BREAKING NEWS IN YUBA COUNTY

BREAKING NEWS IN YUBA COUNTY

Immer wieder wird die Frage gestellt, ob es bei Framerate auch mal eine Null-Sterne-Bewertung gäbe. Bisher nicht. Doch „Breaking News in Yuba County“ wäre ein würdiger Kandidat. Lausiger Film mit scheußlicher deutscher Synchronisation.

Der einzige Verdienst von Regisseur Tate Taylor besteht darin, überqualifizierte Schauspieler überredet zu haben, in diesem Anwärter auf die Goldene Himbeere mitzuwirken: Allison Janney, Mila Kunis, Matthew Modine, Awkwafina, Ellen Barkin, Juliette Lewis, Wanda Sykes und viele mehr. Warum?

Die Geschichte wiederzugeben lohnt nicht. Irgendwas satirisch gemeintes mit Verbrechern, Lösegeld und dem Wunsch, im Fernsehen aufzutreten. „Breaking News in Yuba County“ wirkt, als habe sich ein sehr sehr unbegabter Regisseur zwanzig Jahre zu spät entschlossen, mal einen Film im Stil der Coen-Brothers zu versuchen. Das ist in jeder Hinsicht schief gegangen.

FAZIT

Top-Favorit für den schlechtesten Film 2021.

INFOS ZUM FILM

USA 2021
96 min
Regie Tate Taylor
Kinostart 24. Juni 2021

alle Bilder © Constantin Film

A QUIET PLACE 2

A QUIET PLACE 2

Die Fortsetzung (die dankenswerterweise nicht „A Quieter Place“ heißt) knüpft nahtlos an den Überraschungshit von 2018 an. Wobei, nicht ganz: der Film beginnt zunächst mit einem Rückblick auf den ersten Tag der Katastrophe – und der hat es in sich. Selten sah man ein Kinopublikum synchron so in den Sitzen hochschrecken.

Wer bis jetzt nur Bahnhof verstanden hat – hier eine kurze „Was bis jetzt geschah“-Zusammenfassung: Nach der Invasion von außerirdischen Monstern ist die Menschheit stark dezimiert. Die bitterbösen Viecher töten jeden, der ihnen in die Quere kommt. Ihr extrem gut ausgeprägter Gehörsinn ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits darf niemand, der überleben will, einen Mucks machen, andererseits lassen sich die Monster mit hochfrequenten Tönen halbwegs in Schach halten. Familie Abott – Vater, Mutter, zwei gehörlose Kinder – sind auf der Flucht. Ganz leise versteht sich. Am Ende des ersten Teils hat die Mutter – in einer nervenzerreißend stillen Szene – ein Baby zur Welt gebracht und ein Familienmitglied musste sein Leben lassen.

„A Quiet Place 2“ steht dem ersten Teil in nichts nach. Drehbuchautor und Regisseur John Karsinski (im wahren Leben der Ehemann von Hauptdarstellerin Emily Blunt) ist ein extrem spannender Film geglückt. Thriller inszenieren kann er. Was ihm nicht so liegt, sind Dialogszenen. Die sind in ihrer tranigen Labrigkeit ermüdend, da hängt der Film durch. Zum Glück gibt’s davon nicht allzu viele und der nächste Jump-Scare lauert schon um die Ecke.

FAZIT

Mehr Monster, mehr Stille, mehr Spannung. Gelungene Fortsetzung.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „A Quiet Place 2“
USA 2020
100 min
Regie John Krasinski
Kinostart 24. Juni 2021

alle Bilder © Paramount Pictures Germany

CHAOS WALKING

Neu im Kino

„Chaos Walking“ ist ein wandelndes Chaos, indeed. Die Idee mag im Roman noch funktioniert haben, auf der Leinwand nervt sie schon nach wenigen Minuten: Noch so banale Gedanken oder Überlegungen manifestieren sich als bunte Partikelwolke um die Köpf der Menschen und jeder kann die Gedanken des anderen hören und sehen.

