Anwärter auf den Goldenen Bären.

Deutschland / Niederlande 2020
183 min
Regie Burhan Qurbani

THE ROADS NOT TAKEN

(Wettbewerb)

Life is not fair. Wenn man wochenlang täglich mehrere künstlerisch wertvolle Arthouse-Filme sieht, wird man zwangsläufig irgendwann müde. Wäre Sally Potters ambitionierter Film doch nur zu Anfang der Berlinale gelaufen!

Leo hingegen ist am Ende – hilflos, sprachlos, apathisch. Er weiß nicht, wer er ist, seine sich liebevoll kümmernde Tochter Molly erkennt er auch nicht mehr. Plötzlich springt die Handlung: Leo ist mit Dolores in Mexiko verheiratet, beide trauern um ihren toten Sohn. Dann wieder ein Sprung: Leo als Schriftsteller auf einer griechischen Insel, der kein Ende für seinen Roman findet.

„The Roads Not Taken“ ist eine Montage verschiedener Parallelentwürfe eines Lebens, die Leo in seinem Kopf durchwandert. Sally Potter vermischt die verschiedenen Versionen, die Leo in sich trägt, mit der entglittenen Realität seines Daseins. Klingt verkopft? Ist es auch. Aber Javier Bardem spielt – was auch sonst? – grandios.

GB 2020
85 min
Regie Sally Potter

DAU. NATASHA

(Wettbewerb)

DAU? Was issn das eigentlich? Laut Google „die scherzhafte Abkürzung für dümmster anzunehmender Besucher“ Nein, das kann es nicht sein. Damen Armband Uhr? Das klingt auch nicht nach Kunst. 
Die ZEIT erklärte im Herbst 2018: „DAU ist der Titel eines Kunst-Größenwahn-Projektes, das aus 700 Stunden Filmrohmaterial besteht, aber weit mehr ist als ein Film, nämlich eine Lebensform, ein Realexperiment, eine Liveinstallation.“

DAU ist also so eine Art gigantisches „Big Brother“-Projekt. Im Falle des Wettbewerbsbeitrags „DAU. Natasha“ eine Simulation des totalitären Systems unter Stalin: Natasha und Olga arbeiten in der Kantine eines geheimen sowjetischen Forschungsinstituts. Hier treffen sich die Angestellten des Instituts und ausländische Gäste wie Luc Bigé. Mit ihm beginnt Natasha eine Affäre – das hat Konsequenzen.

Echte Schläge, echter Sex, echte Kotze – mit einem herkömmlichen Spielfilm hat Ilya Khrzhanovskiys DAU-Projekt wenig zu tun. Die improvisierenden Laiendarsteller geben einen ungeschönten Einblick in die menschliche Psyche. Das ist weniger spektakulär als erwartet, aber auch nicht uninteressant.

Deutschland / Ukraine / GB / Russland 2020
145 min
Regie Ilya Khrzhanovskiy + Jekaterina Oertel

SUK SUK

(Panorama)

Pak steht am Ende seines Berufslebens. Bei der Suche nach anonymem Sex trifft der Taxifahrer auf Hoi. Mit dem Pensionär beginnt er eine zärtliche Liebesaffäre.

Alt, verheiratet, Großvater und schwul. Und das in China, wo Homosexualität von Seiten der Familie und Gesellschaft immer noch stigmatisiert werden.

„Suk Suk“ basiert auf Oral-History-Aufzeichnungen. Die Diskriminierung und Isolation älterer Menschen wird feinfühlig und humorvoll dargestellt. Eine subtile, gut beobachtete Studie, die nur von ihrem kitschigen Soundtrack unterminiert wird.

Hongkong / China 2019
92 min
Regie Ray Yeung