DER BAUER UND DER BOBO

Kinostart 29. September 2022

2014 missachtet eine deutsche Touristin in den österreichischen Bergen die goldenen Top 10 der „Verhaltensregeln für den Umgang mit Weidevieh“ (Absatz 3: Mutterkühe beschützen ihre Kälber, Begegnung von Mutterkühen und Hunden vermeiden!) und muss ihren Fehler mit dem Leben bezahlen. Eine Kuh fühlt sich vom angeleinten Hund der Touristin bedroht und trampelt die Frau zu Tode. Im nachfolgenden Schadensersatzprozess wird der Halter der Kuh zu einer Geldstrafe verurteilt. Richtig so, findet seinerzeit der Journalist Florian Klenk und schreibt einen entsprechenden Artikel im Wiener „Falter“. Das wiederum bringt den Bergbauern Christian Bachler derart auf die Palme, dass er seiner Wut in einem Facebook-Video Luft macht. Frei nach dem Motto: Das bourgeoise Pack in der Großstadt hat eh keine Ahnung und sollte sich mal lieber vor Ort ein Bild vom problematischen Bauerndasein machen. Diese Einladung zum „Praktikum“ nimmt Florian Klenk umgehend an und macht sich auf den Weg zum höchstgelegenen Biobauernhof in der Steiermark.

Besetzung ist das A und O, um mal eine berühmte deutsche Regisseurin zu zitieren. Kurt Langbein hat für seinen lehrreichen und zugleich unterhaltsamen Dokumentarfilm zwei Topcharaktere gefunden: Christian Bachler (der Bauer) hat einen ausgeprägten Sinn für bisweilen derben Humor, trägt sein Herz dabei wahlweise auf der Zunge oder gedruckt auf einem seiner scheinbar unendlich vielen Motto-Shirts. Florian Klenk (der Bobo – österreichischer Slang für einen bourgeoisen Bohemien) ist ein gescheiter Mann, der Bachler mit einer Crowdfundingaktion sogar Haus und Hof retten hilft. Aus den scheinbar gegensätzlichen Männern sind schnell Freunde fürs Leben geworden. Heute kämpfen sie Seite an Seite gegen EU-Regulierungswahnsinn und Klimawandel.

Der ideale Chefredakteur, der die Arbeit aller Mitarbeiter wohlwollend kommentiert und Verbesserungsvorschläge macht, oder die Dorfgemeinschaft, die eine ausgewogene Stammtischdiskussion über das Für und Wider der neuen Zeiten in der Bergwelt führt: Ein paarmal beschleicht einen bei Kurt Langbeins Film das Gefühl, inszenierten Szenen zuzuschauen. Aber manches muss wohl für die Kamera vereinfacht nachgestellt werden. Von diesen kleinen Unstimmigkeiten abgesehen, ist „Der Bauer und der Bobo“ ein mit Leichtigkeit erzählter Film, der empathische Zuschauer trotz aller Komik an der Gier und Ignoranz der Menschheit verzweifeln lassen wird. Es kann gar nicht genug solcher Filme geben.

INFOS ZUM FILM

Österreich 2022
96 min
Regie Kurt Langbein

alle Bilder © 24 Bilder

PETER VON KANT

Kinostart 22. September 2022

François ❤️ Rainer Werner. Nach der kongenialen Verfilmung des Fassbinder-Theaterstücks „Tropfen auf heiße Steine“ (2000) feierte in diesem Jahr Ozons Interpretation des 1972 entstandenen Films „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ Premiere bei der Berlinale.

Peter von Kant ist ein erfolgreicher Filmregisseur und ein echtes Scheusal. Seinen stummen Diener und Assistenten Karl behandelt er wie Dreck. Eines Tages lernt er den jungen Amir kennen. Peter verliebt sich unsterblich in den sexy 24-Jährigen. Er will Amir eine Karriere im Filmgeschäft ermöglichen, lädt ihn ein, bei sich zu wohnen. Neun Monate später ist aus dem schüchternen Jungen ein manipulativer, launischer Star geworden, der sich bald darauf von Peter trennt. Der Regisseur leidet.

„Peter von Kant“ ist ein echter Ozon – stilsicher, artifiziell und ungewöhnlich. Anders als in Fassbinders Film ist hier die Titelrolle männlich besetzt. Das beschert der Geschichte vom cholerischen Filmregisseur eine neue Ebene, denn Peter von Kant ist ganz offensichtlich dem echten Fassbinder nachempfunden. Hanna Schygulla, die auch im Original mitspielt, hat hier einen Gastauftritt als Mutter des Regisseurs. Die Titelrolle ist mit Denis Ménochet besetzt, der bereits zweimal für Ozon vor der Kamera stand.

Dramatisches Theater: François Ozon hat ein etwas zu wortreiches (weniger euphemistisch: geschwätziges), aber ausgezeichnet gespieltes Kammerspiel inszeniert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Peter von Kant“
Frankreich 2021
84 min
Regie François Ozon

alle Bilder © MFA+ FilmDistribution

ATLANTIDE

Kinostart 08. September 2022

Bunt beleuchtete Motorboote fahren mit lauter Musikbeschallung durch nächtliche venezianische Kanäle. Das sieht zwar hübsch aus, ist für die Anwohner aber wahrscheinlich genauso enervierend wie die monströsen Kreuzfahrtschiffe, die bis vor Kurzem viel zu dicht an der Lagunenstadt vorbeiziehen durften. Regisseur Yuri Ancarani hat sich der eigenwilligen Szene aus jungen Männern und ihren Speedbooten drei Jahre lang angeschlossen und einen semi-dokumentarischen Film über sie gedreht.

„Atlantide“ könnte auch als Videoinstallation in einer Galerie oder als visuelle Begleitung einer Trance/Technoparty laufen. Dieser Stil kommt nicht von ungefähr, Yuri Ancarani ist ein italienischer Künstler, der sich komplett einer klassischen  Dramatik verweigert. Damit erinnert sein Film an Arbeiten des US-Regisseurs Larry Clark. Auch hier ist die Handlung eher eine dahingestreute Skizze von Liebe, Sehnsucht und Tod. Weil man es kaum besser beschreiben könnte, hier ein Auszug aus dem Pressetext:

„Dies ist kein Film über Venedig (…), sondern über seine „Backstreets“, die weiten Wasserwege der Lagune. Ancarani findet dort die seltene Schönheit einer kristallklaren Landschaft, die von einer Gruppe junger Leute bewohnt wird, deren Lebensinhalt es ist, Speedboote aufzumotzen und in einem Rhythmus aus Adrenalin und Chill-out zu leben.“

„Im Rhythmus aus Adrenalin und Chill-out leben“! Wer will das nicht? Weniger lyrisch ausgedrückt: „Atlantide“ ist ein audio-visuelles Erlebnis, ein softer LSD-Trip, untermalt von einem treibenden elektronischen Soundtrack, Hip-Hop und symphonischer Orchestermusik. Die stärkste Szene des Films (siehe Trailer unten) zeigt ein junges Mädchen, das im Drogenrausch auf einem Schnellboot durch das nächtliche Venedig gefahren wird und sich dazu ekstatisch bewegt. Aufregender wird es auch in den restlichen 100 Minuten nicht, darauf muss man sich einlassen wollen.
Jetzt noch mal in poetisch: „Atlantide“ ist ein kunstvoller Fiebertraum aus Musik, Licht und Farben.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Atlantide“
Italien / Frankreich / USA / Qatar 2021
104 min
Regie Yuri Ancarani

alle Bilder © Rapid Eye Movies