Todd Hewitt (Spiderman Tom Holland) lebt auf einem fernen Planeten in einer Gesellschaft, in der es keine Frauen mehr gibt. Die sind alle tot, scheinbar von bösartigen Aliens ermordet. Eines Tages crasht das Raumschiff von Viola (Daisy Ridley) auf dem Planeten. Schlecht für sie, denn Frauen können ihre Gedanken verbergen und werden daher als Bedrohung angesehen. Die Männer reagieren ausgesprochen feindselig auf die Fremde. Bald wird Viola vom oberfiesen Bürgermeister der Stadt (Mads Mikkelsen, wie immer gut) zur Jagd freigegeben. Der spontanverliebte Todd will seiner Angebeteten helfen.

Nein, das Herstellungsjahr weiter unten ist kein Tippfehler, „Chaos Walking“ wurde tatsächlich schon 2017 gedreht. Zwei Jahre später gab es noch mal einen Nachdreh, wohl um zu retten, was zu retten ist. Der Kinostart wurde etliche Male verschoben, teils Corona-bedingt, tatsächlich aber, weil das Studio erkannt hat, dass der Film nichts taugt. Die Zutaten zum Desaster: Bösewichter mit nicht nachvollziehbarer Motivation, Charaktere, die kommen und gehen, ohne für die Geschichte eine Rolle zu spielen, dystopische Klischees zuhauf und planetengroße Löcher im Drehbuch. „Chaos Walking“ ist leider nicht einmal ein unterhaltsames B-Movie.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Chaos Walking“
USA 2017
108 min
Regie Doug Liman
Kinostart 17. Juni 2021

alle Bilder © STUDIOCANAL

FRÜHLING IN PARIS

FRÜHLING IN PARIS

Ganz erstaunlich: Im Alter von 15 schreibt sie das Drehbuch, mit 20 führt sie Regie. Nebenbei spielt sie noch die Hauptrolle und singt sogar das Titellied. Ihr Debüt-Film schafft es in die Auswahl von Cannes 2020.: Suzanne Lindon ist seit „Seize Printemps“ Frankreichs neues Film-Wunderkind.

Aus dem Leben eines Teenagers: Die sechszehnjährige Suzanne ist zutiefst gelangweilt. Jungs in ihrem Alter findet sie extra öde. Auf einer Skala von eins bis zehn sind bei ihr alle eine durchschnittliche Fünf.
Eines Tages begegnet sie Raphaël. Der Schauspieler ist Mitte dreißig und Suzanne sofort hin und weg. So wie das Mädchen von Schule und Freunden, so ist Raphaël von seinen allabendlichen Auftritten im immer gleichen Theaterstück ermüdet. Langweile kann eben auch verbinden. Als sich die beiden in die Augen schauen, ist es um sie geschehen – Liebe auf den ersten Blick.

Vom Erdbeermarmeladenbrot über Raphaëls Vespa bis zu Suzannes Lieblingsgetränk (Limonade mit Grenadine): Die Farbe Rot zieht sich symbolhaft durch die ganze Geschichte. Das ist ein bisschen plump und auch der Kunstgriff, die Darsteller als Zeichen ihres Verliebtseins in spontane Balletttänze ausbrechen zu lassen, wirkt künstlerisch bemüht. Doch die stilistischen Übertreibungen macht die talentierte Regisseurin mit ihren unverkrampften Dialogszenen und der stimmig eingefangenen Pariser Atmosphäre wieder wett.

FAZIT

Küsschen rechts, Küsschen links, Croissants zum Frühstück: „Frühling in Paris“ erfüllt, was der Titel verspricht – ein bisschen „Lolita“, ein bisschen „La Boum“ und französisch durch und durch.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Seize Printemps“
Frankreich 2020
74 min
Regie Suzanne Lindon
Kinostart 17. Juni 2021

