REIF FÜR DIE INSEL

REIF FÜR DIE INSEL

Ab 30. November 2023 im Kino

LES CYCLADES ist eine französische Komödie mit drei tollen Schauspielerinnen und einem dämlichen deutschen Titel.

Als junge Mädchen sind sie unzertrennlich, doch nach einem Streit verlieren sich Blandine und Magalie aus den Augen. Erst zwanzig Jahre später kommt es zu einem von Balndines Sohn arrangierten Wiedersehen. Die grundverschiedenen Frauen beschließen, auf die griechische Insel Amorgos zu fahren, ein Traum, den sie sich als Fans von Luc Bessons IM RAUSCH DER TIEFE schon als Teenager erfüllen wollten.

Es fängt erstmal ungut an

Für REIF FÜR DIE INSEL muss man Geduld mitbringen. Es fängt erstmal ungut an. Die Musik, die Kamera, die Inszenierung – fast glaubt man sich in einer Traumschiff-Folge auf Französisch verirrt zu haben. Auch die neu erwachte Freundschaft zwischen der völlig überdrehten, von ihren Freunden nicht zu Unrecht „Tinnitus“ genannten Magalie und der nach einer Scheidung verbitterten Blandine wirkt klischeehaft und nicht besonders glaubwürdig. Wären da nicht die herausragenden Schauspielerinnen: Olivia Côte und Laure Calamy bringen trotz alberner Drehbucheinfälle eine Wahrhaftigkeit in ihre Rollen, die Marc Fitoussis Komödie bald zu einer bewegenden Geschichte über Freundschaft macht.

REIF FÜR DIE INSEL ist ein Slowburner. Spätestens mit dem Auftritt von Kristin Scott Thomas als Alt-Hippie mit großem Herzen wird aus der sonnigen Komödie ein überraschend tiefgründiger Film. Getragen von einem fabelhaften Schauspielerinnen-Trio, wechselt die weibliche Buddy-Komödie zwischen sanfter Melancholie und charmanter Leichtigkeit. Hoffentlich funktioniert das auch in der Synchronfassung – der deutsche Peter-Cornelius-Titel lässt schon mal das Schlimmste vermuten.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Les Cyclades“
Frankreich 2023
110 min
Regie Marc Fitoussi

alle Bilder © Happy Entertainment

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AUF DEM WEG

AUF DEM WEG

Ab 30. November 2023 im Kino

Und noch ein Film zum Thema: Männer laufen von A nach B und finden sich dabei selbst. Diesmal wandert Jean Dujardin durch Frankreich.

Spätestens seit Hape Kerkelings Jakobsweg-Reise sehnt sich das Publikum nach Kerlen, die sich in schroffer Natur Erkenntnisse über sich selbst erlaufen. Auch Denis Imberts AUF DEM WEG bietet da inhaltlich wenig Neues. Doch im Vergleich zur verunglückten ICH BIN DANN MAL WEG-Verfilmung ist dieser Trip ein echtes Juwel. In Frankreich wollten das bis jetzt über eine Millionen Zuschauer sehen.

Jean Dujardin ist perfekt als gestrauchelter Macho

„Acht Meter reichten aus, um mir die Rippen, die Wirbel und den Schädel zu brechen. Acht Meter reichten, um 50 Jahre zu altern.“ Jean Dujardin spielt den Schriftsteller Pierre, der nach einer betrunkenen Kletterei aus dem 2. Stock eines Hotels auf die Straße fällt. Die Ärzte sehen zunächst wenig Chance auf Heilung. Ob der passionierte Kletterer jemals wieder laufen kann, ist mehr als fraglich. Doch wäre das so, gäbe es weder Buch noch Film. Gegen jede Diagnose findet Pierre die Kraft, eine 1.300 Kilometer lange Mammutwanderung quer durch Frankreich anzugehen. Sein Weg führt ihn von den südlichen Alpen über das Zentralmassiv bis zur Küste von La Hague.

