MONEYBOYS

Kinostart 28. Juli 2022

„Sei doch nicht so depressiv, lach doch mal.“ Ein guter Rat, den Fei leider nicht befolgen mag. Das Leben als schwuler Stricher in China ist eben kein Spaß: Die Freier sind ausnahmslos alt, brutal oder getarnte Undercover-Cops. Immerhin stimmt die Bezahlung, sodass Fei seine Familie auf dem Land finanziell unterstützen kann. Doch obwohl sie sein Geld gerne annehmen, führt ein Besuch im Heimatdorf zu Streitereien, denn der Verwandtschaft sind Gerüchte über Feis Einkommensquelle zu Ohren gekommen. Nur sein Jugendfreund Long stört sich nicht daran und folgt Fei in die Großstadt.

Regisseur C.B. Yi (der an der Wiener Filmakademie bei Michael Haneke studiert hat) interessiert sich in seinem Debütfilm neben der gesellschaftlichen Ausgrenzung – Homosexualität und Prostitution sind im Reich der Mitte illegal – auch für die Auswirkungen der Landflucht von Chinas Jugend. Not so funfact: Obwohl die Geschichte in Südchina spielt, musste in Taiwan gedreht werden – dem Filmteam wurde aufgrund des heiklen Themas die Drehgenehmigung verweigert.

Zwischendurch möchte man Fei in den (Knack-)Arsch treten, um ihn aus seiner lähmenden Passivität aufzuwecken. Das sehr langsame Erzähltempo (Szenen dauern mitunter Minuten, ohne dass etwas Erwähnenswertes passiert) sorgt für ein etwas zähes, aber visuell ansprechendes  Kinoerlebnis: Die Bildkompositionen von Kameramann Jean-Louis Vialard sind in ihrer strengen Ästhetik erlesen schön.

„Moneyboys“ gehört damit in die Kategorie der Filme, die einen Einblick in fremde Kulturen gewähren, ohne dabei mit übertrieben viel Geschichte zu fesseln. Dramaturgisch verwehrt sich Yi den üblichen Erzählweisen: Fei bleibt von der ersten bis (fast) zur letzten Einstellung vom eigenen Dasein gelähmt – auf Katharsis wartet man vergeblich.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Moneyboys“
Österreich / Frankreich / Belgien / Taiwan 2021
120 min
Regie C.B. Yi

alle Bilder © Salzgeber

DIE MAGNETISCHEN

Kinostart 28. Juli 2022

Eine Provinzstadt in der Bretagne 1981: Zwei Brüder betreiben einen Piratensender – der selbstbewusste Jérôme moderiert, der jüngere Philippe besorgt die Technik im Hintergrund. Zum Geld verdienen arbeiten die Beiden in der Autowerkstatt ihres Vaters. Mit dem Alten liegt Jérôme allerdings im Dauerstreit. Philippe quälen ganz andere Sorgen – ihm droht der Militärdienst in Berlin. Und dann ist er auch noch unsterblich in die Freundin seines Bruders verliebt.

Die (fast schon vergessenen) gelben Autoscheinwerfer, ein paar unvorteilhafte Frisuren und viel analoge Radiotechnik – Regisseur Vincent Maël Cardona lässt die frühen 80er in Frankreich wieder lebendig werden. „Die Magnetischen“ spricht nicht nur das Auge, sondern besonders das Gehör an. Philippe ist viel mehr als einer, der nur die neusten Platten von Joy Division und Iggy Pop auflegt und das Mischpult bedient. Klänge und Musik sind für den schüchternen 20-Jährigen ein Sprachersatz.

Der Höhepunkt des Films spielt in einem Berliner Radiostudio – von dort will Philippe ein Grußwort an seine Freundin senden. Doch ihm versagt die Stimme. Stattdessen kreiert er in einer wilden Spontan-Performance mit an Kabeln schwingenden Mikrofonen, Kaffeetassen auf Plattentellern und handgemachten Samples eine grandiose Live-Sound-Installation.

