SCHLAF

Flugbegleiterin Marlene leidet unter wiederkehrenden Albträumen. Irgendwann schnappt sie über, verfällt in eine Art Schockstarre. Ihre Tochter Mona will helfen und macht sich auf die Suche in die Vergangenheit ihrer Mutter. In einem 70er-Jahre Dorfhotel namens Sonnenhügel findet sie irritierende Antworten.

In diesem Film wird viel gewürgt. Männer würgen Frauen, Frauen würgen Männer und manchmal würgen sich Menschen auch ganz alleine selbst. Klingt ein bisschen wie ein Edgar-Wallace-Streifen aus den 60ern. Für das verschwurbelte ZDF-Kleine-Fernsehspiel entschädigen nur die Schauspieler: Sandra Hüller als Marlene ist wie immer gut, hat hier jedoch fast nichts zu tun. Gro Swantje Kohlhof überzeugt als Tochter am Rande des Nervenzusammenbruchs. Marion Kracht und August Schmölzer spielen die Hotelbesitzer zwar schön zwielichtig, scheinen sich aber aus einem ganz anderen Film hierher verirrt zu haben.

Endlich mal wieder ein Vorurteil bestätigt: Deutsche können keine gescheiten Horrorfilme drehen! Es ist schon eine Kunst, einen Brei zu versalzen und gleichzeitig fade schmecken zu lassen. Das heillos überfrachtete Drehbuch bedient sich großzügig bei allerlei Genreklassikern wie „The Conjouring“ und „The Shining“, ohne etwas aufregend Neues daraus zu machen.

FAZIT

Heimathorror im Provinzhotel.

Deutschland 2020
102 min
Regie Michael Venus
Kinostart 29. Oktober 2020

alle Bilder © Edition Salzgeber

WEGE DES LEBENS – THE ROADS NOT TAKEN

Leo (Javier Bardem) ist am Ende – hilflos, sprachlos, apathisch. Der mexikanische Schriftsteller lebt alleine in New York, leidet unter fortgeschrittener Demenz. Seine sich liebevoll kümmernde Tochter Molly (Elle Fanning) erkennt er schon lange nicht mehr.
Plötzlich springt die Handlung: Leo ist mit Dolores in Mexiko verheiratet, beide trauern um ihren toten Sohn. Dann wieder ein Sprung: Leo als Schriftsteller auf einer griechischen Insel, der kein Ende für seinen Roman findet.

„Wege des Lebens – The Roads Not Taken“ ist eine Montage der Möglichkeiten, Parallelentwürfe eines Lebens, die Leo in seinem Geist durchwandert. Regisseurin Sally Potter vermischt die verschiedenen Lebenswege, die Leo in sich trägt, mit der entglittenen Realität seines Daseins. Klingt verkopft? Ist es auch.

FAZIT

Javier Bardem ist – natürlich – grandios.

Originaltitel „The Roads Not Taken“
GB / USA 2020
86 min
Regie Sally Potter
Kinostart 13. August 2020

HIGHLIGHTS BERLINALE 2020 ● IRRADIÉS ● SHEYTAN VOJUD NADARAD

Das hat Framerate im Wettbewerbsprogramm 2020 am besten gefallen:
„Berlin Alexanderplatz“
„First Cow“
„Schwesterlein“ (schauspielerisch)
Und im Panorama:
„Shirley“
„Exil“

Der allgemeine Kritikerliebling „Never Rarely Sometimes Always“ war auch nicht schlecht, wenngleich die Rollenverteilung in grundböse Männer und gütige Frauen ein wenig zu plump war.

Das Fazit zur Berlinale: gleichbleibender Puls mit leichten Ausschlägen nach unten und nach oben.

Und sonst?
Aufgrund eines Betriebsausflugs ist es der Framerate-Redaktion leider nicht möglich, die letzten beiden Wettbewerbsbeiträge* zu sichten. Der Vollständigkeit halber gibt es wenigstens einen Copy/Paste-Auszug aus dem wie immer lyrischen Pressetext.
(*Nachtrag: NATÜRLICH hat „Sheytan Vojud Nadarad“ den goldenen Bären gewonnen, war ja klar…)

Schon am Montag, den 2. März geht’s bei Framerate mit „Der Unsichtbare“ weiter, einem sehr gelungenen Horrorthriller mit Elisabeth Moss.

IRRADIÉS

(Wettbewerb)

Pressetext: „Jede Tragödie ist einzigartig, doch die Wiederholung erzeugt jenes dumpfe Rauschen, vor dem es kein Entrinnen gibt. „Irradiés“ ist gemacht von Menschen, die körperliche und psychische Irradiationen von Krieg überlebt haben, und jenen ans Herz gelegt, die glauben, gegen solche immun zu sein.
„Irradiés“ ist kein Opus für die Kunstgalerie, sondern ein extremer, notwendiger Film, der mit unnachgiebiger Wucht in Auge und Herz dringt.“

Englischer Titel „Irradiated“
Frankreich / Kambodscha 2020
88 min
Regie Rithy Panh

SHEYTAN VOJUD NADARAD

(Wettbewerb)

Pressetext: „Die vier Geschichten, aus denen „Sheytan vojud nadarad“ besteht, sind Variationen über die Themen moralische Kraft und Todesstrafe. Sie fragen danach, bis zu welchem Grad individuelle Freiheit unter einem despotischen Regime und scheinbar unentrinnbaren Bedrohungen möglich ist. Mohammad Rasoulof verknüpft sie narrativ nur lose, dennoch sind sie auf unerschütterliche und tragische Art miteinander verbunden. Angesichts der organisierten Unterdrückung scheint es nur eine Wahl zu geben: zwischen Widerstand und Überleben. Trotzdem fordert uns jede der abrupt abbrechenden Geschichten auf, darüber nachzudenken, wie Männer und Frauen auch in solchen Situationen ihre Freiheit behaupten können.

Englischer Titel „There Is No Evil“
Deutschland / Tschechische Republik / Iran 2020
150 min
Regie Mohammad Rasoulof

RIZI ● CHARLATAN

Meist ist es ein älterer, korpulenter Herr im dunklen Mantel. Die Haare grau meliert, Schuppen auf den Schultern, Brille. Man steht vor dem noch verschlossenen CinemaXx, eingeklemmt zwischen hundert Wartenden. Es riecht nach ungelüftetem Wollpulli. Sobald sich die Türen öffnen, schiebt, drückt und drängelt der Mann, bis der Weg abgeschnitten ist. Auf der Treppe zum Saal bewegt er sich dann plötzlich zeitlupenlangsam – verständlich, denn die sms muss genau jetzt beantwortet werden. Das Ganze gibt es noch als Variation mit kleinwagengroßem Rucksack auf dem Rücken.

RIZI

(Wettbewerb)

Apropos älterer Herr: Achtung, SPOILER! Es folgt die komplette Handlung des Films „Rizi“.
Ein Mann hat Schmerzen. Er starrt in den Regen, nimmt ein Bad, geht zur Akupunktur. Ein jüngerer Mann bereitet in einem spartanisch eingerichteten Raum Speisen zu. Er putzt das Gemüse, heizt die Kohlen an.
Das alles wird in minutenlangen Einstellungen in Echtzeit gezeigt. Nach etwas 45 Minuten kommt Bewegung in die Sache. Allerdings nicht auf der Leinwand, sondern im Kino. Zuschauer flüchten aus dem Saal.
Der ältere Mann liegt inzwischen nackt auf einem Hotelbett. Der jüngere Mann massiert ihn. Man fragt sich besorgt, ob es eine 30- oder 90-Minuten-Behandlung wird. Dann, nach weiteren 10 Minuten der erlösende Schnitt. Ach nein, die Einstellungsgröße hat sich nur geändert, die Massage geht weiter, wird zum Happy End gebracht. Die beiden Männer gehen noch eine Kleinigkeit in einem Rote-Lampen-Laden essen. Das Leben geht weiter. Der Junge kocht Suppe, der Alte fotografiert Fische und schläft.