Ein Traum der Privilegierten – so eine mehrmonatige Auszeit muss man sich finanziell leisten können. Praktisch, wenn man während der Wanderung noch seinem Job nachgehen kann – dass dabei dann ein Bestseller rauskommt – geschenkt. Aus der Fülle der Selbstfindungsfilme (und Bücher) sticht AUF DEM WEG wohltuend heraus. Das liegt vor allem an der Besetzung – Jean Dujardin ist perfekt als gestrauchelter Macho. Auch wenn es schon wieder ein Mann ist, der sich hier auf Seelenreise in die raue Natur begibt. Frauen fahren wohl lieber nach Indien oder gehen in den SPA.

Mit aufs Wesentliche reduzierten Rückblenden und grandiosen Naturaufnahmen entwickelt AUF DEM WEG einen leisen, fast poetischen Sog. Dazu werden aus dem Off die prägnantesten Stellen der Vorlage, Sylvain Tessons Lebenserinnerung „Auf versunkenen Wegen“ gelesen. So ist man dann nach 93 Minuten doppelt belohnt: einen schönen Film gesehen und gleichzeitig ein gutes Buch dazu gehört.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Sur les chemins noirs“ 
Frankreich 2021
93 min
Regie Denis Imbert

alle Bilder © X VERLEIH

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THE OLD OAK

THE OLD OAK

Ab 23. November 2023 im Kino

Regisseur Ken Loach ist 87 Jahre alt und hat keine Geduld mehr. Sein (wahrscheinlich) letzter Film ist nochmals ein Aufruf zu mehr Gemeinschaft und Solidarität.

Gelsenkirchen könnte auch in Großbritannien liegen. Easington ist eine dieser typisch nordenglischen Kleinstädte, die früher dank Bergbau mit Leben und harter Arbeit erfüllt waren, nun aber nach 30 Jahren des Niedergangs zu Geisterstädten verkommen. Es gibt keine Jobs, die Häuser verfallen oder werden zu Schleuderpreisen an Investoren verscherbelt. Der letzte Zufluchtsort für die, die den Absprung nicht geschafft haben, ist der lokale Pub „The Old Oak“. Dessen Wirt TJ Ballantyne (Dave Turner) hat selbst einige Schicksalsschläge erlebt, bei den verbitterten Tiraden seiner Stammgäste schaltet er deshalb lieber auf Durchzug. Als eines Tages unter dem Protest der Dorfbewohner eine große Gruppe syrischer Flüchtlinge in Easington eintrifft, ist die Aufregung und Ablehnung groß.

Ein Loblied auf die Arbeiterklasse

THE OLD OAK erzählt von der ungewöhnlichen platonischen Beziehung zwischen dem depressiven Pub-Besitzer TJ und der jungen, fotobegeisterten Syrerin Yara (Ebla Mari). Ganz langsam entwickelt sich eine zarte Freundschaft zwischen den beiden. Wahrhaftig und authentisch gespielt von Dave Turner und Ebla Mari, die hier ihr Filmdebüt gibt.

Ken Loach war und ist ein Meister im Darstellen des englischen Arbeitermilieus. So ist auch sein neuer – und nach eigener Aussage letzter – Film ein Loblied auf Gemeinschaftsgeist und die Arbeiterklasse. THE OLD OAK fügt sich damit nahtlos in das Lebenswerk des Regisseurs ein.

Keine Jobs, keine Perspektive, vergessen  und von der Regierung fallengelassen: Die Probleme der britischen Einheimischen und der syrischen Flüchtlinge sind sich gar nicht so unähnlich. Loachs Leidenschaft und sein Mitgefühl für diese Menschen sind aufrüttelnd und eindringlich. Dass der Regisseur nach einer fast 60-jährigen Karriere die Geduld verloren hat und deshalb seine Botschaften mit dem Holzhammer vermittelt, sei ihm verziehen. Nur das Ende geht dann doch zu weit und ist purer Sozialkitsch. Bis dahin ist OLD OAK ein bewegendes Drama über Verlustangst und die Schwierigkeit, die Hoffnung zu behalten. Das sehenswerte Alterswerk eines kompromisslosen und bemerkenswerten Regisseurs.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Old Oak“
Großbritannien / Frankreich 2023
113 min
Regie Ken Loach

alle Bilder © WILD BUNCH GERMANY

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NAPOLEON

NAPOLEON

Ab 23. November 2023 im Kino

Kino, wie es sein soll: episch, spannend, lustig und lehrreich. Ridley Scotts neues Meisterwerk zeigt den französischen Kaiser, wie man ihn noch nie zuvor gesehen hat.