alle Bilder © MFA+ FilmDistribution

BERLINALE SUMMER SPECIAL – TEIL 2

BERLINALE SUMMER SPECIAL – TEIL 2

Heute geht’s in Teil 2 weiter mit dem Programm vom 13. bis 20. Juni

ENCOUNTERS

NOUS

Das Leben ist eine lange, ruhige Bahnfahrt. „RER B“ heißt ein Nahverkehrszug, der Paris und sein Umland von Norden nach Süden verbindet. Regisseurin Alice Diop hat sich vom gewöhnlichen Leben entlang dieser Bahnlinie inspirieren lassen. Ihr Film beschreibt eine zerrissene Gesellschaft in einer Art Patchwork-Porträt. „Nous“ konserviert das alltägliche Leben in französischen Vorstädten. Die Existenz all der Migranten, Außenseiter und Alten wäre ohne dieses filmische Denkmal früher oder später vergessen gewesen. Gewinner der Encounters-Reihe.

Frankreich 2021
115 min
Regie Alice Diop 
Sommer-Berlinale ab 13. Juni

PANORAMA

CENSOR

England, 1980er-Jahre: Enid nimmt ihren Job als Filmzensorin ausgesprochen ernst. Schließlich müssen die unschuldigen Zuschauer vor brutalen Splatterszenen bewahrt werden. Blutige Enthauptungen und Vergewaltigungen fallen ihrer gestrengen Schere zum Opfer. Als Enid einen besonders verstörenden Film sichtet, ruft das Erinnerungen an ihre seit Jahren verschollene Schwester hervor.

Prano Bailey-Bond liefert mit „Censor“ eine liebevolle Hommage an die Ära der unterm Videotheken-Ladentisch gehandelten VHS-Horrorfilme der 80er-Jahre. Eine echte Entdeckung ist die Hauptdarstellerin: Niamh Algars spielt Enids zunehmend verstörte Wahrnehmung perfekt, während sich die Grenzen zwischen Realität und Einbildung langsam aufheben. Leider verliert der Film in der zweiten Hälfte an Spannung. Regisseur Bailey-Bond ist zu sehr in seine David Cronenberg-Zitatensammlung verliebt, die Geschichte wird immer wirrer.

GB 2021
84 min
Regie Prano Bailey-Bond
Sommer-Berlinale ab 14. Juni

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

WOOD AND WATER

Die frisch gebackene Rentnerin Anke freut sich auf einen gemeinsamen Familienurlaub mit den Kindern, doch Sohn Max sagt in letzter Minute ab. Er sitzt in Hongkong fest, die Flughäfen sind wegen der Protestbewegung geschlossen. Seine Mutter beschließt kurzerhand, um die halbe Welt zu fliegen und ihren Sohn zu besuchen.

Wenn Mutti eine Reise tut. Jonas Bak begleitet in seinem Spielfilmdebüt die eigene Mutter vom beschaulichen Schwarzwald in die chinesische Mega-Metropole. „Wood and Water“ bleibt dabei dicht an seiner Hauptfigur. Auf ihren Erkundungen in der Fremde begegnet sie verschiedenen Menschen, versucht zarte Freundschaften zu knüpfen. So entsteht ein stilles Porträt über das Älterwerden und die damit verbundene Einsamkeit in einer chaotischen Welt.

Die etwas laienhaft vorgetragenen Dialoge erinnern an die Regiearbeiten von Klaus Lemke. Und obwohl die Inszenierung teils unbeholfen wirkt – „Wood and Water“ ist ein Zwitter aus Spiel- und Dokumentarfilm – fühlt man sich Mutter Anke bald sehr nah und schaut ihr gerne dabei zu, wie sie sich in Hongkong einlebt und dabei einiges über sich selbst herausfindet.

Deutschland / Frankreich / Hongkong 2021
79 min
Regie Jonas Bak
Sommer-Berlinale ab 16. Juni

ENCOUNTERS

BLUTSAUGER

Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian verfolgen konsequent ihre Vision, aus der Berlinale ein verkopftes Undergroundfilmfestival zu machen. Viel schwer verdauliche Kost, die höchste intellektuelle Ansprüche erfüllt, plumpe Unterhaltung hat da nichts verloren.