Nach 127 Minuten ein müder Interpretationsversuch: Einsamkeit in der Großstadt? Liebe ist käuflich?

Englischer Titel „Days“
Taiwan 2019
127 min
Regie Tsai Ming-Liang

CHARLATAN

(Berlinale Special Gala)

Ein bisschen Urin in einem Glas (transparent muss es sein!) gegen das Licht gehalten – und schon kann Jan Mikolášek eine Diagnose stellen. Ein paar Kräutermischungen zum Tee aufgebraut, Patient gesund, fertig! So ein Wunderheiler würde heutzutage Millionen verdienen, Mikolášek hat das Pech, in der Tschechoslowakei zur falschen Zeit zu leben. In den Jahren des Poststalinismus ist er den Machthabern ein Dorn im Auge, wegen eines konstruierten Verbrechens werden er und sein Assistent František vor Gericht gestellt.

„Charlatan“ erzählt zum einen die Lebensgeschichte eines Wunderheilers oder eben Scharlatans – kommt auf den Standpunkt an – und zum anderen eine Liebesgeschichte. Mikolášek und František waren beide mit Frauen verheiratet, führten aber jahrelang eine heimliche, homosexuelle  Beziehung.

Agnieszka Hollands Film ist ein konventionell gemachtes aber lehrreiches und halbwegs spannendes Biopic.

Tschechische Republik / Irland / Polen / Slowakische Republik 2020
118 min
Regie Agnieszka Holland

BERLIN ALEXANDERPLATZ ● THE ROADS NOT TAKEN ● DAU. NATASHA ● SUK SUK

Liebstes Fotoobjekt bei der Berlinale ist weder Sigourney Weaver noch Johnny Depp, sondern (Tusch!) der geschlossene Vorhang im Kino. Bevor er sich verlässlich zur nächsten Premiere öffnet, werden Hunderte Handys im Saal gezückt, um den wahlweise roten oder weißen Stofflappen digital zu verewigen. Die Bilder werden dann umgehend auf den üblichen sozialen Plattformen gepostet, schließlich sollen die Follower neidisch werden. Aber auf was genau? Jetzt mal ehrlich: Fotos von geschlossenen Vorhängen will keiner sehen! Dann doch lieber hübsche Dackelbilder…

BERLIN ALEXANDERPLATZ

(Wettbewerb)

„Berlin Alexanderplatz“ ist ein Film mit Eiern! Wäre Rainer Werner Fassbinder noch am Leben und würde Alfred Döblins Roman zum zweiten Mal verfilmen – vielleicht käme etwas ähnlich Aufregendes dabei heraus.

In fünf Kapiteln (plus Epilog) erzählt das Drama die düstere Geschichte vom Flüchtling Francis aus Westafrika. Im heutigen Berlin trifft er auf den durchgeknallten Drogendealer Reinhold und die Leben der beiden Männer verbinden sich zu einer verhängnisvollen Schicksalsgemeinschaft. Immer wieder versucht Reinhold, Francis für seine Zwecke einzuspannen, immer wieder widersteht er.  Als sich Franz (so hat ihn Reinhold inzwischen zwecks „Germanisierung“ getauft) in das Escort-Girl Mieze verliebt, verspürt er seit Langem so etwas wie Glück.

„Berlin Alexanderplatz“ wird spalten. Regisseur Qurbani wendet sich mit seiner Verfilmung nicht an die breite Masse. So wie es Menschen gibt, die Freude an einer 3-stündigen Volksbühnen-Inszenierung haben, so wird es (hoffentlich) auch Zuschauer geben, die diesen Film lieben. Andere, die nach 20 Minuten entnervt aus dem Kino fliehen, verpassen einen der interessantesten deutschen Filme der letzten Zeit.

Welket Bungué, Jella Haase, Joachim Król – durchweg großartige Schauspieler. Aber vor allem Albrecht Schuch als Reinhold stiehlt mit seiner Präsenz jede Szene. Der Film glänzt: Kamera, Schnitt, Musik, Ausstattung – das ist alles gekonnt, von höchster Qualität und packend inszeniert. Selbst an die in der Jetztzeit befremdlich wirkenden Dialoge – Qurbani lässt seine Figuren immer wieder Originalsätze aus dem Roman sprechen – hat man sich rasch gewöhnt. 

„Berlin Alexanderplatz“ ist Kunst, filmgewordenes Theater, kraftstrotzendes Kino. Ein ernst zu nehmender Anwärter auf den Goldenen Bären.

Deutschland / Niederlande 2020
183 min
Regie Burhan Qurbani

THE ROADS NOT TAKEN

(Wettbewerb)

Life is not fair. Wenn man wochenlang täglich mehrere künstlerisch wertvolle Arthouse-Filme sieht, wird man zwangsläufig irgendwann müde. Wäre Sally Potters ambitionierter Film doch nur zu Anfang der Berlinale gelaufen!

Leo hingegen ist am Ende – hilflos, sprachlos, apathisch. Er weiß nicht, wer er ist, seine sich liebevoll kümmernde Tochter Molly erkennt er auch nicht mehr. Plötzlich springt die Handlung: Leo ist mit Dolores in Mexiko verheiratet, beide trauern um ihren toten Sohn. Dann wieder ein Sprung: Leo als Schriftsteller auf einer griechischen Insel, der kein Ende für seinen Roman findet.

„The Roads Not Taken“ ist eine Montage verschiedener Parallelentwürfe eines Lebens, die Leo in seinem Kopf durchwandert. Sally Potter vermischt die verschiedenen Versionen, die Leo in sich trägt, mit der entglittenen Realität seines Daseins. Klingt verkopft? Ist es auch. Aber Javier Bardem spielt – was auch sonst? – grandios.

GB 2020
85 min
Regie Sally Potter

DAU. NATASHA

(Wettbewerb)

DAU? Was issn das eigentlich? Laut Google „die scherzhafte Abkürzung für dümmster anzunehmender Besucher“ Nein, das kann es nicht sein. Damen Armband Uhr? Das klingt auch nicht nach Kunst. 
Die ZEIT erklärte im Herbst 2018: „DAU ist der Titel eines Kunst-Größenwahn-Projektes, das aus 700 Stunden Filmrohmaterial besteht, aber weit mehr ist als ein Film, nämlich eine Lebensform, ein Realexperiment, eine Liveinstallation.“

DAU ist also so eine Art gigantisches „Big Brother“-Projekt. Im Falle des Wettbewerbsbeitrags „DAU. Natasha“ eine Simulation des totalitären Systems unter Stalin: Natasha und Olga arbeiten in der Kantine eines geheimen sowjetischen Forschungsinstituts. Hier treffen sich die Angestellten des Instituts und ausländische Gäste wie Luc Bigé. Mit ihm beginnt Natasha eine Affäre – das hat Konsequenzen.

Echte Schläge, echter Sex, echte Kotze – mit einem herkömmlichen Spielfilm hat Ilya Khrzhanovskiys DAU-Projekt wenig zu tun. Die improvisierenden Laiendarsteller geben einen ungeschönten Einblick in die menschliche Psyche. Das ist weniger spektakulär als erwartet, aber auch nicht uninteressant.

Deutschland / Ukraine / GB / Russland 2020
145 min
Regie Ilya Khrzhanovskiy + Jekaterina Oertel

SUK SUK

(Panorama)

Pak steht am Ende seines Berufslebens. Bei der Suche nach anonymem Sex trifft der Taxifahrer auf Hoi. Mit dem Pensionär beginnt er eine zärtliche Liebesaffäre.