Stolze 85 Jahre alt ist Ridley Scott und er kann’s noch immer. Mit NAPOLEON ist dem britischen Regisseur erneut ein großer Wurf gelungen. Dass das alles toll aussieht und die Schlachtszenen bombastisch sind, versteht sich fast von selbst. Schließlich hat der Mann mit ALIEN, BLADE RUNNER und GLADIATOR ganze Genres neu erfunden oder zumindest jahrzehntelang geltende Maßstäbe gesetzt.

Trotz der blutigen Schlachtszenen fast eine Komödie

Joaquin Phoenix ist die perfekte Besetzung und spielt den französischen Feldherrn und Kaiser als souveränes, rücksichtsloses Genie – zumindest wenn es um Kriegsführung geht. Im Privaten ist seine Hoheit dagegen das Gegenteil eines Genies. Unbeholfen, albern und dabei schwer in Josefine verliebt (fabelhaft: Vanessa Kirby). Von der Liebe seines Lebens, die ihm 15 Jahre (nicht immer) treu zur Seite steht, lässt sich Napoleon wegen ausgebliebener Nachkommen scheiden.

Überraschung: NAPOLEON ist trotz der blutigen Schlachtszenen fast eine Komödie. Mindestens aber ein historisches Drama mit komischen Elementen. Kleine Missgeschicke, absurde Dialoge und ein sich oft gar nicht kaiserlich verhaltender Kaiser sorgen für Lacher. Überhaupt ist Scott eine ausgesprochen kurzweilige (bei 157 Minuten Laufzeit) und lehrreiche Geschichtsstunde gelungen. Höhepunkt ist die Schlacht von Austerlitz, in der die französische Armee die Streitkräfte Russlands und Österreichs dank Napoleons strategischem Geschick auf dem Schlachtfeld auslöscht. Selten genug in Historienfilmen: Man versteht die Zusammenhänge und geht klüger aus dem Kino.

Ridley Scotts vielleicht nicht 100 % historisch korrekte Version des Lebens von Napoleon Bonaparte hätte noch reichlich weitere Lobeshymnen verdient. Zum Beispiel, dass Joaquin Phoenix auf einen falschen (französischen) Akzent verzichtet – Scotts HOUSE OF GUCCI wurde wegen übertriebenen Englisch-Italienisch-Kauderwelschs zur unfreiwilligen Komödie. Aber vor allem ist NAPOLEON für die große Leinwand gemacht. Apple hat den Film zwar finanziert und früher oder später wird er auf Apple TV+ laufen – aber vorher sollte man sich NAPOLEON unbedingt im Kino anschauen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Napoleon“
USA / England 2023
157 min
Regie Ridley Scott

alle Bilder © Sony Pictures

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THANKSGIVING

THANKSGIVING

Ab 16. November 2023 im Kino

Ein Riesenspaß für Groß und Klein ist THANKSGIVING nicht. Dafür ein Fest für Splatterfans.

Nach Horror-Weihnachten, Horror-Ostern und Horror-Halloween ist jetzt der nächste Feiertag dran: das amerikanische Erntedankfest „Thanksgiving“. Der Schrecken beginnt mit einem komplett aus dem Ruder gelaufenen „Black Friday“: Wie eine Horde fleischhungriger Zombies stürmt der Plebs ein Kaufhaus, nur weil Gratis-Waffeleisen winken. Voll cheugy, so ein Verhalten. Der Konsumrausch endet mit zahlreichen Verletzten und Toten. Genau ein Jahr nach der Katastrophe meuchelt ein als Pilgervater maskierter Killer die vermeintlich Verantwortlichen nieder.