Der deutsche Encountersbeitrag „Blutsauger“ passt ganz hervorragend ins neue Muster. Ein russischer Schauspieler wartet auf seine Überseefahrt nach Amerika. Beim Strandspaziergang lernt er eine mondäne Fabrikantin kennen, die sich als Vampir entpuppt. Es wird viel über Marx und Lenin diskutiert, und obwohl die Geschichte Ende der 1920er-Jahre spielt, tauchen immer wieder Coca-Cola-Dosen oder andere moderne Elemente im Bild auf. Klingt interessanter, als es ist. Julian Radlmaiers „Blutsauger“ hat den bemühten Charme einer Filmhochschul-Abschlussarbeit, besetzt mit Laiendarstellern. Dass Corinna Harfouch in einer kleinen Nebenrolle auftaucht, lässt sich nur als Freundschaftsdienst erklären.

Deutschland 2021
128 min
Regie Julian Radlmaier
Sommer-Berlinale ab 18. Juni

PANORAMA DOKU

THE LAST FOREST

Davi Kopenawa ist Schamane und Ältester der Yanomami, einer indigenen Gemeinschaft von Ur-Einwohnern an der brasilianisch-venezolanischen Grenze. Sein Volk ist in Gefahr, denn Brasilien wird seit 2019 von einem Verbrecher regiert. Jair Bolsonaro hat (neben vielen anderen Untaten) auch dafür gesorgt, dass tausende von Goldsuchern in den bislang geschützten Lebensraum der Yanomami eindringen dürfen. Die Fremden bringen Gift, Krankheit und Tod in den Regenwald.

Luiz Bolognesis erhellender Dokumentarfilm „The Last Forest“ gibt einen Einblick in die über tausendjährige Geschichte des Naturvolks. Er lässt dabei die Betroffenen selbst zu Wort kommen und verzichtet auf belehrende Offtexte. In einigen Szenen spielen die Yanomami mythologische Erzählungen ihres Volks nach – das ist zwar ein wenig schülertheaterhaft, hat aber auch einen gewissen Charme.

Originaltitel „A Última Floresta“
Brasilien 2021
74 min
Regie Luiz Bolognesi
Sommer-Berlinale ab 19. Juni

DAS LÄUFT SONST NOCH VOM 13. BIS 20. JUNI

BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN

Wettbewerb - Goldener Bär Bester Film

NATURAL LIGHT

Wettbewerb - Silberner Bär Beste Regie

WHEEL OF FORTUNE AND FANTASY

Wettbewerb - Silberner Bär Großer Preis der Jury

HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE

Wettbewerb - Silberner Bär Preis der Jury

JE SUIS KARL

Berlinale Special Gala

INDUSTRY EVENT ZUM NACHLESEN

BERLINALE SUMMER SPECIAL – TEIL 1

BERLINALE SUMMER SPECIAL – TEIL 1

Die Berlinale in zwei Stufen:
Nach dem Industry Event im März geht es jetzt mit viel Sonne und niedrigen Inzidenzwerten in die zweite Runde:
Das Summer Special für das öffentliche Publikum findet vom 9. bis zum 20. Juni als Open Air-Veranstaltung in Berlin statt.

Heute Teil 1 mit dem Programm vom 09. bis 12. Juni

FORUM

ANMAßUNG

Eine echte ANMAßUNG: Großbuchstaben mit einem ß gemischt!

Stefan S., ein zurückhaltender, höflicher Mann, verziert in seiner Freizeit gerne Grußkarten mit zarter Fadenstickerei. Stefan S. ist außerdem ein brutaler Frauenmörder. Vier Jahre vor seiner Haftentlassung starten die beiden Filmemacher Wright und Kolbe eine Dokumentation über den Sexualstraftäter. Der lässt sich nur widerwillig auf den Film ein. Er möchte nicht erkannt werden. Also greifen Wright und Kolbe zu einem ungewöhnlichen Kunstgriff: Stefan S. wird von einer Kinderpuppe gespielt. Die creepy Puppenszenen sind nur ein Teil des Projekts, „Anmaßung“ rekonstruiert den Weg vom unscheinbaren Bürger zum Gewaltverbrecher.