Alt, verheiratet, Großvater und schwul. Und das in China, wo Homosexualität von Seiten der Familie und Gesellschaft immer noch stigmatisiert werden.

„Suk Suk“ basiert auf Oral-History-Aufzeichnungen. Die Diskriminierung und Isolation älterer Menschen wird feinfühlig und humorvoll dargestellt. Eine subtile, gut beobachtete Studie, die nur von ihrem kitschigen Soundtrack unterminiert wird.

Hongkong / China 2019
92 min
Regie Ray Yeung

DOMANGCHIN YEOJA ● FAVOLACCE ● NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS ● SCHLAF

Das passt ja: Morgens am Nordbahnhof scheint die Sonne, 10 Minuten später am Berlinale Palast grauer Himmel, es regnet. Der Potsdamer Platz hat sich in eine Ghost Town verwandelt. Meist gehörter Satz: „Also, ich war gestern in den Arkaden, das ist ja geisterhaft…“ Hier ist mittlerweile weniger los als zu Mauerzeiten. Deshalb die Aufforderung an alle Filmemacher, bevor der große Umbau losgeht: Nutzt die Kulisse und dreht eine Endzeit-Zombieapokalypse! Oder einen Gespensterfilm? Der kann nur besser als der deutsche Beitrag „Schlaf“ werden…

DOMANGCHIN YEOJA

(Wettbewerb)

?

Das kommt davon, wenn man um 7 Uhr beim batterieschwachen Wecker zu oft die Snooze-Taste drückt…verschlafen!
Dabei klingt der Text im Presseheft vielversprechend, wie eine filmische Fortsetzung des köstlichen Schlummers:
 
„Lange Einstellungen und ein dialog- und zoomlastiger Stil reduzieren alles auf die Essenz. Auch der Titel „Die Frau, die rannte“ bleibt mysteriös: Wer genau ist die Frau, die rannte? Wovor rennt sie weg und warum?“
 
War das nun ausgerechnet das lang ersehnte Highlight des schwachen Wettbewerbs 2020? Wir werden es erst bei der Preisverleihung erfahren…
 

Englischer Titel „The Woman Who Ran“
Korea 2019
77 min
Regie Hong Sangsoo

FAVOLACCE

(Wettbewerb)

„Kinder an die Macht!“ Der Forderung von Herbert Grönemeyer möchte man uneingeschränkt zustimmen, denn die Erwachsenen in „Favolacce“ sind dauerfrustriert und zu nichts zu gebrauchen. Die Mütter gescheiterte Existenzen, seltsam abwesend, sei es mental oder physisch. Die Väter allesamt unfähige Egomanen, denen das Hirn in die Hose gerutscht ist. Nur die Kinder haben Verstand, strahlen so etwas wie Freude und Unbeschwertheit aus. Doch das trügt, denn in der sengenden Sommerhitze einer Reihenhaussiedlung am Rande Roms entfaltet sich eine Katastrophe in Zeitlupe.

Der zweite Spielfilm der Brüder D’Innocenzo entwickelt eine starke Sogkraft, es wird böse enden, das ist zu spüren, und doch hofft man bis zuletzt auf Katharsis. Der Erzähler aus dem Off entschuldigt sich am Ende für das düstere Märchen – er hätte gerne von weniger deprimierenden Ereignissen berichtet. Verstörend.

Englischer Titel „Bad Tales“
Italien / Schweiz 2020
98 min
Regie Fabio + Damiano D’Innocenzo

NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS

(Wettbewerb)

Und noch mehr aus der toxischen Männerwelt: Die 17-jährige Autumn ist schwanger und will eine Abtreibung. Da das in ihrem Heimatkaff nur mit Einwilligung der Eltern geht, fährt sie mit ihrer Cousine nach New York.

Never, Rarely, Sometimes, Always – also: niemals, selten, manchmal, immer – zwischen diesen Antwortmöglichkeiten soll Autumn bei einem Multiple-Choice-Test in der Abtreibungsklinik wählen. Eine beklemmende, starke Szene, in der man zu verstehen beginnt, weshalb das Mädchen so schlecht gelaunt durchs Leben geht.

Eliza Hittmans Film folgt der inzwischen gängigen These, dass (fast) alle Männer Schweine und Frauen prima sind. Bis auf eine Figur verhalten sich die Männer in „Never Rarely Sometimes Always“ übergriffig und fies. Und selbst der einzige sympathische Kerl lässt sich geborgtes Geld mit einer Knutscherei vergelten.

Trotz des schwarz-weiß gezeichneten Weltbilds schaut man dem gut beobachteten, lakonisch erzählten Teenagerdrama  gespannt zu.

USA 2020
101 min
Regie Eliza Hittman

SCHLAF

(Perspektive Deutsches Kino)

Schon Tessa Horakh wusste: „Frauen können das eben nicht!“ In diesem Fall muss es richtigerweise heissen: „Deutsche können das eben nicht!“ Nämlich gescheite Horrorfilme drehen. Es ist schon eine Kunst, einen Brei zu versalzen und gleichzeitig fade schmecken zu lassen. Das heillos überfrachtete Drehbuch bedient sich großzügig bei allerlei Genreklassikern wie „The Conjouring“ und „The Shining“, ohne etwas Aufregendes daraus zu machen.

Flugbegleiterin Marlene leidet unter wiederkehrenden Albträumen. Irgendwann schnappt sie über und verfällt in eine Art Schockstarre. Ihre Tochter Mona macht sich auf die Suche und findet irritierende Antworten in einem 70er-Jahre Dorfhotel namens Sonnenhügel.

In diesem Film wird viel gewürgt. Männer würgen Frauen, Frauen würgen Männer und manchmal würgen sich Menschen auch ganz alleine selbst. Klingt ein bisschen wie ein Edgar-Wallace-Streifen aus den 60ern. Für das verschwurbelte ZDF-Kleine-Fernsehspiel entschädigen nur die Schauspieler: Sandra Hüller als Marlene ist wie immer gut, hat hier jedoch fast nichts zu tun. Gro Swantje Kohlhof überzeugt als Tochter am Rande  des Nervenzusammenbruchs. Und August Schmölzer spielt den Hotelbesitzer zwar schön zwielichtig, scheint sich aber aus einem ganz anderen Film hierher verirrt zu haben.

Englischer Titel „Sleep“
Deutschland 2020
102 min
Regie Michael Venus

EFFACER L’HISTORIQUE ● SCHWESTERLEIN ● SIBERIA ● EXIL ● PALAZZO DI GIUSTIZIA

Die dänische Gastronomin Victoria Elíasdóttir lädt am Ende der Berlinale zu gemeinsamen Abendessen in ihrem Pop-up-Restaurant. Diesmal kreiert sie ihr Dinner zum Thema Omega-3-Fettsäuren und Depressionen.
„At kindergarten we were (force)fed a tablespoon of liquid fish oil every morning. In a study they found that people who consumed more fish were less likely to experience the symptoms of depression.“
Eine hilfreiche Erkenntnis: Nach dem düsteren Deprifilm „Exil“ möchte man gleich beherzt in ein großes Fischbrötchen beißen.