Besonders garstige Tötungsszenen

Na gut. Die Ausgangsidee mit dem Maske tragenden Serienmörder, der vorzugsweise Teenager jagt, ist so abgedroschen, dass selbst Persiflagen darauf abgedroschen sind. Trotzdem schafft es Regisseur Eli Roth, dem Genre frisches Blut einzupumpen. Und sei es nur durch besonders garstige Tötungsszenen. Nach dem Film wird man jedenfalls nie mehr den Festtags-Truthahn ohne mulmiges Gefühl essen.

Auch besser als der übliche Splatter-Durchschnitt: Die Charaktere sind nicht komplett austauschbar und der Killer bleibt kein gesichtsloser Untoter wie Jason und Michael Myers, sondern lässt am Ende die Maske fallen. Dazu ein bisschen Sozialkritik, viel Schock und Blut, das Ganze mit einer angemessenen Portion Humor serviert – THANKSGIVING ist kein Meisterwerk, aber ein solides Stück Horrorkino mit immerhin Patrick Dempsey, dem gerade vom People-Magazin gekürten „Sexiest Man Alive“, in einer Hauptrolle.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Thanksgiving“
USA 2023
106 min
Regie Eli Roth

alle Bilder © Sony Pictures

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DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES

DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES

Ab 16. November 2023 im Kino

Und noch eine Fortsetzung: Das Prequel zu einer Trilogie, die schon in vier Teile zerdehnt war. Hat die Menschheit wirklich auf die Vorgeschichte zu den Hunger Games gewartet?

Erstmal: dett is nich meen Berlin! Wieso Berlin? Als es den Babelsberger Filmstudios noch gut ging und diverse Streiks nicht die halbe Industrie lahmlegten, wurde die US-Produktion DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES zu großen Teilen in der deutschen Hauptstadt gedreht – und das sieht man. Szenenbildner Uli Hanisch hat vom Olympiastadion über den Strausberger Platz bis zum Krematorium Baumschulenweg (werden da eigentlich auch noch Bestattungen durchgeführt oder nur noch Filme gedreht?) diverse Motive in beeindruckende Endzeit-Settings umgebaut. So macht der Film vor allem Berlinern Laune beim heiteren Locationraten.

Fühlt sich wie die komplette Staffel einer Serie an

Basierend auf der Bestseller-Reihe von Suzanne Collins werden „Die Tribute von Panem“-Kinofilme weiter ausgeschlachtet. Nachdem Regisseur Lawrence kürzlich selbst zugab, dass das Splitten des dritten Films in zwei Teile „ein schwerer Fehler“ gewesen sei, geht es nun mit dem fünften beziehungsweise ersten Prequel-Teil weiter. Die Vorgeschichte der gefürchteten Hungerspiele stellt den jungen Coriolanus (Tom Blyth) in den Mittelpunkt, lange bevor er zum Präsidenten von Panem wird (in Teil eins bis vier von Donald Sutherland gespielt). Als Sprössling einer einst vermögenden Familie wird er zum Mentor von Lucy Gray (Rachel Zegler) ernannt, einem Mädchen aus dem verarmten Distrikt 12. Schnell wittert er seine Chance, Familienehre und Macht zurückzuerlangen.

Bis in die Nebenrollen hochkarätig besetzt: Oscarpreisträgerin Viola Davis goes full camp als Dr. Volumnia Gaul. Trotz aufgeplatzter Sofakissen-Frisur und grellem Make-up ist sie weniger furchteinflößend, als sie es hätte sein wollen und lässt dabei die Grenzen zum overacting weit hinter sich. Ausgezeichnet dagegen: Jason Schwartzman als schmieriger Showmoderator und der immer herausragende Peter Dinklage in der Rolle des tragischen Antihelden. Nach THE MARVELS trällert es auch in den Tributen gewaltig. Noch ein Actionspektakel, in dem gesungen wird. Man fragt sich, was das soll. Rachel Zegler hat zwar eine hübsche Stimme (schließlich war sie die Maria in Steven Spielbergs WEST SIDE STORY), aber das Gejodel wirkt in einem dystopischen Jugendfilm völlig fehl am Platz.

DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES. Langer Titel, langer Film. Der in drei Kapitel unterteilte 157-Minuten-Film fühlt sich wie die komplette Staffel einer Serie an. Vor allem der letzte Akt könnte glatt ein eigener Spielfilm sein. Fortsetzung folgt. Garantiert.

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Originaltitel „The Hunger Games: The Ballad of Songbirds & Snakes“
USA 2023
157 min
Regie Francis Lawrence

alle Bilder © LEONINE Studios

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VIENNA CALLING

VIENNA CALLING

Ab 16. November 2023 im Kino

Ein Blick in die aufregende Wiener Underground Kulturszene. Hat außer dem Titel nichts mit dem gleichnamigen Falco-Hit zu tun.

Obwohl, ein bisschen schwebt der Geist des vor 25 (!!) Jahren verunfallten Sängers immer noch über allem. Und sei es nur, wenn sich „Nino aus Wien“ die Haare bei Falcos Stammfriseur schneiden lässt. „Nino aus Wien“? Nie gehört? Wer glaubt, „Wanda“ oder „Bilderbuch“ seien underground, der hat keine Ahnung.

Schön schräg, sehr lässig

„Wenn die Welt einmal untergehen sollte, ziehe ich nach Wien, denn dort passiert alles 50 Jahre später“ – spottet Gustav Mahler einst über seine Wahlheimat. Ein bisschen was ist dran, denn die morbiden Locations der Party- und Konzertszene im heutigen Wien erinnern an das frisch mauergefällte Berlin Anfang der 90er-Jahre. Mittendrin der Partyorganisator Samu Casata, der wie zur Nachwendezeit Locations in verborgenen Tunnelsystemen und alten Fabrikhallen organisiert. Um ihn scharen sich Maler, Rapper und Liedermacher, der hierzulande bekannteste davon dürfte Voodoo Jürgens sein. Wem auch das nichts sagt, egal. VIENNA CALLING ist ein kurzweiliger Nachhilfekurs in Sachen aktuelle Wiener Musikszene.

Der Journalist und Filmemacher Philipp Jedicke stammt aus Deutschland und schafft es trotzdem, tief in das magische Nachtleben der österreichischen Hauptstadt einzutauchen. Sein Film ist keine klassische Doku, eher ein poetisches Doku-Musical. Dass sich ausgerechnet ein Piefke an den Schmäh herantraut, sorgt für ironische Kommentare eines der Protagonisten, Wien sei „in Wahrheit eine Art Disney-Land, das nur für die Deutschen so tut als ob“. Neben Brautkleidshopping mit der nichtbinären Sängerin Kerosin95, gibt es reichlich Skurrilitäten, wie zum Beispiel eine Unterhaltung zwischen zwei Kettenrauchern zum Thema Sport und Altern. Dazwischen Songs, zu denen der Regisseur und sein ausgezeichneter Kameramann Max Berner videoclipartige Filmsequenzen inszenieren. VIENNA CALLING: Schön schräg, sehr lässig.

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Österreich / Deutschland 2023
85 min
Regie Philipp Jedicke

alle Bilder © mindjazz pictures

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HÖR AUF ZU LÜGEN

HÖR AUF ZU LÜGEN

Ab 16. November 2023 im Kino

Eine traurige, aber unsentimentale Geschichte über die Zwänge der Moral – und deren Überwindung.

„Hör auf zu Lügen“, mahnt seine Mutter ihn. Dabei erfindet der junge Philippe Besson einfach nur gerne Geschichten. Er beobachtet fremde Menschen auf der Straße und fantasiert ihr Leben. Zu lügen hilft ihm, ehrlich zu sich selbst zu sein. Denn Philippe mag Jungs und das ist in einer kleinen französischen Provinz in den 1970er-Jahren ein echtes Problem. Im autobiografischen Roman „Hör auf zu Lügen“ erzählt Philippe Besson von seiner Jugendliebe.

