BERLINALE 2023 – FINALE

BERLINALE 2023 – FINALE

Zeit für ein Fazit:
Frauen rauchen im Kino wie die Schlote (Golda, Ingeborg, etc.).
THE PLAYCE ist abscheulich.
Die S-Bahn fährt wieder.
Statt Schnee war Regen.
Baustellen sind kein Ersatz für Glamour.
Der diesjährige Wettbewerb hatte so viel anstrengendes Arthousekino wie noch nie.
Framerate hätte TÓTEM oder ROTER HIMMEL den goldenen Bären gegönnt.
Und tatsächlich gewonnen haben:

Goldener Bär FILM

Nicolas Philibert - SUR L'ADAMANT

Auch ein Dokumentarfilm unterliegt gewissen dramaturgischen Gesetzen und steht und fällt mit seinem Cast. Und der ist auf der Adamant leider nicht besonders interessant. Philiberts schlicht gemachter Film über das Narrenschiff bietet wenig Erhellendes für den Zuschauer. Der viel bessere Film mit (echten) Verrückten lief in der Sektion Generation: WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

Silberner Bär GROSSER JURYPREIS

Christian Petzold - ROTER HIMMEL

Im extra trüben Wettbewerb leuchtet ROTER HIMMEL besonders hell. Wie schon in UNDINE platziert Petzold moderne Charaktere in ein märchenhaftes Setting. Leichte Komödie mit Tiefgang.

Silberner Bär JURYPREIS

João Canijo - MAL VIVER

In dem 127 Minuten langen Filmjuwel aus Portugal giften sich fünf unsympathische Frauen in einem leer stehenden Hotel an. Am Ende sind alle tot. Leider ganz ohne Witz oder wenigstens Camp erzählt.

Silberner Bär REGIE

Philippe Garrel - LE GRAND CHARIOT

Schon interessant, wie man nach ein paar Tagen Berlinale einen Film über ein Puppentheater als beinahe mainstreamig wahrnimmt. Geballtes Arthouse in all seinen Schattierungen hinterlässt eben seine Spuren im Hirn.

Silberner Bär HAUPTROLLE

Sofía Oter - 20.000 SPECIES OF BEES

Das Featuredebüt der Spanierin Estibaliz Urresola Solaguren ist ein netter Kinderfilm mit reizender Besetzung und lobenswertem Anliegen. Die Nichthandlung vom Jungen, der ein Mädchen sein möchte, hätte sich locker in einem Drittel der Zeit wegerzählen lassen.

Silberner Bär NEBENROLLE

Thea Ehre - BIS ANS ENDE DER NACHT

Die bemühte Liebesgeschichte zwischen schwulem Cop und Transfrau bleibt von der ersten bis zur letzten Minute unglaubwürdig. Thea Ehres laienhaftes Spiel wurde mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.

Silberner Bär DREHBUCH

Angela Schanelec - MUSIC

Echtes Kopfkino. Im Sinne von: total verkopft. Der silberne Bär für das beste Drehbuch. Ausgerechnet für einen Film, den wirklich niemand versteht.

Silberner Bär KAMERA

Hélène Louvart - DISCO BOY

DISCO BOY ist ein verfilmter Fiebertraum. Es ist alles seltsam im Langfilmdebüt des italienischen Regisseurs Giacomo Abbruzzese. Aber seltsam heißt in diesem Fall gut.

BERLINALE 2023 – TAG 9

BERLINALE 2023 – TAG 9

Frei nach Heribert Faßbender: „Sie sollten die Berlinale nicht zu früh abschalten. Es kann noch schlimmer werden.“ Machen wir uns nicht länger was vor, Carlo Chatrian verfolgt als künstlerischer Leiter einen perfiden Plan: Er will aus dem ehemalige A-Festival ein Autorenfilmfestival machen. Wie er das anstellt? Ganz einfach: Filme, die bisher in der unschaubaren Sektion Forum liefen, werden jetzt im Wettbewerb gezeigt. Man kann nur hoffen, dass der allgemeine Frustaufschrei über die fortschreitende Verkopfung nicht ungehört bleibt. Rettet die Unterhaltung!