EFFACER L’HISTORIQUE

(Wettbewerb)

Endlich gib’s mal was zu Lachen auf der Berlinale. Der französisch-belgische Wettbewerbsbeitrag „Effacer l’historique“ – was übersetzt „Lösche den Verlauf“ bedeutet – ist eine sehr komische Liebeserklärung an die analoge Welt. Passenderweise auf körnigem 16mm Film gedreht, macht sich die intelligente Komödie über die überbordende Digitalisierung unseres Alltags lustig. Dabei schrecken die Regisseure (zum Glück) auch nicht vor Albernheiten zurück. Drei fabelhafte Hauptdarsteller*innen (Blanche Gardin, Denis Podalydès und Corinne Masiero) spielen in den fein beobachteten, episodenhaften Szenen erwachsene Menschen, die mit den Tücken der Social-Media-Welt konfrontiert werden. „Effacer l’historique“ wirkt auf den ersten Blick wie die sehr gelungene Folge einer Sketch Show und ist in Summe daher vielleicht kein „richtiger Spielfilm“, macht aber dafür einen Heidenspaß.

Englischer Titel „Delete History“
Frankreich / Belgien 2019
110 min
Regie Benoît Delépine + Gustave Kervern

SCHWESTERLEIN

(Wettbewerb)

Was soll da noch kommen? Nina Hoss wird den silbernen Bären für die beste weibliche Hauptrolle gewinnen. Als Schwester(lein) des krebskranken Theaterschauspielers Sven entfaltet sie eine große Kraft, der ganze Film kreist um sie. Ihre Figur, die Autorin Lisa, muss sich gegen eine schier unendliche Flut an Dramen und Problemen stemmen: Ihre Mutter ist eine gefühlskalte Egoistin, ihr Ehemann will lieber Karriere in der Schweiz machen und der Regisseur ihres Bruders zweifelt an dessen Genesung und plant schon mal die nächste Spielzeit ohne ihn. Ein Stich ins Herz jedes Künstlers.

Nach „Undine“ noch ein Märchen: „Hänsel und Gretel“ zieht sich als roter Faden durch den Film. Lisa schreibt ihrem Bruder eine Neuinterpretation der Grimm’schen Geschichte auf den Leib, gleichzeitig sind die verlorenen Kinder in der Gewalt der Hexe ein allzu offensichtliches Symbol für den Kampf der Geschwister gegen den Krebs.

„Schwesterlein“ changiert zwischen Illusion und überhöhtem Realismus. Thomas Ostermeier spielt – was sonst ? – den Regisseur, Lars Eidinger eine sterbenskranke Version des Schauspielers Lars Eidinger. Über so viel Nabelschau muss man erst mal hinwegsehen. Die Station des Sterbens werden fast artig abgehakt: der letzte besoffene Technotanz, der vermeintlich freiheitsbringende Paragliding-Flug, die hässlichen Krankenhausszenen mit viel Blut und piepsenden Maschinen. Das sind bekannte Bilder, da bewegt sich das Drama auf ausgetretenen Pfaden.

„Schwesterlein“ ist harte Kost. Als Film eher Mittelmaß, als Demonstration schauspielerischen Könnens eine Wucht.

Englischer Titel „My Little Sister“
Schweiz 2020
99 min
Regie Stéphanie Chuat + Véronique Reymond

SIBERIA

(Wettbewerb)

Eine dicke nackte Frau tanzt in einer Höhle im Kreis und ruft dabei „I need a Doctor!“

Und noch ein Schauspielerfilm. Diesmal kann man Willem Dafoe als gebrochenen Mann bei seiner Reise ins Ich zuschauen. Muss man aber nicht. „Siberia“ ist ein anstrengender Wettbewerbsbeitrag, der besser im Forum aufgehoben wäre. Einziger Lichtblick: Landschaften mit jeder Menge Schnee. So was gab’s in Berlin gefühlt das letzte Mal vor 10 Jahren zu sehen.

Italien / Deutschland / Mexiko 2020
92 min
Regie Abel Ferrara

EXIL

(Panorama)

Deutschland im Sommer. Die Kamera klebt am verschwitzten Hemdkragen von Xhafer. Der Kosovo-Albaner lebt mit Frau und Töchtern in einem Reihenhaus, arbeitet als Pharmaingenieur. Könnte alles so bieder-schön integriert sein, würde sich Xhafer nicht gemobbt fühlen. Mails werden „versehentlich“ nicht weitergeleitet, die oft angemahnten Testergebnisse bleiben aus, es wird getuschelt, eines Tages hängt eine Ratte an seinem Gartentor. Sein diffuses Misstrauen gegen Kollegen, seine Frau und gegen sich selbst wächst, er steigert sich immer mehr in seinen Verfolgungswahn. Doch bald stellt sich die Frage: Ist Xhafer der Verfolgte oder ist er selbst die Bedrohung?

Hauptdarsteller Mišel Matičević gelingt es, den Charakter dieses zutiefst verunsicherten Mannes glaubhaft herauszuschälen. Sandra Hüller spielt ebenso überzeugend seine gepeinigte Ehefrau. Nach „Toni Erdmann“ würde man der hochkarätigen Schauspielerin gerne mal wieder eine etwas leichtere Rolle wünschen, denn komödiantisches Talent besitzt sie zweifellos. 

„Exil“ tut weh. Giftige Ockertöne und Düsternis erzeugen eine stete Beklemmung. Das Sezieren der Psyche des Protagonisten muss man aushalten können. Verlorene Heimat, ausgeschlossen sein, Integration – „Exil“ berührt viele Themen und hängt noch lange nach. Eine düsterer Alptraum, Paranoia als Film.

Englischer Titel „Exile“
Deutschland / Belgien / Kosovo 2020
121 min
Regie Visar Morina

PALAZZO DI GIUSTIZIA

(Generation 14plus)

Chiara Bellos kommt eigentlich aus der Dok-Filmszene, das merkt man ihrem Spielfilmdebut deutlich an. Die Regisseurin ist weniger an einer stringenten Geschichte, als vielmehr an Beobachtungen ihrer Figuren interessiert. Dieser fast dokumentarische Ansatz schafft Intimität und macht den Reiz von „Palazzo di Giustizia“ aus.

Im Flur vor einem Gerichtssaals sitzen sich zwei Mädchen gegenüber. Der Vater der kleinen Luce ist ein Räuber, der Vater der älteren Domenica hat den Kumpel des Räubers auf der Flucht erschossen. Während drinnen der Prozess läuft, langweilen sich die Mädchen zusehends. Luce beginnt ihre Umgebung zu erforschen. 

Der Generation 14plus-Beitrag ist eine langsam erzählte, fast sachliche Mischung aus Charakterstudie, Gerichts- und Jugendfilm.

Englischer Titel „Ordinary Justice“
Italien / Schweiz 2020
84 min
Regie Chiara Bellos

THE ASSISTANT ● UNDINE ● TODOS OS MORTOS ● FUTUR DREI ● LAS NIÑAS ● LUA VERMELLA ● SHIRLEY

Ein Hinweis an alle Eulen und Uhus in Reihe 1 bis 10: Lautes Flüstern nervt! Egal in welcher Sprache. Es nervt in der Sauna, im Kino noch mehr. Und: Auch wenn ihr eure Handys noch so nah vors Gesicht haltet, das Licht stört die anderen trotzdem. Daher: Handy aus, Schnabel zu.

THE ASSISTANT

(Panorama)

Nach „My Salinger Year“ ein weiterer Film über die stillen Leiden der Assistenten. Diesmal geht es jedoch weniger kuschelig zu, „The Assistant“ ist harter Realismus. Harvey Weinstein wird zwar namentlich nie erwähnt, doch es ist relativ schnell klar, auf wen Regisseurin Kitty Green hier anspielt.

Jane ist morgens die Erste und abends die Letzte im Büro eines mächtigen Medienmoguls. Reisen organisieren, Termine buchen, das Büro aufräumen, die wütende Gattin am Telefon beruhigen – Janes Tag ist vollgepackt. Als immer wieder junge Frauen bei ihrem Chef ein- und ausgehen, will sie nicht länger wegschauen, sie vermutet Missbrauch. Sie vertraut sich einem Kollegen an, doch der bügelt ihre Bedenken ab. Das System funktioniert. Die (männlichen) Mitarbeiter diktieren ihr sogar den Wortlaut einer Entschuldigungsmail in den Computer. 