Ein sehenswerter LGBTQ-Film

In Buch und Film heißt das Alter Ego des Schriftstellers Stéphane, ist 17 Jahre alt und schwer verliebt. Er fühlt sich von seinem Klassenkameraden, einem hübschen und bei den Mädchen beliebten Winzerssohn, angezogen und ist mehr als überrascht, als dieser sein Interesse erwidert. Thomas wird seine erste große Liebe. Doch diese Liebe muss im Verborgenen bleiben, denn Thomas verleugnet seine sexuelle Identität. Jahrzehnte später kehrt der inzwischen erfolgreiche Autor Stéphane zum ersten Mal seit seiner Jugend in sein Heimatdorf zurück. Kurz nach seiner Ankunft lernt er Lucas (Victor Belmondo) kennen und erfährt, dass der junge Mann der Sohn seiner großen Liebe Thomas ist. Eine Begegnung, die alte Wunden aufreißt.

Gerade das Buch zu Ende gelesen, schon kommt die Verfilmung in die Kinos. Was natürlich reiner Zufall ist, denn „Hör auf zu Lügen“ („Arrête avec tes mensonges“) hat Philippe Besson schon 2017 veröffentlicht. Wie das immer so ist, wenn die Zeit zwischen Lesen und Filmsehen zu kurz ist  – das Buch ist überlegen. Das hat man sich ganz anders vorgestellt – Regisseur Olivier Peyon erfindet Figuren dazu, verzichtet auf eine der drei Zeitebenen und gönnt seiner Hauptfigur mit einer leidenschaftlich vorgetragenen Rede ein unnötig versöhnliches, etwas kitschiges Ende.

Und trotzdem: HÖR AUF ZU LÜGEN lohnt sich. Das liegt vor allem an der zeitlosen, schnörkellos erzählten Geschichte und der Besetzung. Während die beiden jugendlichen Figuren in den Rückblenden eher blass bleiben, sind es besonders Guillaume de Tonquédec als älterer Stéphane Belcourt (aka Philippe Besson) und Victor Belmondo (unverkennbar der Enkel von Jean Paul), die die tragische Liebesgeschichte sehenswert machen. Buch wie Film sind ein Ersatz-Abschiedsbrief für den echten Thomas Andrieu, der sich 2016 das Leben nahm und Familie und Freunde ratlos zurückließ.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Arrête avec tes mensonges“
Frankreich 2022
98 min
Regie Olivier Peyon

alle Bilder © 24 Bilder

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THE QUIET GIRL

THE QUIET GIRL

Ab 16. November 2023 im Kino

Der schönste „Stummfilm“ aller Zeiten spricht gälisch und in kleinen Gesten.

Die typisch irisch-katholische Sippe hat so viele Kinder, dass sie sogar eines davon ausleihen kann, zumal bereits das nächste ins übervölkerte Haus steht. Und so erhält Cáit, die Außenseiterin der Familie, die Chance auf einen Sommer bei entfernten Verwandten, der ihr Leben grundlegend verändern wird.

Künftiger Klassiker des Europäischen Films

Auf der Autofahrt in die kleine Küstenstadt erlebt der Zuschauer die Reise mit den Augen der Neunjährigen – Kippen im Ascher, die Schulter des Vaters (Michael Patric), Stromleitungen am Straßenrand – und ist am Ziel ebenso baff über die ungewohnt herzliche Begrüßung ihrer Tante Eibhlín (Carrie Crowley), die sie von da an liebevoll und geduldig in die kleinen Alltäglichkeiten des neuen Zuhauses einführt. Eher wortkarg zeigt sich zunächst ihr Ehemann Seán (Andrew Bennett), mit dem das scheue Mädchen aber bald eine ganz besondere Art der Kommunikation entwickelt, in der ein Keks mehr als 1000 Worte sagt und der tägliche Lauf zum Briefkasten zum Akt der Selbstfindung wird. Doch selbst in dieser sonnigen Idylle auf Zeit gibt es Schatten der Vergangenheit.

Dass „Das stille Mädchen“ nicht zwangsläufig in ein schnödes Disney Finale gipfelt, ist nur eine seiner vielen schönen Eigenheiten. Als kulturelle Besonderheit kann gelten, dass er komplett in irischer Sprache gedreht wurde (was ausnahmsweise für die deutsche Synchronisation spricht) und war natürlich der irische Oscar-Beitrag 2023 in der Kategorie Bester Internationaler Film.