Ein weiteres Feel-Bad-Movie auf der Berlinale. Obwohl das Thema hochgradig deprimierend ist: Man kann sich der unheimlichen Sogkraft der Geschichte nicht entziehen.

Deutschland 2021
111 min
Regie Chris Wright und Stefan Kolbe
Sommer-Berlinale ab 09. Juni

PANORAMA

GLÜCK

Alltag in einem Berliner Bordell. Im Stundenrhythmus müssen die Frauen mit Männern schlafen, zu zweit, zu dritt, ganz wie es der Kunde wünscht. Sascha arbeitet hier schon seit Jahren als Prostituierte. Der Umgang mit den Kolleginnen und der Chefin ist liebevoll entspannt. Als eine Neue anfängt, fühlt sich Sascha sofort von ihr angezogen. Maria ist Italienerin, tätowiert und unangepasst. Die beiden ungleichen Frauen verlieben sich ineinander.

Regisseurin Henrika Kull hat jahrelang in Bordellen recherchiert, das merkt man ihrem zarten Liebesfilm an. Ohne zu moralisieren, schafft „Glück“ eine Begegnung auf Augenhöhe mit den Sexarbeiterinnen. Prostitution wird als Job dargestellt, als Service, als eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Die „Arbeitsszenen“ wirken deshalb so glaubhaft und authentisch, weil sie bei laufendem Betrieb in einem echten Bordell gedreht wurden.

Englischer Titel “Bliss“
Deutschland 2021
90 min
Regie Henrika Kull
Sommer-Berlinale ab 09. Juni

PANORAMA

GENDERATION

Sind Sie ein Mann oder eine Frau? Ja.

Transsexualität verwirrt immer noch viele Menschen, Diskriminierung und Anfeindung sind die Folgen. 23 Jahre nach „Gendernauts“ besucht Monika Treut erneut die Protagonisten ihres vielfach preisgekrönten Dokumentarfilms. Der Zusammenhalt in der Trans-Gemeinde in San Francisco erodiert, white money hat die Stadt fest im Griff. Wohnraum ist kaum noch bezahlbar, wer nicht vorgesorgt hat, kann sich das Leben in der Bayarea nicht mehr leisten. Vier schlimme Jahre Trump-Regierung haben mehr Schaden verursacht als so manches Erdbeben. Gelder wurden gekürzt oder gestrichen, die Kulturszene kämpft ums Überleben.

Die 90er-Jahre sind noch gar nicht so lange her, und trotzdem hat sich die Welt seitdem von links auf rechts gedreht. Vieles ist glatter, professioneller, gleichzeitig unsolidarischer und kälter geworden. Monika Treut verklärt nicht, wird nicht unnötig nostalgisch. „Genderation“ ist ein freundschaftlicher Besuch im Leben der Frauen, die zu Männern wurden und der Männer, die zu Frauen wurden.

Deutschland 2021
88 min
Regie Monika Treut
Sommer-Berlinale ab 10. Juni

Toupierte Kurzhaarperücke, Ausnahmestimme und ein Tanzstil, den sich Mick Jagger bei ihr abgeschaut hat: Tina Turner – der Überstar der 1980er und 90er-Jahre. 

Klassisch, vielleicht etwas zu brav strukturiert, erzählt „Tina“ anhand von Archivaufnahmen und Interviews die außergewöhnliche Story vom Aufstieg Anna Mae Bullocks zum Weltstar mit bis heute über 180 Millionen verkauften Platten.

In der öffentlichen Wahrnehmung wird sie lange auf ihre Zeit mit Ike Turner reduziert. Kein Talkshow-Auftritt, bei dem sie nicht früher oder später nach ihrem gewalttätigen Ex-Mann befragt wird. 