Dieser Film gehört Hauptdarstellerin Julia Garner. Wie sie mit reduzierter Mimik Angst, Zweifel und stille Wut ausdrückt, ist beeindruckend. „The Assistant“ erzählt in streng komponierten Bildern eine  Geschichte vom Wegschauen und von Repression am Arbeitsplatz. Die Handlung spielt vor #MeToo – ob sich inzwischen viel geändert hat, ist fraglich.

USA 2019
90 min
Regie Kitty Green

UNDINE

(Wettbewerb)

So, jetzt wird mal mit angelesenen Hintergrundinformation geprotzt: Undine ist eine mythologische Figur, eine Nymphe, die mit ihrem Gesang die Menschen verzaubert. Eine Seele erlangt sie nur, wenn sie sich mit einem Menschen vermählt. Der Haken an der Sache: Untreue Gatten bringt sie um.

Dieses Wissen hilft, Christian Petzolds neuen Film „Undine“ besser zu verstehen. Der Regisseur dichtet den Mythos von der geheimnisvollen Wasserfrau zum modernen Märchen im heutigen Berlin um. Das funktioniert erstaunlich gut. Der Film hat zugleich etwas Märchenhaftes und Realistisches. Paula Beer verleiht der Figur Undine mit wassergewellten Locken eine somnambule Aura. Und keiner kann so überzeugend den leicht tumben und gleichzeitig sensiblen Arbeiter spielen wie Franz Rogowski.

„Undine“ ist eher eine Fingerübung, ein interessantes Experiment, der etwas andere Berlinfilm. Regisseur Petzold übertreibt’s zwischendurch ein wenig mit der platten Symbolik – insgesamt ist ihm zwar ein zarter Liebesfilm aus dem Hier und Jetzt gelungen, es bleibt aber seltsam spröde.

Deutschland 2020
90 min
Regie Christian Petzold 

TODOS OS MORTOS

(Wettbewerb)

Frauen stehen im Mittelpunkt des brasilianischen Films „Todos os mortos“. Brasilien 1899, kurz nach Abschaffung der Sklaverei. Die drei Frauen der Soares-Familie stehen am Rand des Ruins und versuchen, sich mühsam an die neuen Verhältnisse anzupassen. Die Mutter ist vom alten Schlag, lässt sich immer noch gerne bedienen. Ihre beiden Töchter, die eine Nonne, die andere eine verwirrte Pianistin, sind auch keine große Stütze. Parallel wird die Geschichte der Nascimento-Familie erzählt, ehemals Sklaven der Soares.

Das hätte was werden können, denn das Thema ist eigentlich interessant. Schade nur, dass der Film wie eine langatmige Telenovela für Intellektuelle wirkt. Fehlt nur noch die dramatische Musik kurz vor der Werbepause. „Todos os Mordes“ läuft rätselhafterweise im Wettbewerb und gewinnt bestimmt den goldenen Bären.

Englischer Titel „All the Dead Ones“
Brasilien / Frankreich 2020
120 min
Regie Caetano Gotardo

FUTUR DREI

(Panorama)

4 Sterne für die Story plus 2 Sterne für die künstlerische Ambition = 3 Sterne für „Futur Drei“
Parvis ist der Sohn iranischer Einwanderer in Niedersachsen. Er verbummelt sein Leben zwischen Tanzen gehen, jobben und anonymen Grindr-Dates (dem Gay-Equivalent zu Tinder). Als er in einem Flüchtlingsheim Sozialstunden ableisten muss, verliebt er sich in Amon, der mit seiner Schwester aus dem Iran geflüchtet ist. Die drei verbindet bald eine intensive Freundschaft und Beziehung.

Wie viele Panorama-Beiträge in diesem Jahr erzählt auch „Futur Drei“ von Heimat und Ausgrenzung, diesmal im queeren Milieu. Obwohl Parvis‘ Familie seit vielen Jahren in Deutschland lebt, hat sie sich nie wirklich integriert. Parvis dagegen fühlt sich deutsch und nicht als Iraner – ein interessanter Zwiespalt. 

Die ersten zwei Drittel des Films sind spannend und geben einen angenehm unklischeeigen Einblick. Gegen Ende hat dann wohl irgendwer beschlossen, dass es „künstlerisch“ werden muss. Diese eher wahllos eingestreuten Vignetten hätten für sich genommen vielleicht einen ambitionierten Kurzfilm ergeben. Doch das gewollt Experimentelle fügt sich nicht in die bis dahin präzise und geradlinige Erzählung. Schade, es wäre sonst ein richtig guter Film geworden. 

Englischer Titel „No Hard Feelings“
Deutschland 2020
92 min
Regie Faraz Shariat

LAS NIÑAS

(Generation Kplus)

Celia muss schweigen. Im Chor darf sie nur die Lippen bewegen, ihre Mutter hat keinen Nerv für die Fragen und Nöte der Tochter und in der konservativen Nonnenschule soll sie auch schön artig sein. Erst Brisa, die neue Mitschülerin aus Barcelona, weckt die Rebellin in Celia. Das bisher so artige Mädchen beginnt, unbequeme Fragen zu stellen.

Nicht umsonst läuft Pilar Palomeros Debut im Rahmen der Generation Kplus. „Las Niñas“ verlangt seinen Zuschauern ab, sich ganz und gar auf die Welt der Heranwachsenden einzulassen. Langes, stilles Brüten, Schminkversuche mit den Freundinnen, unbeholfene Flirts mit einem Jungen oder die erste Zigarette. Für Menschen jenseits der 18 gibt es ein paar gelungene Momente und quälende Erinnerungen an die eigene Jugend, aber wie bei der Pubertät wünscht man sich bald, dass das Ganze ein Ende hat.

Englischer Titel „Schoolgirls“
Spanien 2020
97 min
Regie Pilar Palomero

LUA VERMELLA

(Forum)

Auch für anstrengende Experimentalfilme ist auf der Berlinale Platz: Ein Stausee, eine schroffe Küstenlandschaft, tosendes Wasser. Menschen wie zu Säulen erstarrt, den Blick nach unten gerichtet. Ihre Gedanken als innerer Monolog gesprochen. Nach und nach werden sie mit weißen Tüchern abgedeckt, verstummen. Wie Gespenster stehen die Bewohner eines galicischen Küstenortes in der Gegend herum. Der Pressetext erklärt: „Die fragmentarische Erzählung lotet das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt aus.“ Aha. Das ganze Spektakel dauert geschlagene 84 Minuten und ist wohl Kunst. Ermüdend.

Englischer Titel „Red Moon Tide“
Spanien 2019
84 min
Regie Lois Patiño

SHIRLEY

(Encounters)

Noch schnell ein Nachschlag, jetzt mal wirklich kurz und knapp:
1964, Horrorautorin Shirley Jackson und ihr Ehemann, der Literaturkritiker und Collegeprofessor Stanley Hyman beherbergen ein junges Ehepaar, Fred und Rose Nemser. Was sich zwischen den vier Personen entwickelt und entlädt, kann man am ehesten als „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ mit Verzögerung beschreiben. Die Schauspieler sind alle grandios, mit einer herausragenden Elisabeth Moss – eindringlich und mit erschreckendem Mut zur Hässlichkeit.