Das tiefgründige, berührende Drama basiert auf einer Kurzgeschichte von Claire Keegan, die 2010 als „Best of the Year“ im New Yorker veröffentlicht wurde. Und ist unglaublicherweise das Spielfilmdebüt sowohl von Regisseur Colm Bairéad als auch für seine überragende Kinderdarstellerin Catherine Clinch in der Titelrolle der Cáit, die mit THE QUIET GIRL heimlich, still und leise einen künftigen Klassiker des Europäischen Films erschaffen haben.

Text: Anja Besch

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „An Cailín Ciúin“
Irland 2022
95 min
Regie Colm Bairéad

alle Bilder © Neue Visionen

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THE MARVELS

THE MARVELS

Ab 08. November 2023 im Kino

Eine Fortsetzung, nach der niemand gefragt hat, allgemeine Superhelden-fatigue, keine Promo dank Streik: Die Voraussetzungen sind denkbar schlecht - wird THE MARVELS der erste große Flop der Marvel-Studios?

An der Kinokasse dürfte es das neue MCU-Abenteuer nicht leicht haben. Mittlerweile muss man als Zuschauer eine Menge Vorkenntnis mitbringen, um der zusehens verworrenen Figurenkonstellation aus diversen Multiversen folgen zu können. Achtung Fachchinesisch: Captain Marvel, Ms. Marvel und Captain Rambeau retten gemeinsam das Universum. Die Drei kennen Eingeweihte aus den TV-Serien WANDAVISION, SECRET INVASION, MS MARVEL und natürlich dem ersten Teil des Kinofilms CAPTAIN MARVEL.

Schaut sich so weg

Body-Swap-Komödie, Science-Fiction-Abenteuer und Superheldinnenfilm. THE MARVELS ist ein durchwachsenes Vergnügen. Schaurig-schlecht: ein Musicalplanet, auf dem die Bewohner den ganzen Tag schmalzige Lieder singen und sich dabei in Kostüme aus dem Fundus einer zweitklassigen Las-Vegas-Show kleiden. Das ist Disney at it‘s worst. Und leider nicht mal originell, sondern nur cringe. Sehr schön dagegen: eine unvergessliche Katzenszene, die bei Ailurophobikern nacktes Grauen auslösen wird. Und natürlich die Post-Credit-Szene, die auf ein von Fans heiß ersehntes neXt Chapter im MCU verweist.

Brie Larson hat mal einen Oscar gewonnen. Für THE ROOM, die wenigsten erinnern sich. Höchstwahrscheinlich ist sie also eine ganz gute Schauspielerin. Bei ihren Marvel-Auftritten versteckt sie das gekonnt und sieht aus, als hätte sie sich ans Set eines Films verlaufen, der sie nicht im geringsten interessiert. Zu ihrem und unserem Glück stehen ihr diesmal mit Teyonah Parris und Iman Vellani zwei spielfreudigere Partnerinnen zur Seite.

Lobenswerterweise setzen die Marvel-Studios weiterhin auf junge Talente und Frauenpower. Viele der Schlüsselpositionen wie Kamera und Musik sind weiblich besetzt. Das Drehbuch haben Megan McDonnell und Elissa Karasik gemeinsam mit der erst 33-jährigen Regisseurin Nia DaCosta geschrieben.

THE MARVELS ist ein typischer MCU-Superheldenfilm, wie sie in den letzten Jahren haufenweise in die Kinos geschwemmt wurden, nur eben etwas weiblicher und vielleicht ein bisschen lustiger. Eine gute Nachricht: Der Film dauert erträgliche 105 Minuten. Das schaut sich so weg. Technisch State of the Art, immer noch besser als vieles, was DC produziert, aber leider auch nichts weltbewegend Neues. Die goldenen Zeiten von IRON MAN und THE AVENGERS sind wohl endgültig vorbei.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Marvels“
USA 2023
105 min
Regie Nia DaCosta

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

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