DIE UNWAHRSCHEINLICHE PILGERREISE DES HAROLD FRY

DIE UNWAHRSCHEINLICHE PILGERREISE DES HAROLD FRY

Ab 26. Oktober 2023 im Kino

Ein alter Brite macht sich auf die Reise quer durchs Land, trifft dabei auf viele freundliche Menschen und findet sich am Ende selbst.

Wem das bekannt vorkommt, der hat vielleicht im vergangenen Jahr DER ENGLÄNDER, DER IN DEN BUS STIEG UND BIS ANS ENDE DER WELT FUHR gesehen. Gleiche Geschichte, gleiches Setting, fast gleicher Film. Nur eben per pedes und nicht im Bus.

Kluge Ratschläge, Gästezimmer und Blasenpflaster

Harold Fry (Jim Broadbent) erfährt eines Tages, dass seine alte Freundin Queenie im Sterben liegt. Er schreibt ihr einen Brief, verlässt sein Haus, geht zum Postamt und hört nicht auf zu gehen. Er läuft einfach weiter, bis zu dem 450 Meilen entfernten Hospiz. Den Pensionär auf Sinnessuche spielt der ausgezeichnete Jim Broadbent, seine Gattin Maureen ist mit der aus Downton Abbey bekannten Penelope Wilton besetzt. Die Besetzung ist fabelhaft (Nick Caves Sohn Earl spielt den gepeinigten Sohn des Ehepaars) und im Gegensatz zum busfahrenden Engländer sieht DIE UNWAHRSCHEINLICHE PILGERREISE DES HAROLD FRY auch noch richtig gut aus. Kamerafrau Kate McCullough arbeitet viel mit Unschärfen und hübschem Morgenlicht.

Allerdings nervt das Gutmenschentum – auf seiner Reise durch England begegnet Harold ausschließlich warmherzigen Mitmenschen, die ihm mit klugen Ratschlägen, Gästezimmern und Blasenpflastern zur Seite stehen. Sei’s drum, Sinn und Zweck solcher Filme ist es ja, dass man mit einem positiven Gefühl aus dem Kino geht. Nur am Ende wird’s richtig peinlich: Da fällt ein göttliches Licht auf all diejenigen, die Harold zuvor auf seiner Reise getroffen, beziehungsweise „erleuchtet“ hat. Die plumpe Spiritualität ist unnötig und hinterlässt einen schalen Geschmack.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Unlikely Pilgrimage of Harold Fry“
GB 2023
108 min
Regie Hettie Macdonald

alle Bilder © Constantin Film

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ALL THE BEAUTY AND THE BLOODSHED

ALL THE BEAUTY AND THE BLOODSHED

Ab 25. Mai 2023 im Kino

Dok-Film über die Leiden der Starfotografin Nan Golding

Ihr Leben beginnt furchtbar und wird von da an immer schlimmer. Der Selbstmord der depressiven Schwester. Das Schweigen der Eltern. Der Lebensgefährte, der sie fast totschlägt. Die zahllosen Freunde, die ab den 1980er-Jahren der AIDS-Epidemie zum Opfer fallen. Dazwischen Jobs als Tänzerin in einem Stripclub, später als Prostituierte in einem Puff.

Sie ist ein Star in der modernen Kunstwelt

Der Titel legt es nahe: Neben Schönheit ist Blutvergießen das bestimmende Thema in Nan Goldings Leben. Die amerikanische Fotografin ist ein Star in der modernen Kunstwelt. Verwurzelt in der New Yorker No-Wave-Underground-Bewegung, hat sie die Fotografie revolutioniert. Mit ihrem herausragenden Gespür, den richtigen Moment einzufangen, widmen sich ihre Arbeiten Themen wie Sexualität, Sucht und Tod – voll schonungsloser Direktheit. 

Der Medikamentenhersteller Purdue Pharma treibt seit Mitte der 90er-Jahre Millionen Amerikaner in die Sucht. Eine davon: Nan Goldin. Nach einer Operation wird sie vom Schmerzmittel Oxycontin abhängig. Im Gegensatz zu vielen anderen schafft sie den Ausstieg. Seitdem setzt sie sich unermüdlich als Aktivistin gegen die Familie Sackler ein, die als Besitzer von Purdue Pharma maßgeblich für die Opioid-Epidemie verantwortlich ist (mehr dazu in der herausragenden Miniserie DOPESICK). Allerdings zählen die Sacklers auch zu den bedeutendsten Mäzenen weltweit, auf deren Unterstützung viele Künstler angewiesen sind. Das hält Golding aber nicht davon ab, durch couragierte Aktionen bekannte Museen dazu zu bringen, sich von den Sacklers zu distanzieren.

Sucht, Krankheit, Tod: Regisseurin Laura Poitras konzentriert sich in ihrem Dokumentarfilm stark auf Nan Goldings Leidensstationen, die Arbeiten der Fotografin bleiben fast Nebensache. So viel geballtes Unglück erfordert Durchhaltevermögen, auch vom Zuschauer.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „All the Beauty and the Bloodshed“
USA 2022
117 min
Regie Laura Poitras

alle Bilder © PLAION PICTURES

Bird Box

Bird Box erzählt von einer – wieder mal – dystopischen Zukunft: Eine unbekannte Macht treibt alle Menschen, die sie zu Gesicht bekommen, in den spontanen Selbstmord. Diese Macht ist überall, niemand kann ihr entkommen. Nur Innenräume mit zugeklebten Fenstern bieten Schutz, oder einfach die Augen zu machen. Das ist zwar nicht unbedingt logisch, aber Logik ist sowieso nicht die Stärke von Bird Box.