Beste Entscheidung ihrer Karriere: Nach der Scheidung besteht sie darauf, den Künstlernamen „Tina Turner“ weiter führen zu dürfen. Mit bemerkenswerter Ehrlichkeit versucht sie zunächst in einem Interview mit dem People Magazine, später in einer Autobiografie (ein Bestseller) ihre Version der Geschichte darzulegen. Erst mit dem Einsetzen ihres großen Erfolgs als Solokünstlerin kann sie sich befreien. Sehenswerter Film über eine Frau, von der man schon alles zu wissen glaubte.

USA 2020
118 min
Regie Daniel Lindsay und T.J. Martin
Sommer-Berlinale ab 10. Juni

BERLINALE SPECIAL

COURAGE

„Courage“ erzählt vom Sommer 2020 während der Präsidentschaftswahlen in Weißrussland. Regisseur Aliaksei Paluyan begleitet die drei Schauspieler:innen Maryna, Pavel und Denis mit der Kamera. Familienmanagement, gemeinsame Theaterproben und der andauernde Kampf um das Recht auf Meinungsfreiheit und Demokratie bestimmen ihren Alltag. Belarus steht am Rande eines Bürgerkriegs. Immer wieder werden die friedlichen Massenproteste vom Sicherheitsapparat des Regimes brutal niedergeschlagen. Deprimierend, denn das Land ist kein weit entfernter Schurkenstaat, sondern Teil Europas. Erst vor Kurzem hat der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko mit der erzwungenen Landung eines Flugzeugs der Welt gezeigt, was er von Demokratie hält – wenig bis gar nichts. 

Deutschland 2021
90 min
Regie Aliaksei Paluyan
Sommer-Berlinale ab 11. Juni

PERSPEKTIVE DEUTSCHES KINO

IN BEWEGUNG BLEIBEN

DDR, Januar 1988: Das Tanzstück „Keith“ von Birgit Scherzer (mit der Musik vom berühmten Köln Concert) wird an der Komischen Oper in Berlin uraufgeführt. Knapp ein Jahr später haben vier der sieben Tänzer mit der Choreografin die DDR verlassen.

Regisseur Salar Ghazi besucht für seinen Dokumentarfilm „In Bewegung bleiben“ die „Republikflüchtlinge“ 30 Jahre später. Die Erinnerungen an ihre Ausbildung, unterschnitten mit privaten VHS-Aufnahmen, geben einen interessanten und teils sentimentalen Einblick in das Lebensgefühl in Ostdeutschland vor der Wende.

Deutschland 2021
140 min
Regie Salar Ghazi
Sommer-Berlinale ab 12. Juni

DAS LÄUFT SONST NOCH VOM 09. BIS 12. JUNI

THE MAURITANIAN

Berlinale Special Gala

ALBATROS

Wettbewerb

INTRODUCTION

Wettbewerb - Silberner Bär: Bestes Drehbuch

DIE SAAT

Perspektive Deutsches Kino

MEMORY BOX

Wettbewerb

ICH BIN DEIN MENSCH

Wettbewerb - Silberner Bär Beste Hauptrolle Maren Eggert

UNA PELICULA DE POLICIAS

Wettbewerb - Silberner Bär Herausragende künstlerische Leistung

RENGETEG – MINDENHOL LÁTLAK

Wettbewerb - Silberner Bär Beste Nebenrolle Lilla Kizlinger

Vị

Encounters

INDUSTRY EVENT ZUM NACHLESEN

MALASAÑA 32 – HAUS DES BÖSEN

MALASAÑA 32 – HAUS DES BÖSEN

„Malasaña 32 – Haus des Bösen“ hat alles, was ein echter Haunted-House-Thriller braucht: dunkle Korridore, knarzende Schaukelstühle, schrill klingelnde Telefone und natürlich einen bösen Geist.

Im Jahr 1976 ziehen die Olmedos von ihrem Heimatdorf in die spanische Hauptstadt Madrid. Die Familie kauft ein möbliertes Apartment in der begehrten Calle de Manuela Malasaña. Dort hoffen die Sechs auf einen Neuanfang. Doch schon bald müssen sie feststellen, dass in ihrer neuen Wohnung etwas ganz und gar nicht stimmt.