USA 2020
106 min
Regie Josephine Decker

FIRST COW ● LES SEL DES LARMES ● DEATH OF NINTENDO ● SEMINA IL VENTO ● SUNE – BEST MAN

„Wie ist dieses Jahr eigentlich das Motto der Berlinale?“ Fragt ein aufmüpfiger rbb-Reporter bei der ersten Pressekonferenz im Januar „Unter Kosslick hat sie immer eins gehabt!“. Kein Wunder, dass Carlo Chatrian patzig wird: „Wenn Sie unbedingt ein Motto brauchen, bitte, dann überlegen wir uns eins, nur für Sie!“ Bis jetzt ist keins erkennbar…vielleicht „Kino trotz Corona“? Überall hustet und schneuzt es im Saal. Das must have in diesem Jahr: Mundschutz mit Berlinale-Bär.

FIRST COW

(Wettbewerb)

„First Cow“ – Was wie der CIA-Codename für Melania Trump klingt, ist in Wahrheit die heitere Geschichte von Cookie, dem sensiblen Koch und seinem Freund, dem Chinesen King-Lu. Im 19. Jahrhundert kommen die beiden auf die glorreiche Idee, im Wilden Westen Schmalzgebäck zu verkaufen. Ein garantierter Hit. Blöd nur, dass sie die Hauptzutat für den Teig nachts bei der einzigen Kuh im Ort heimlich abmelken müssen. Die Kuh gehört ausgerechnet dem Bürgermeister, ein Diebstahl mit fatalen Folgen…

Jede Berlinale hat ihren eigenen „Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss“-Film. Im vergangenen Jahr war das „Out Stealing Horses“, in diesem Jahr heißt er „First Cow“.  Regisseurin Reichart hat eine authentische Wild-West-Geschichte gedreht, weit entfernt von jeglicher „Bonanza“-Romantik. Hier geht’s dreckig, ungewaschen und matschig zu. Lässt man sich auf die langsame Erzählweise ein und flieht nicht aus dem Kino (wie einige Zuschauer während der ersten halben Stunde), so wird man mit einem sanften, fast meditativen Wettbewerbsbeitrag belohnt. Die zärtlichen Gespräche, die Cookie während des Melkens mit der Kuh führt, gehören zum bisherigen Höhepunkt der Berlinale.

USA 2019
122 min
Regie Kelly Reichardt

LES SEL DES LARMES

(Wettbewerb)

Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn „Les sel des larmes“ nicht irgendeinen Preis abräumen würde. Schließlich hat letztes Jahr „Ich war zuhause, aber“ den silbernen Bären für die beste Regie bekommen – und der war ähnlich furchtbar.

Luc kommt nach Paris, um Kunstschreiner zu werden. Er begegnet einem Mädchen, die beiden haben eine unschuldige Affäre. Dann trifft er in seinem Heimatdorf auf eine Ex-Freundin, sie wird schwanger. Wieder zurück in Paris beginnt er eine Beziehung mit einer weiteren Frau. Das alles wird von einer stoischen Erzählerstimme zusammengehalten, man könnte der schlichten Geschichte aber auch mühelos ohne diesen Kunstgriff folgen. Ach ja, Lucs Vater spielt auch noch irgendwie mit.

„Das Salz der Tränen“ – da sollte der Titel schon zu denken geben. Damit der Zuschauer erkennt, dass dies Kunst ist, wurde in Schwarz-Weiß gedreht. Haben die bei der Nouvelle Vague damals ja auch so gemacht. Ab der Hälfte setzt bei der Vorführung (vermutlich) hämisches Gelächter ein. Der spärliche Schlussapplaus muss ironisch gemeint sein. 

Englischer Titel „The Salt of Tears“
Frankreich / Schweiz 2019
100 min
Regie Philippe Garrel

DEATH OF NINTENDO

(Generation Kplus)

Ob sich 10-Jährige von der etwas zähen Geschichte um drei Jungs und ein Mädchen ausreichend unterhalten fühlen? Bei der in den 1990er-Jahren verorteten Coming-of-Age-Geschichte geht es genregerecht um die Nöte der Pubertät, erste Liebe und nervige, überfürsorgliche Eltern. 

Der Figurenreigen besteht aus den üblichen Verdächtigen: Der Spielenerd, das angehimmelte Mädchen, der Bully und der Dicke. Szenenweise erinnert „Death of Nintendo“ an die NETFLIX-Serie „Stranger Things“, nur auf philippinisch und ohne Sci-Fi-Elemente. Leider aber auch ohne allzu große Spannung. Plätschert so dahin.

Philippinen / USA 2020
99 min
Regie Raya Martin

SEMINA IL VENTO

(Panorama)

Bäume sind in! Diesmal ist der heimliche Star kein deutscher Laubwald, sondern ein italienischer Olivenhain in Apulien. Der ist von blauen Käfern befallen und soll nach Willen des Besitzers abgeholzt werden. Als dessen Tochter Nica nach Jahren in ihr Heimatdorf zurückkehrt, ist sie erschüttert. Gegen den Willen ihres Vaters kämpft sie für den Erhalt des Olivenhains und das Fortsetzen der Familientraditionen.

Die kranken Bäume machen Geräusche wie unsereins, wenn er sich morgens ein Glas eiskalten Orangensaft auf nüchternen Magen reinkippt. Glucks. Daniel Caputo unterscheidet in seinem sanftem Ökodrama klar in gut und böse: Die Studentin der Agrarwissenschaft Nica, fast noch im Greta-Thunberg-Alter, begehrt gegen die Bösen auf. Ihr geldgieriger Vater ist beratungsresistent und hundsgemein (er serviert das Essen auf Plastikgeschirr!). Die Nachbarn, echte Umweltsäue, werfen große Müllsäcke achtlos aus dem Auto, das kennt man ja aus Brandenburg. Und zu allem Überfluss gibt es noch ein großes Stahlwerk, das nicht nur die Luft verpestet, sondern nachts giftige Gülle in dem idyllischen Olivenwald verklappt.

Das ist alles ein bisschen mit dem Holzhammer, aber wenigsten visuell ganz hübsch.

Englischer Titel „Sow the Wind“
Italien / Frankreich / Griechenland 2020
91 min
Regie Danilo Caputo

SUNE – BEST MAN

(Generation Kplus)

Schon wieder was gelernt: Sune ist in Schweden so was wie ein Nationalheld. Seine Bücher kennt jeder und der 2018 erschienene Film „Sune vs Sune“ war wochenlang auf Platz 1 der schwedischen Kinocharts. Nun feiert die Fortsetzung „Sune – Best Man“ auf der Berlinale Weltpremiere.

Der strohblonde Titelheld ist ein pfiffiges Kerlchen, kann sich jedoch nie für irgendwas entscheiden. Das liegt in der Familie, denn seine Mutter und sein Großvater leiden an der gleichen ewigen Unentschlossenheit. Als sich Sune zwischen einer bevorstehenden Klassenfahrt mit seiner Freundin und der Hochzeit seines Opas entscheiden soll, ist er hin- und hergerissen und gerät deshalb in zunehmend komplizierte Verstrickungen. Klassischer Fall von FOMA.

Lobenswert: Die Erwachsenen sind ausnahmsweise mal keine zweidimensionalen Karikaturen, wie sonst so oft in Kinderfilmen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. „Sune – Best Man“ hat Herz und Humor. Das macht ihn auch für Zuschauer jenseits der 10 zu einem Sehvergnügen. Sehr putzig!