Zu Beginn des Films besteigt Malorie, gespielt von Sandra Bullock, die immer mehr Michael Jackson in seiner ausoperierten Endphase ähnelt, mit zwei Kindern ein Boot (alle mit verbunden Augen, um sich vor dem Anblick der todbringenden Macht zu schützen). Die kleine Truppe paddelt blind einen Fluss herunter, denn Malorie hatte zuvor über Funk erfahren, dass es ein paar Tagesreisen entfernt einen sicheren Zufluchtsort gebe. Mit an Bord ist ein Pappkarton mit zwei Sittichen darin, eine Bird Box eben (wie sich herausstellt, sind Vögel so eine Art Frühwarnsystem für die unheimliche Macht).

Die Szenen mit den drei unfreiwillig Blinden auf dem engen Boot bilden die Rahmenhandlung des Films und sind von Regisseurin Susanne Bier gekonnt umgesetzt. Das ist schön klaustrophobisch, beklemmend und unterschwellig bedrohlich. Wenn nur der Rest des Films genauso spannend wäre.

Die Parallelhandlung, fünf Jahre vorher: Malorie ist hochschwanger. Von einer Vorsorgeuntersuchung kommend, bricht um sie herum plötzlich das absolute Chaos aus: Menschen verlieren von einer Sekunde auf die andere den Verstand und begehen Massenselbstmord (wer M. Night Shyamalans The Happening gesehen hat, dem wird das bekannt vorkommen). Malorie kann sich in ein Haus retten, wo sich bereits ein stereotyper Hollywood-Cast versammelt hat: ein zynischer Alter (gewohnt souverän: John Malkovich), ein Drogendealer, ein gutmütiger Schwarzer, noch eine Schwangere, usw. Nach ein paar Tagen mit den erwartbaren zwischenmenschlichen Spannungen und lahm anbahnenden Liebesgeschichten stößt ein weiterer, zunächst harmlos wirkender Mann zu der Gruppe der Überlebenden. Vor allem Malories Sittiche reagieren nervös auf den Neuankömmling. Nicht lange darauf eskaliert die Situation, das vorhersehbare Unheil nimmt seinen Lauf…

Wer kennt das nicht: Man läuft sehenden Auges mit nackten Füßen gegen den Bettpfosten und reißt sich dabei beinahe den kleinen Zeh ab. Mit verbundenen Augen würde man wahrscheinlich schon im Rollstuhl sitzen. Folglich sind die „Verbundene-Augen-Challenges“, die durch den Hype um Bird Box ausgelöst wurden (80 Mio Abrufe in den ersten vier Wochen bei Netflix), nicht empfehlenswert – Netflix warnte sogar auf Twitter vor den Verletzungsrisiken.

FAZIT

A Quiet Place ist der bessere Film über eingeschränkte Sinnesorgane. Zu Tode riechen wäre dann die nächste naheliegende Filmidee. Bird Box ist für einen Horrorthriller über lange Strecken überraschend langweilig. Nur am Ende wird’s dann doch nochmal richtig gruselig: Da sieht der Film plötzlich wie ein kitschiger Zeugen-Jehova-Werbespot aus.

USA, 2018
124 min
Regie Susanne Bier
Netflix

Drei Gesichter

⭐️⭐️⭐️

Schauspielerin Behnaz Jafari erhält ein verstörendes Handy-Video: eine junge Frau behauptet darin, sie habe mehrfach versucht, die im Iran berühmte Schauspielerin zu kontaktieren. Aufgewühlt erklärt sie, dass ihre Familie sie daran hindere, ebenfalls Schauspielerin zu werden. Am Ende des Videos erhängt sich das Mädchen augenscheinlich. Die erschütterte Behnaz Jafari macht sich gemeinsam mit ihrem Regisseur auf die Suche nach der vermeintlichen Selbstmörderin. Bei ihrer Reise über verschlungene Straßen durch abgelegene Bergdörfer im Norden des Iran kommt es zu teils obskuren Begegnungen.

Beinahe interessanter als der Film selbst ist seine Entstehungsgeschichte: Regisseur Jafar Panahi hat im Iran offiziell Berufsverbot und konnte, wie schon zuvor beim Berlinale-Gewinner „Taxi Teheran“, nur heimlich drehen. Nach Fertigstellung ließ er den Film außer Landes schmuggeln, sodass er dann – in seiner Abwesenheit – auf verschiedenen Festivals gezeigt werden konnte. Beim abenteuerlichen Dreh in seinem Heimatdorf agierte Panahi in einer Doppelfunktion als Darsteller und Regisseur. Außer ihm bestand das Team meist nur aus seiner Hauptdarstellerin Behnaz Jafari und einem Kameramann.

Drei Gesichter vermischt gekonnt Fiktion und Realität: Behnaz Jafari spielt sich selbst. Die Schauspielerin ist ein Film- und Fernsehstar im gegenwärtigen Iran. Die andere, im Film gesichtslos bleibende Figur, ist Shahrzad. Sie war vor langer Zeit, in der vorrevolutionären Ära, der Star des iranischen Mainstream-Kinos. Heute arbeitet sie als Autorin, lebt zurückgezogen. Im Film taucht sie nur als Schattenriss auf und ihre Stimme ist beim Verlesen eines ihrer Gedichte zu hören.

FAZIT

Ein mäanderndes Roadmovie, schlau und tiefgründig.

Iran, 2018
Regie Jafar Panahi
100 min
Kinostart 26. Dezember 2018