Inszenatorisch ist das alles kein Neuland: Die oft gesehenen Versatzstücke kennt man aus „Amityville Horror“ und vor allem der „Conjuring“-Serie. Der 5-jährige Rafa sieht als erster Gespenster – Kinder haben für so was Antennen, das weiß man spätestens seit “Poltergeist”. Originell geht anders. „Malasaña 32“ ist trotz Drehbuchschwächen und zu vieler Jumpscares ein stimmungsvoller Horrorfilm: Die Kulissen, die Farbgebung, die Kameraführung – visuell ist der Film herausragend und erinnert an eine Guillermo del Toro-Produktion.

FAZIT

Eine kleine Prise Extragrusel gibt es obendrauf: Angeblich basiert die Geschichte auf wahren Begebenheiten.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Malasaña 32“
Spanien 2019
104 min
Regie Albert Pintó
Kinostart 17. Juni 2021

alle Bilder © STUDIOCANAL

AZNAVOUR BY CHARLES

AZNAVOUR BY CHARLES

Der absolute Albtraum für jeden Influencer: Jahrzehntelang Aufnahmen machen und dann sieht sie keiner. Bei heutigen Instagram-Stars wäre das nicht weiter tragisch, bilden sie doch entweder den schnöden Alltag ab, den man eh selbst erlebt, oder zeigen die immer gleichen Strand-, Body-, Party-, Food-Arrangements.

Ganz anders Charles Aznavour. Der armenisch-französische Schauspieler und Chansonnier hat wirklich was erlebt und war seiner Zeit weit voraus: Seit Ende der 1940er-Jahre führte er ein filmisches Tagebuch auf Schmalfilm und 16 mm. Der Legende nach bekam er seine erste Kamera von Édith Piaf geschenkt, deren Sekretär er damals war.

Aznavour entpuppt sich im Nachhinein nicht nur als fabelhafter Sänger und Schauspieler, sondern auch als talentierter Chronist. Beinahe hätte die Nachwelt von all dem nichts erfahren, denn bis kurz vor seinem Tod lagerten die Filmschätze in einer geheimen Kammer in Aznavours Haus. 2017 übergab er das bis dahin ungesichtete Material dem Filmemacher Marc di Domenico und gewährte ihm freie Hand.

Die über 40 Stunden gefilmtes Leben wurden geschnitten, mit Aznavours Musik und Auszügen aus seinen Memoiren unterlegt, gesprochen von Schauspieler Romain Duris. Das hat den Charme eines privaten Kinoabends, bei dem Opa von früher erzählt. Allerdings ein formidabler Opa mit einer aufregenden Vergangenheit.

Wie im wahren Leben hat der Blick zurück zwischendurch auch mal zähe Momente, vor allem wenn die Bilder zu artig aufs Wort geschnitten sind oder wenn sich der Begleittext in zu allgemeinen Lebensweisheiten ergeht.

Umso fesselnder sind die Bilder von unwiderruflich vergangenen Zeiten im Paris oder New York der 60er-Jahre und (natürlich) die sehr privaten Erinnerungen: Aznavour, ein Meister der Euphancolie (© Benedict Wells), analysiert seine Beziehungen zu den Frauen – den Weg vom ersten euphorischen Verliebtsein bis zum melancholischen Ende.

Aznavours Karriere war eine der beständigsten des 20. Jahrhunderts. Er stand in zahlreichen Filmen vor der Kamera, unter anderem für Truffaut und Schlöndorff. Bis heute verkaufte er fast 200 Millionen Platten und war Autor von über 1.000 Chansons. Sein letztes Konzert gab er 2018 in Japan, nur wenige Wochen vor seinem Tod.