„Die Magnetischen“ ist eine Liebeserklärung an die Jugend und das Leben. Die Botschaft: Halte dein inneres Feuer am Brennen, höre auf dein Herz und lass dich nicht von gesellschaftlichen Normen erdrücken. Wie wahr. Regisseur Cardona ist mit seinem ersten Film ein kleines Wunder gelungen. Melancholisch schön und mit drei aufregenden Jungschauspielern besetzt. „Les Magnétiques“ gewann den César als bester Debütfilm, Hauptdarsteller Thimotée Robart wurde als bester Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Les Magnétiques“
Frankreich / Deutschland 2021
98 min
Regie Vincent Maël Cardona

alle Bilder © Port au Prince Pictures

DER PERFEKTE CHEF

Kinostart 28. Juli 2022

Die einzig mögliche Antwort auf die Frage, wie es ist, bei „Basculas Blanco“ zu arbeiten, lautet: Wundervoll! Der Chef Julio Blanco ist ein grau melierter Patriarch wie aus dem Bilderbuch. Seine Angestellten und er sind eine große Familie. Auf den ersten Blick scheint er der perfekte Chef zu sein. Als Inhaber einer Präzisionswaagenfabrik ist für ihn die richtige Balance sein Ein und Alles. Doch eines schönen Tages wird sein Gleichgewicht empfindlich gestört: Zunächst durch den überraschenden Kampfgeist eines unehrenhaft entlassenen Mitarbeiters: Der campt vor den Toren der Fabrik, inklusive Protestbanner und Beschimpfungen per Megafon. Das passt Blanco gar nicht, denn in den nächsten Tagen soll ein Komitee vorbeischauen, das die beste Fabrik Spaniens küren will. Ein weiterer Störfaktor ist Miralles – der Chef der Produktion steht neben sich, weil seine Frau fremdgeht. Nicht bei der Sache zu sein, gefährdet die Produktionsabläufe – das kann Blanco nicht tolerieren. Und dann muss er sich auch noch um die hübsche neue Praktikantin kümmern, die ihm schöne Augen macht.

Dieser Film gehört zu 100 % dem charismatischen Javier Bardem, der hier eine weitere Glanzleistung abliefert. Absolut souverän und in seiner besten Rolle seit „No Country for Old Men“ sitzt bei ihm jede Geste und jedes Wort – alles präzise auf den Punkt gebracht. Toll, wie er das manipulative, liebenswerte Arschloch spielt, ohne dabei in Stereotype zu verfallen.

Ein grandioser Hauptdarsteller in einem guten, aber nicht spektakulären Film. „Der perfekte Chef“ ist eine solide gemachte, eher skurrile Komödie, die auf teils amüsante Weise die negativen Seiten von Kapitalismus und Unternehmenskorruption vorführt. Die Metapher vom aus der Waage geratenen Gleichgewicht wird dabei etwas überstrapaziert – subtil ist das nicht gerade.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „El buen patrón“
Spanien 2021
120 min
Regie Fernando León de Aranoa

alle Bilder © Alamode Film

HATCHING

Kinostart 28. Juli 2022

Eine Krähe fliegt ins Wohnzimmer. Wie mit Absicht fegt sie sämtliche Vasen vom Regal, schmeißt Lampen um und lässt zu guter Letzt sogar den Kristalllüster auf den Glastisch stürzen. Die Strafe folgt auf den Fuß: Mutter zerquetscht dem Federvieh den Kopf mit bloßen Händen. Der Kadaver wird fachgerecht in der Biotonne entsorgt. Doch am nächsten Morgen ist er verschwunden. Die 12-jährige Tochter Tinja findet den jämmerlich krächzenden Vogel im Wald. Daneben liegt ein verwaistes Ei im Nest, das das Mädchen mit nach Hause nimmt und zur Brut unter ihren Stoffbären legt. Nach ein paar Tagen ist das Ei auf Gymnastikballgröße angewachsen. Etwas Ungeheuerliches bricht sich durch die Schale.

Der Debütfilm der finnischen Regisseurin Hanna Bergholm ist ein schräges kleines Creature-Feature. Aus dem Ei schlüpft ein gruselig anzusehender Vogelmensch, eine monströse Schimäre, die die unterbewussten Gedanken des Mädchens mit brutaler Gewalt in die Tat umsetzt. Die Blutgier steigert sich: Zunächst muss der bellende Hund der Nachbarn dran glauben, anschließend steht Tinjas nerviger kleiner Bruder auf der Abschussliste.

Doch das wahre Monster in „Hatching“ ist Tinjas Mutter. Bitte recht freundlich – in ihrem Videoblog „Lovely Everyday Life“ spielt die blonde Perfektionistin ihren Followern eine heile Welt vor, die es in Wahrheit nicht gibt. Ihren Mann betrügt sie vor dessen Nase, für ihren Sohn empfindet sie keine Liebe und Tinja muss als gepeinigte Profiturnerin die unerfüllten Träume ihrer Mutter ausleben. Ein düsterer Blick auf die Gesellschaft – so widerlich ist es, wenn Mutti Influencerin spielt.

