WER WIR GEWESEN SEIN WERDEN

Kinostart 14. Juli 2022

Oh weh, ganz dünnes Karma-Eis: Darf (soll) man ein Obituary wie einen Spielfilm kritisieren? „Wer wir gewesen sein werden“ ist ein Nachruf auf einen geliebten Menschen, eine sehr persönliche Form der Trauerbewältigung – da verbietet sich eine Sternebewertung eigentlich. In drei Kapitel aufgeteilt – „Das Leben davor“, „Das Leben danach“ und „Das Hier und Jetzt“ – erzählt der Film in einer Collage aus privaten Videoaufnahmen, Fotos und Textnachrichten die alltägliche Geschichte der jungen Bierbrauerin Angelina Zeidler und des angehenden Filmemachers Erec Brehmer, die sich im Dezember 2015 auf Tinder kennenlernen.

Nach vier Jahren Beziehung wird Angi urplötzlich aus dem Leben gerissen. Der Frontalzusammenstoß mit einem Auto endet für die 29-Jährige tödlich. Erec überlebt den Unfall schwer verletzt und muss sich seiner Trauer stellen. Hätte er den Unfall verhindern können? Ist ein Leben ohne Angelina noch sinnvoll? War er der Freund, den sie verdient hat?

Die geniale britische Dramedy-Serie „After Life“ behandelt ein ähnliches Thema, nur dass Ricky Gervais die Trauer seiner Figur mit viel schwarzem Humor erzählt. Wer die Serie kennt, wird die Szenen erinnern, in denen Tony immer wieder Homevideos seiner verstorbenen Frau auf dem Laptop anschaut. Life imitates art: Dank Social Media und allgegenwärtiger Smartphones kann auch Regisseur Erec Brehmer die Zuschauer auf eine digitale Erinnerungsreise in die Vergangenheit mitnehmen, auf die Suche nach seiner verstorbenen Freundin und in seine eigenen Abgründe. „Wer wir gewesen sein werden“ ist eine filmische Therapiesitzung: ehrlich, manchmal quälend intim, oft tieftraurig und berührend.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
81 min
Regie Erec Brehmer

alle Bilder © Erec Brehmer

DRIVE MY CAR

DRIVE MY CAR

Kinostart 23. Dezember 2021

Ein roter Saab 900 Turbo, ein betrogener Ehemann und Tschechows Onkel Wanja – Das sind die erstaunlichen Zutaten einer 40-seitigen Kurzgeschichte von Haruki Murakami.

Oto arbeitet als Drehbuchautorin beim Fernsehen, ihr Mann Yusuke Kafuku ist ein renommierter Bühnenschauspieler und Regisseur. Die beiden haben vor vielen Jahren ihre Tochter verloren – Lungenentzündung im Kindesalter – seitdem sucht Oto immer wieder Sex mit anderen Männern. Kafuku nimmt die Untreue seiner Frau stoisch hin. Eines Tages stirbt Oto an einem Hirnaneurysma, einfach so. Peloton hat nichts damit zu tun.

Ein ungewöhnlich langes Intro: Bis zum Vorspann sind schon 40 Minuten vergangen. Zwei Jahre später: Kafuku willigt ein, das Tschechow-Stück „Onkel Wanja“ in Hiroshima zu inszenieren. Aus versicherungstechnischen Gründen darf er seinen geliebten Saab während dieser Zeit nicht selbst fahren, die junge Chauffeurin Misaki wird ihm zugewiesen. Auf ihren langen gemeinsamen Autofahrten nähern sich die beiden zögerlich einander an.

„Drive my Car“ ist Kontemplation als Film. Obwohl es um schwere Themen geht, bleibt die Spannungskurve ohne größere Ausschläge nach oben oder unten in einem 3 Stunden währenden ruhigen Fluss. In einer Szene erwischt Kafuku seine Frau dabei, wie sie ihn mit einem jungen Mann in der gemeinsamen Wohnung betrügt. Es gibt keinen Streit, keine Konfrontation, keinen Bruch. Kafuku ist nicht einmal sauer. Er beobachtet das Geschehen kurz und schleicht sich dann leise aus dem Zimmer. Aus den dramatischen Geschehnissen hätte eine US-Produktion einen rührseligen Tearjerker fabriziert, auf japanisch rauscht das Unglück so sanft dahin wie ein Windstoß durch eine Teeplantage beim Sonnenaufgang.

Eine Adaption, die funktioniert: Das Übertragen von Murakamis präzisem, unaufgeregtem Schreibstil auf die Leinwand ist auf den Punkt. Regisseur Ryusuke Hamaguchi gelingt ein vielschichtiges Werk über Trauer, Liebe, Verrat und Kunst. Sein raffiniertes Spiel um Sprache und Sprachlosigkeit gewann den Preis für das beste Drehbuch in Cannes.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Doraibu mai kâ“
Japan 2021
179 min
Regie Ryusuke Hamaguchi

alle Bilder © Rapid Eye Movies