WETTBEWERB

BIS ANS ENDE DER NACHT

Der Pressetext macht Angst: „Ein gewiefter Plot, der pures Oszillieren ist. Ein geistreiches Vexierbild des Emo-Intellekts. Ein Film wie eine Möbiusschleife aus Genre- und Autorenkino.“
Komplizierte Worte für eine einfache Geschichte: Robert ist verdeckter Ermittler. Über die fingierte Beziehung mit der Transfrau Leni soll er das Vertrauen eines Internet-Drogenhändlers gewinnen.

BIS ANS ENDE DER NACHT enttäuscht auf mehreren Ebenen. Die bemühte Liebesgeschichte zwischen dem schwulen Cop und Leni bleibt von der ersten bis zur letzten Minute unglaubwürdig. Es mag an der mangelnden Chemie oder dem laienhaften Spiel von Thea Ehre liegen. Auch als Krimi ist es nur durchschnittliche Tatortware. Ein paar witzige Dialoge gehen in peinlichen, tiefsinnig gemeinten Beziehungsgesprächen unter. Positiv zu vermerken an Christoph Hochhäuslers oszillierender Möbius-Emo-Schleife: Sie hat mehr Handlung als alle anderen Wettbewerbsfilme zusammen und Timocin Ziegler ist sehr überzeugend als harter Bulle mit weichem Kern.

Deutschland 2023
123 min
Regie Christoph Hochhäusler 
Bild © Heimatfilm

WETTBEWERB

ART COLLEGE 1994

Die Kraft der Suggestion: Wenn alle, die ihn schon gesehen haben, behaupten, ART COLLEGE 1994 sei der schlechteste Film im Wettbewerb, dann sind die Erwartungen in den Keller geschraubt. Aber Überraschung: Liu Jians 2D-Zeichentrickfilm über ein paar Slacker im China der frühen 90er-Jahre ist besser als gedacht.

Es ist der zweite Zeichentrickfilm in diesem Wettbewerb. Während SUZUME ein echter crowd pleaser mit bunten Bildern und überwältigender Tonspur ist, erinnert ART COLLEGE 1994 eher an eine Fingerübung des Slackerspezialisten Richard Linklater, nur eben auf Chinesisch.

Der Filmemacher und Maler Liu Jian erzählt von seiner eigenen Jugend zu einer Zeit, als sich das Reich der Mitte langsam dem Westen öffnet. Ein Film von einem ehemaligen Kunststudenten über Kunststudenten? Klar, das ist schon sehr selbstreferenziell. Und nach einer Stunde beginnt sich die ereignislose Handlung mit Dialogen über Existenzialismus, das Leben und Mädchen zu ziehen. Zum Glück wurde ART COLLEGE 1994 im ungemütlichen Berlinale Palast gezeigt und nicht im herrlich bequemen CinemaxX. Sonst wäre man vielleicht doch noch weggeratzt.

China 2023
118 min
Regie Liu Jian
Bild © Nezha Bros. Pictures Company Limited, Beijing Modern Sky Culture Development Co., Ltd

WETTBEWERB

SUR L’ADAMANT

Dokumentarfilme haben im Wettbewerbsprogramm Tradition, 2018 gewann TOUCH ME NOT sogar den Goldenen Bären. Im besten Fall entlässt eine gut gemachte Doku den Zuschauer ein bisschen schlauer in die Welt. Dass seit 2010 mitten in Paris ein Schiff auf der Seine ankert, auf dem psychisch Kranke behandelt werden – wer hätte es gewusst? In seiner Langzeitbeobachtung lässt Regisseur Nicolas Philibert die Patienten der Tagesklinik zu Wort kommen.

Auch ein Dokumentarfilm unterliegt gewissen dramaturgischen Gesetzen und steht und fällt mit seinem Cast. Und der ist auf der Adamant leider nicht besonders interessant. Philiberts schlicht gemachter Film über das Narrenschiff bietet wenig Erhellendes für den Zuschauer. Wem der Sinn nach echtem Wahnsinn steht, dem sei ein Spaziergang durch Berlins Straßen an jedem x-beliebigen Tag empfohlen.

Frankreich / Japan 2022
109 min
Regie Nicolas Philibert
Bild © TS Production / Longride