Visuell macht „Hatching“ großen Spaß: Die Effekte sind schön analog, erinnern an Jim Hensons Figuren aus „The Dark Crystal“. Das animatronische Monster wird ausgesprochen wirkungsvoll eingesetzt, und auch die langsame Verwandlung vom skelettartigen Vogel zur menschlichen Doppelgängerin des Mädchens ist mit viel Liebe zum ekligen Detail realisiert.

Body-Horror meets Coming-of-Age: Die Fabel von der Vogelbrut und dem pubertierenden Menschenmädchen hat viele gute Momente, wenn auch das Drehbuch etwas zu plump die Metaphernkeule schwingt. Das aus Liebe und Wut erschaffene Monster als Symbol für den Groll der Tochter gegenüber der emotionalen Missachtung ihrer Mutter – oder so ähnlich. Echter Horror will sich da nicht einstellen, aber ein permanentes Gefühl von Bedrohung und ein paar wahrlich abscheuliche Überraschungen hält „Hatching“ bereit.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Pahanhautoja“
Finnland / Schweden 2022
87 min
Regie Hanna Bergholm

alle Bilder © Capelight Pictures

DER SOMMER MIT ANAÏS

Kinostart 21. Juli 2022

Flatterhaft und flüchtig: So lässt sich der Charakter von Anaïs am ehesten beschreiben. Wie ein Duracell-Hase rennt die leicht neurotische 30-Jährige durchs Leben. Immer ein bisschen in Zeitnot, mit wenig Rücksicht auf andere. Die Miete ist seit drei Monaten überfällig – kein Problem, Anaïs kann das Eckige rund quatschen. Ihrem Freund erzählt sie nebenbei von einem Termin beim Arzt, eine Abtreibung – keine große Sache. Die Beziehung endet, Anaïs hat sich schon in den nächsten Mann verguckt, den deutlich älteren Softie Daniel. Doch die Geschichte nimmt eine unerwartete Wendung, als Anaïs Emilie, die Ehefrau ihres neuen Liebhabers,  kennenlernt. Bei einem Literaturfestival auf dem Land kommen sich die beiden Frauen näher und verlieben sich.

Es wird viel und schnell geredet, zunächst in Paris, später auf einem idyllischen Landgut in der Bretagne – höchst französische Laberitis. Charline Bourgeois-Tacquet inszeniert ihre etwas sperrige Dreiecksbeziehung, ohne zu moralisieren. Ob hetero oder lesbisch ist nebensächlich, es geht um Liebe, und die fällt bekanntlich, wohin sie will.

Jung, wild, ungestüm –  Im freien Geiste könnte Anaïs eine Schwester von Frances Ha oder Julie aus „Der schlimmste Mensch der Welt“ sein, ohne allerdings deren (filmische) Genialität zu erreichen. „Les amours d’Anaïs“ ist eine leichtfüßige Komödie, der es zwischendurch ein wenig an Substanz fehlt. Doch das machen die beiden Hauptdarstellerinnen wieder wett: Anaïs Demoustier und Valeria Bruni Tedeschi spielen die Amour Fou zwischen der jungen und der reiferen Frau grandios.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Les amours d’Anaïs“
Frankreich 2021
98 min
Regie Charline Bourgeois-Tacquet 

alle Bilder © Prokino 

MONSIEUR CLAUDE UND SEIN GROSSES FEST

Kinostart 21. Juli 2022

Multi-Kulti-Familie, die Dritte. Diesmal wollen die Verneuils ihren vierzigsten Hochzeitstag mit einem erneuten Eheversprechen feiern. Zu diesem Anlass laden ihre vier Töchter die Familien der vier Schwiegersöhne ein. Das passt Vater Claude gar nicht.

Nach dem ersten Teil ging’s bergab. Statt einer erwähnenswerten Handlung reiht der Film sketchartige Szenen aneinander, die sich nie zu einer richtigen Geschichte fügen. Für eine Komödie gibt es erstaunlich wenig zu lachen. Wenigstens können Christian Clavier und Chantal Lauby immer noch als schlagfertiges Ehepaar erfreuen, die meisten anderen Figuren sind nervige, zweidimensionale Charaktere aus der Klamottenkiste. Doof.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Qu’est-ce qu’on a tous fait au Bon Dieu?“
Frankreich 2021
98 min
Regie Philippe de Chauveron

alle Bilder © Neue Visionen Filmverleih

MEINE STUNDEN MIT LEO

Kinostart 14. Juli 2022

Peter Rühmkorf dichtete 1971 auf der legendären Kinderplatte Warum ist die Banane krumm?: „Licht aus, Licht aus, Mutter zieht sich nackend aus, Vater holt den Dicken raus, einmal rein, einmal raus, fertig ist der kleine Klaus.“ Das dürfte Nancy Stokes unangenehm bekannt vorkommen. Die Lehrerin im Ruhestand hatte mit ihrem mittlerweile verstorbenen Ehemann nur stinklangweiligen Blümchensex. Einen Orgasmus hatte sie dabei nie. Beziehungsweise hatte sie überhaupt noch nie einen. Das soll sich jetzt mithilfe des jungen Sexarbeiters Leo Grande ändern.