Schweden 2019
88 min
Regie Jon Holmberg

ONWARD ● EL PRÓFUGO ● VOLEVO NASCONDERMI ● SA-NYANG-EUI-SI-GAN ● KIDS RUN ● H IS FOR HAPPINESS ● KØD & BLOD ● CIDADE PÁSSARO

Heute gibt’s acht (!!) Filme bei framerate. Wer soll das bitte alles lesen? Ganz ehrlich, das ist doch UNMENSCHLICH! Aber andere haben auch Sorgen, zum Beispiel Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian. Das Unheil beginnt mit der Wahl des Jurypräsidenten. Statt einer Frau oder wenigstens einer hippen Person of Colour wird es doch nur wieder ein alter weißer Mann. Als nächstes schließt einer der Hauptspielorte, das Cinestar im Sony-Center, seine Pforten. Das Cubix am Alexanderplatz ist da nur unzureichender Ersatz. Dann werden die Arkaden entkernt, nix mehr mit Shoppen oder einem Fischmäc zwischen den Vorführungen. Und zur Krönung kommt auch noch raus, dass der erste Berlinale-Chef Alfred Bauer ein Nazi war. Bitte Milde und Nachsehen mit der neuen Festivalleitung, die beiden haben’s wirklich nicht leicht.

ONWARD: KEINE HALBEN SACHEN

(Berlinale Special)

„Onward“ wirkt, als würde man ein Glas kalte Cola trinken, oder (gesünder) einen tiefen Zug frischer Luft tanken. Der Film läuft bei der Berlinale außer Konkurrenz und ist eine echte Erfrischung zwischen all dem verkopften Kunstkino.

Wie in einem großen Topf (oder hier passender: Kessel) hat Regisseur Dan Scanlon die Zutaten aus so ziemlich jedem erfolgreichen Fantasy-Film der letzten Jahrzehnte zusammengerührt: Harry Potter, Herr der Ringe, Gremlins, Drachenzähmen leicht gemacht, dazu ein bisschen Avatar und eine Prise Transformers. Aber was er aus diesem Brei gemacht hat, ist überraschend originell und schmeckt! Wie immer bei Pixar-Produktionen legt das Drehbuch großen Wert auf liebevoll ausgearbeitete Figuren. Die Vater-Sohn-Familien-Geschichte punktet besonders mit selbstironischen Seitenhieben auf die übertriebene Kommerzialisierung, wie sie Disney in seinen diversen Themenparks betreibt. Der Film hat Herz, guten Humor und natürlich eine Botschaft. Die ist zwar auch recycelt – sei Du selbst, dann kannst Du alles schaffen – aber wie das präsentiert und inszeniert wird, ist ausgemacht unterhaltsam.

Originaltitel „Onward“
USA 2019
112 min
Regie Dan Scanlon

EL PRÓFUGO

(Wettbewerb)

Inés leidet unter Albträumen. Kein Wunder, dass sie gestresst ist. Nach dem Selbstmord ihres Freundes beginnt sie Stimmen – nein – nicht zu hören, sondern zu erzeugen. Schlecht, wenn man als Synchronsprecherin arbeitet. Die Geisterstimmen verhunzen jeden Take im Aufnahmestudio. Doch dabei bleibt es nicht. Bald nehmen die Stimmen Gestalt an und dringen immer mehr in Inés Leben ein, Realität und Einbildung verschwimmen. Der Psycho-Thriller um Selbst- und Fremdwahrnehmung stellt die Frage, ob es zwischen Himmel und Erde vielleicht mehr gibt, als mit blossem Auge zu sehen ist.

„El Prófugo“ hätte man mehr Mut zum Wahnsinn gewünscht. Die interessante Idee vom Eindringen der Albträume in die Realität haben andere Filme schon deutlich spannender umgesetzt. Am Ende fragt man sich: Was hätte wohl David Cronenberg aus so einem Stoff gemacht?

Englischer Titel „The Intruder“
Argentinien / Mexiko 2020
90 min
Regie Natalia Meta

VOLEVO NASCONDERMI

(Wettbewerb)

Maunz! Fauch! Kreisch! Theo ist kaputt im Kopf. Als Kind von einem Lehrer als lebensunwürdig abgewertet, von den Mitschülern gequält und verspottet, wächst die Waise zu einem gestörten, beinahe animalischen Mann heran. Kein Wunder, dass er sich mit Tieren besser versteht als mit Menschen. Von Nervenheilanstalten zu Armenhäusern durchgereicht, findet er erst spät zu seiner künstlerischen Berufung als Maler.

Regisseur Giorgio Diritti schert sich wenig um konventionelles Filmemachen. „Volevo Nascondermi“ springt etwas zu episodisch durch das Leben des italienischen Ausnahmekünstlers Antonio Ligabue, dessen wahres Können (wie so oft) erst nach seinem Tod richtig gewürdigt wurde. Die Stimmung des Films folgt den Launen des Künstlers: zwischen Nervensäge und Genie wechselnd. Auf Dauer ist das mal anstrengend, mal großartig, mal quälend und mal komisch. So gesehen ein echter Festivalfilm.

Englischer Titel „Hidden Away“
Italien 2019
118 min
Regie Giorgio Diritti

SA-NYANG-EUI-SI-GAN

(Berlinale Special Gala)

Ein koreanischer Film auf der Berlinale? Da erwarten natürlich alle gleich einen zweiten „Parasite“.

Aber „Sa-Nyang-Eui-Si-Gan“ – für den Lesefluss im Folgenden der englische Titel „Time to Hunt“ – ist dann doch nur gut gemachtes Action-Kino.

Korea in der nahen Zukunft: Geld ist nichts mehr wert, die Straßen versinken im Müll. Jun-seok, gerade aus dem Knast entlassen, plant mit seinen drei Kumpels, eine illegale Spielbank auszurauben. Dumm nur, dass ihnen nach dem geglückten Raub ein eiskalter Berufskiller auf den Fersen ist.

Im ersten Drittel ein Heist-Movie, entwickelt sich „Time to Hunt“ anschließend zu einer extrem spannenden Katz- und Maus-Jagd. Doch wie so viele neuere Filme weiß auch dieser nicht, wann es genug ist. Nach einer nervigen, unendlich langen Schießerei im letzten Drittel hört und hört die Geschichte nicht auf. Da hätten gut 30 Minuten gekürzt werden können. Schade, denn bis dahin ist „Time to Hunt“ richtig gut.

Nur eine Frage der Zeit, bis Hollywood ein Remake davon macht.

Englischer Titel „Time to Hunt“
Korea 2020
134 min
Regie Yoon Sung-hyun

KIDS RUN

(Perspektive Deutsches Kino)

Oh weh. Deprimierender geht’s kaum. Das Modell der dysfunktionalen Familie wird hier auf die Spitze getrieben. Es ist einfach alles schrecklich – ein Leben nicht am Rande des Abgrunds, sondern am Boden.

Andi ist ein Looser, der seine Emotionen nicht im Griff hat und es nur mit Mühe und Not schafft, seine drei Kinder durchzubringen. Morgens hetzt er sie ohne Frühstück zum Schulbus, um anschliessend wiedermal aus einem seiner Tagelöhnerjobs zu fliegen. So hangelt er sich von einer schlecht bezahlten Arbeit zur nächsten, das Baby wird zwischendurch mit Erdnussflips gefüttert. Andi wittert eine letzte Chance, als bei einem Amateur-Boxturnier ein Preisgeld von 5.000 € ausgeschrieben wird.

Gegen „Kids Run“ sind Ken Loach-Filme geradezu Feel-Good Movies. Getragen wird diese düstere Studie in Assi von ihren herausragenden Darstellern: Jannis Niewöhner ist auch als kaputter Familienvater hot und seine beiden Filmkinder spielen erschreckend überzeugend.

Deutschland 2020
104 min
Regie Barbara Ott

H IS FOR HAPPINESS

(Generation Kplus)

Alles so süß und bunt hier. Candice Phee hat rote Haare und das Gesicht voller Sommersprossen. Die 12-jährige ist aufgeweckt und hilfsbereit, doch hinter der fröhlichen Fassade verbirgt sich eine Familientragödie. Dass sie keine Wiedergeburt von Pippi Langstrumpf ist, wird schnell klar. Mit Hilfe ihres neuen Freundes Douglas, der von sich glaubt, aus einer anderen Dimension zu kommen, versucht Candice das Glück in ihre Familie zurückzuholen. 