Sophie Hydes Film schafft mit Leichtigkeit, was Karoline Herfurth kürzlich mit ihrem Klischeefest „Wunderschön“ versucht hat: eine lockere und gleichzeitig ernste Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit und missverstandenem Beautywahn.

Applaus für die Darsteller: Daryl McCormack spielt den niedlichen Stricher mit viel lässigem Charme und die sowieso immer grandiose Emma Thompson präsentiert sich am Ende des Films selbstbewusst ganz ohne Filter full frontal. Lustig, sexy und erfrischend unverkrampft: Ein durchweg befriedigender Film.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Good luck to you, Leo Grande“
GB 2022
97 min
Regie Sophie Hyde

alle Bilder © Wild Bunch Germany

WER WIR GEWESEN SEIN WERDEN

Kinostart 14. Juli 2022

Oh weh, ganz dünnes Karma-Eis: Darf (soll) man ein Obituary wie einen Spielfilm kritisieren? „Wer wir gewesen sein werden“ ist ein Nachruf auf einen geliebten Menschen, eine sehr persönliche Form der Trauerbewältigung – da verbietet sich eine Sternebewertung eigentlich. In drei Kapitel aufgeteilt – „Das Leben davor“, „Das Leben danach“ und „Das Hier und Jetzt“ – erzählt der Film in einer Collage aus privaten Videoaufnahmen, Fotos und Textnachrichten die alltägliche Geschichte der jungen Bierbrauerin Angelina Zeidler und des angehenden Filmemachers Erec Brehmer, die sich im Dezember 2015 auf Tinder kennenlernen.

Nach vier Jahren Beziehung wird Angi urplötzlich aus dem Leben gerissen. Der Frontalzusammenstoß mit einem Auto endet für die 29-Jährige tödlich. Erec überlebt den Unfall schwer verletzt und muss sich seiner Trauer stellen. Hätte er den Unfall verhindern können? Ist ein Leben ohne Angelina noch sinnvoll? War er der Freund, den sie verdient hat?

Die geniale britische Dramedy-Serie „After Life“ behandelt ein ähnliches Thema, nur dass Ricky Gervais die Trauer seiner Figur mit viel schwarzem Humor erzählt. Wer die Serie kennt, wird die Szenen erinnern, in denen Tony immer wieder Homevideos seiner verstorbenen Frau auf dem Laptop anschaut. Life imitates art: Dank Social Media und allgegenwärtiger Smartphones kann auch Regisseur Erec Brehmer die Zuschauer auf eine digitale Erinnerungsreise in die Vergangenheit mitnehmen, auf die Suche nach seiner verstorbenen Freundin und in seine eigenen Abgründe. „Wer wir gewesen sein werden“ ist eine filmische Therapiesitzung: ehrlich, manchmal quälend intim, oft tieftraurig und berührend.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
81 min
Regie Erec Brehmer

alle Bilder © Erec Brehmer

CORSAGE

Kinostart 07. Juli 2022

Bald 70 Jahre post Romy Schneiders Darstellung für die Ewigkeit feiert die österreichische Kaiserin Sisi mediale Wiederauferstehung. Nach der RTL-Serie, deren zweite Staffel gerade produziert wird, kommt nun Marie Kreutzers ungewöhnlicher Cannesbeitrag in die Kinos.

Elisabeth („Sisi“) begeht bald ihren 40. Geburtstag. Damit gehört sie offiziell zum alten Eisen, denn in dem Alter hatten Frauen Ende des 19. Jahrhunderts ihre Lebenserwartung erreicht. Noch wird sie vergöttert, für ihr strahlendes Aussehen angehimmelt, doch die Uhr tickt. Sisi ist eine lebenshungrige Frau, die es Leid ist, jeden Tag ihre Taille zu schnüren und sich allen Genüssen zu verweigern. Ihr Widerstand gegen ihr öffentliches Bild wird immer größer – sie beginnt, sich aus dem höfischen Korsett zu befreien.

Die Luxemburgerin Vicky Krieps spielt Kaiserin Elisabeth schön spröde und geheimnisvoll. Und die wie immer herausragende Kameraarbeit Judith Kaufmanns ist ein weiterer großer Pluspunkt des Films. Die Marotte, historische Stoffe bewusst mit modernen Elementen zu vermischen, wirkt dagegen angestrengt. Abends singt der Hofstaat britische Popsongs zur Harfe und der Schlossplatz sieht aus, als sei der Reisebus gerade aus dem Bild gefahren. Ist natürlich Absicht, genauso wie die sichtlich angeklebten Backenbärte. Die Übersetzung in die Popkultur wirkt hier allerdings unentschieden, das hat die Netflix-Soap „Bridgerton“ oder Sofia Coppola mit „Marie Antoinette“ besser und mutiger durchgezogen.

Das Gekünstelte kann man natürlich auch als „märchenhaft“ schönreden, womit sich dann der Kreis zu Romys Sisi wieder schließt. Denn auch die war in ihrer Heimatfilm-Kitschwelt meilenweit von der Realität entfernt.

INFOS ZUM FILM

Österreich / Luxemburg / Deutschland / Frankreich 2022
113 min
Regie Marie Kreutzer

alle Bilder © Alamode Film

WILLKOMMEN IN SIEGHEILKIRCHEN

Kinostart 07. Juli 2022

Geh schleich di, der Rosenmüller Marcus hot an leiwanden Streifen g’macht, aber ned fürs Patschnkino sondern fürs Lichtspielhaus. Bitteschön, so österreichisch wie an Powidltascherl oder an Schlutzkrapfen (obwohl der Regisseur ein waschechter Bayer ist): Die Liebeserklärung an den 2016 verstorbenen Karikaturisten Manfred Deix spielt in einem kleinen Kaff in Niederösterreich, Ende der 60er-Jahre. Der Krieg ist noch nicht lange vorbei, der braune Sumpf der ewig Gestrigen trifft sich abends im Beisl und lässt sich in Erinnerung an die guten alten Zeiten volllaufen.

Im Dorf wird er nur „Rotzlöffel“ gerufen, der tschoperte Sohn vom Wirtshausbesitzer. Sein großes Talent als Zeichner (vorzugsweise erotische Bilder von großbusigen Madln) macht er mithilfe zweier Mitschüler zu Geld, denn Bedarf an Schmuddelbildchen gab’s schon immer. Als eines Tages das Sinti-Mädchen (damals: Zigeuner-Mädchen) Mariolina mit ihrer Mutter im Dorf auftaucht, machen die Gfrasten an riesen Bahöl und um den Bub ist’s g’schehn, er is verbrunzt.

Natürlich kann ein computergenerierter Zeichentrickfilm aus Österreich nicht mit Produktionen aus dem Hause Pixar bzw. Disney mithalten. „Willkommen in Siegheilkirchen“ (ob man für die Erwähnung des Titels vom Verfassungsschutz auf die Beobachtungsliste gesetzt wird?) sieht trotzdem ordentlich aus und hat nur den Bruchteil einer großen Hollywoodproduktion gekostet. Die typischen Deix-Charaktere scheinen direkt aus dessen Karikaturen auf die Leinwand gesprungen zu sein. Sakrisch gut gelungen ist vor allem die Darstellung des erzkatholischen Dorfs mit seiner spießigen Enge. Abblätternde, marode Fassaden, hier und da noch ein Hakenkreuz an der Hauswand – man kann den Muff der späten 60er schier riechen.

„Willkommen in Siegheilkirchen“ ist ein anarchistischer Zeichentrickfilm mit ein paar Pimmel-Kacka-Ekelwitzen, aber besser ois a Stan am Schädl ist’s ollemol. Die gut eingefangene Geschichte einer Jugend in Niederösterreich hat Charme und Witz. Tolle Charaktere und teils psychedelische Sequenzen machen den manchmal etwas derben Humor locker wieder wett. Des taugt ma.

Dictionary 🇦🇹 🇩🇪

leiwand – super, toll

Patschnkino – Fernsehen

Powidltascherl – mit Plaumenmus gefüllte Teigtaschen

Schlutzkrapfen – Nudelspezialität aus Tirol

Beisl – Wirtshaus

tschopert – unbeholfen, geistesabwesend

Gfrasten – gemeine Menschen, Nichtsnutze

Bahöl – Aufruhr

verbrunzt – rettungslos verliebt

Sakrisch – sehr

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Rotzbub“
Österreich / Deutschland 2021
85 min
Regie Marcus H. Rosenmüller und Santiago López Jover

alle Bilder © Pandora Film Verleih