Auf Basis des Erfolgsromans „My Life as an Alphabet“ von Barry Jonsberg nähert sich Regisseur John Sheedy behutsam den Themen Tod und Trauer an.

Australien 2019
103 min
Regie John Sheedy

KØD & BLOD

(Panorama)

Die deutsche und die dänische Sprache sind sich nämlich gar nicht so ähnlich…was auf den ersten Blick wie der Titel eines Fetisch-SM-Films klingt, heisst wörtlich übersetzt ganz harmlos Fleisch + Blut.

Fleisch und Blut, das ist Familie. Die 17-jährige Ida lebt seit dem Unfalltod ihrer Mutter bei ihrer Tante und deren drei erwachsenen Söhnen. Schnell entpuppt sich die überfürsorgliche Matriarchin als kriminelles Oberhaupt, das gemeinsam mit ihren Jungs so eine Art Minimafia betreibt. Als der Clan mit der Polizei in Konflikt gerät, muss sich Ida zwischen Loyalität und ihrem eigenen Wohl entscheiden.

Der Film fängt ziemlich gut an: klar gezeichnete Figuren, mit wenigen Einstellungen werden Situationen und Gefühle skizziert. Doch je länger es dauert, desto mehr überträgt sich die mürrisch lähmende Haltung der Hauptfigur Ida auf den Zuschauer. Am Ende kaum zu glauben, dass das nur 88 Minuten waren.

Englischer Titel „Wasteland“
Dänemark 2019
88 min
Regie Besir Zeciri

CIDADE PÁSSARO

(Panorama)

Stärke liegt nicht in der Isolation, sondern in der Kommunikation. Leichter gesagt, als getan. Amadi reist aus Nigeria nach São Paulo, um seinen Bruder Ikenna zu suchen und bestenfalls wieder mit nach Hause zu nehmen. Leider spricht er kein Wort Portugiesisch, da gestaltet sich die Kommunikation mitunter etwas schwierig. Dass es die Universität, an der das Mathegenie angeblich als Professor lehrt, gar nicht gibt, hilft da auch nicht weiter. So entwickelt sich die Suche Amadis nach seinem verschollenen Bruder zu einer Entdeckungsreise durch den Hochhausdschungel.

Wahre Poesie gibt es nur in Pressetexten: „Der erste Spielfilm des brasilianischen Regisseurs Matias Mariani ist eine enigmatische, im 4:3-Format kadrierte Erkundung auf mehreren Ebenen.“

Oder weniger poetisch ausgedrückt: „Cidade Pássaro“ ist etwas zäh. Die Geschichte schleppt sich mühsam voran, die Suche nach dem Bruder wird zum Selbstfindungstrip Amadis – und das ist keine besonders spannende oder actionreiche Angelegenheit. 

Englischer Titel „Shine Your Eyes“
Brasilien / Frankreich 2019
102 min
Regie Matias Mariani

MY SALINGER YEAR ● MINAMATA ● LAS MIL Y UNA

Auch wenn das diesjährige Berlinale-Plakat aussieht, als sei ein minderbegabter Grafiker gestolpert und hätte eine Handvoll Zahlen und Buchstaben verschüttet – die Vorfreude ist trotzdem groß:
9 Tage lang Filme, Filme und nochmals Filme. Los geht’s!

MY SALINGER YEAR

(Berlinale Special Gala)

Der Berlinale-Eröffnungsfilm – seit Jahren eine Geschichte des Scheiterns. Und diesmal?

Die Figurenkonstellation erinnert auf den ersten Blick an „Der Teufel trägt Prada“: Die gestrenge Chefin, das naive Mädchen, der gütig-hilfsbereite Mitarbeiter, der nervige Boyfriend – alle sind dabei. Aber „My Salinger Year“ erzählt dann doch eine ganz andere Geschichte. New York, Mitte der 1990er-Jahre: Joanna  hat gerade ihr Studium in Berkley geschmissen, ist in die Großstadt gezogen. Von ihrem neuen Job als Assistentin der Literaturagentin Margaret (Sigourney Weaver, wie immer toll) hat sie zwar keine Ahnung, versucht aber ihr Bestes. In der Agentur dreht sich alles um den Kultautor J. D. Salinger. Joannas Hauptaufgabe ist es, dessen Fanpost zu beantworten. Doch eigentlich will sie lieber selbst Schriftstellerin werden. Weshalb sie dann nicht einfach schreibt, bleibt rätselhaft. Am Ende erkennt sie, dass sie sich von den Erwartungshaltungen anderer befreien und ihren eigenen Weg gehen muss. Amen.

„My Salinger Year“ ist einer dieser bequemen Romika-Schuh-Filme, die man sich am besten Sonntagnachmittags im Kino oder noch besser bei einer schönen Tasse Tee auf dem Sofa anschaut. Tut nicht weh, beleidigt nicht die Intelligenz des Zuschauers – nette Unterhaltung.

Kanada / Irland 2020
101 min
Regie Philippe Falardeau

MINAMATA

(Berlinale Special Gala)

Der Mensch ist böse. Schon lange vor Erin Brockovich haben Chemiekonzerne aus Profitgier die Umwelt mit ihren Abfällen vergiftet. „Minamata“ erzählt von solch einem Fall aus dem Jahr 1971. Der einst gefeierte Kriegsfotograf W. Eugene Smith (Johnny Depp) hat seine besten Tage hinter sich. Erst die Begegnung mit der Japanerin Aileen, die ihm von den verheerenden Auswirkungen einer Quecksilbervergiftung im japanischen Fischerdorf Minamata erzählt, weckt seinen alten Kampfgeist. Er kann den Herausgeber des Magazins „Life“ überzeugen, ihn nach Japan zu schicken, wo er der Geschichte auf den Grund gehen soll.

Johnny Depp spielt den von inneren Dämonen gequälten Fotografen zurückgenommen und glaubhaft. Das Anliegen des Films ist lobenswert, die Kameraarbeit herausragend, die Geschichte einigermaßen fesselnd – und doch bleibt „Minamata“ trotz emotional überbordender Musik über weite Strecken seltsam blutleer und distanziert. Genies haben auch mal einen schlechten Tag: Den nervigen Soundtrack hat Ryūichi Sakamoto komponiert, ein echter Minuspunkt.

GB 2020
115 min
Regie Andrew Levitas

LAS MIL Y UNA

(Panorama)

Iris ist 17, lesbisch und lebt in einer Sozialwohnungssiedlung irgendwo in Argentinien. Würde nicht den ganzen Tag die Sonne scheinen und aus den Radios brasilianische Musik quäken, könnte es aber ebenso gut Berlin-Marzahn sein. Alle um sie herum haben Sex, nur Iris nicht. Bis die selbstbewusste Renata die Bildfläche betritt – Iris verliebt sich. 
Die Coming-out und Coming-Of-Age-Geschichte ist langatmig erzählt, nur in wenigen Momenten entwickelt sich Charme. Regisseurin Clarisa Navas hat ihren Film fast dokumentarisch inszeniert. Ein bisschen erinnert „Las Mil Y Una“ damit an eine argentinische Version von Larry Clarks „Kids“, nur noch trübsinniger. Nach einer Stunde setzt das große Gähnen ein, kann aber auch an der schlechten Luft im überfüllten Kino gelegen haben. Gewinnt bestimmt den Teddy Award.

Englischer Titel „One in a Thousand“
Argentinien / Deutschland 2020
120 min
Regie Clarisa Navas