FAZIT

„Aznavour by Charles“ – ein ungewöhnlich intimer Einblick in das Leben eines großen Entertainers.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Le regard de Charles“
Frankreich 2019
83 min
OmU
Regie Charles Aznavour und Marc di Domenico
Kinostart 17. Juni 2021

alle Bilder © Arsenal Filmverleih

THE SECRETS WE KEEP – SCHATTEN DER VERGANGENHEIT

Neu im Kino

Schlimme Geschichte: Maja (Noomi Rapace) wird in Rumänien während des Zweiten Weltkriegs von Nazis vergewaltigt. 15 Jahre später hat sie sich mit ihrem Mann Lewis ein neues Leben in einem amerikanischen Vorort aufgebaut. Die Vergangenheit versucht sie zu vergessen, ihrer Familie hat sie nichts von ihrem Trauma erzählt. Während eines Ausflugs mit ihrem Sohn glaubt Maja, einen ihrer Peiniger, den Deutschen Karl,  wiederzuerkennen. Sie beschließt, den Mann zu entführen und ihn im Keller ihres Hauses zu einem Geständnis zu zwingen.

“Schatten der Vergangenheit” – uuuhh! Klingt wie ein Hitchcockfilm aus den 1940er-Jahren. Yuval Adlers solide inszenierter Psychothriller beginnt dann auch verheißungsvoll verwirrend: Ist Maja verrückt? Bildet sie sich alles nur ein? Verdächtigt sie einen Unschuldigen? Die Antworten auf diese Fragen um Majas Geisteszustand hätten den spannenderen Film ergeben. Drehbuch und Regie interessieren sich nicht genug für die potentiell interessante Grundidee: Nach dem Kidnapping folgen zu viele blutige Folterszenen im Keller – immer wieder von Flashbacks aus dem Krieg unterbrochen. Das ist auf Dauer redundant. Am Ende ist es fast egal, ob Karl schuldig ist oder nicht.

Noomi Rapace gibt im 50er-Jahre Setting die kettenrauchende Rächerin – eine Rolle, die sie seit Lisbeth “The Girl with the Dragon Tattoo” Salander aus dem Effeff beherrscht.

FAZIT

Durchwachsenes B-Picture mit guten Darstellern.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Secrets We Keep“
USA 2020
98 min
Regie Yuval Adler
Kinostart 27. Mai 2021

alle Bilder © Leonine

CRUELLA

CRUELLA

Disney verdonnert zu absolutem Stillschweigen und Spoiler-Verbot bei Höchststrafe. Deshalb nur ein Satz zum Inhalt: „Cruella“ erzählt mit jeder Menge Camp die Anfänge der aus „101 Dalmatiner“ bekannten Super-Schurkin mit der unguten Vorliebe für etwas zu echten Animal-Print.

Schon wieder die nächste Realverfilmung eines Zeichentrickklassikers aus dem Mäusestudio. Im Unterschied zu den bisherigen Versuchen arbeitet sich diese Neuinterpretation aber nicht eins zu eins an ihrer Vorlage ab. Und – Überraschung: „Cruella“ ist richtig gut geworden. Look und Story sind erstaunlich düster und mutig für einen Disneyfilm – mehr „The Joker“, weniger „Pongo und Perdita“.

Sollte der Film im nächsten Jahr Oscars gewinnen (falls es bis dahin noch Oscars gibt, die Golden Globes haben sich ja gerade selbst erledigt), dann verdientermaßen für Hair & Makeup, Production Design und Kostüme!

Laufsteg, Glamour, Designerdrama – wer nach Ende der originalbesetzten TV-Show „Project Runway“ Modeentzugserscheinungen verspürt, kommt hier auf seine Kosten. „Cruella“ ist ein einziges Fashion-Statement. Kostümdesignerin Jenny Beavan (u.a. „Mad Max – Fury Road“) präsentiert eine fantastische Kollektion nach der anderen. Zurückhaltung ist passé – das ist wie eine Haute Couture-Show auf Koks, ausgedacht von Vivienne Westwood, Yves Saint Laurent und Karl Lagerfeld.

„Cruella“ ist all das, was „Birds of Prey (And the Fantabulous Emancipation of One Harley Quinn)“ gerne gewesen wäre: originell, schräg und mit liebevoll gzeichneten Figuren erzählt. Die Stars des Films sind (neben den Kostümen) die beiden oscargekrönten Emmas. Emma Stone mixt in der Titelrolle Bosheit, Irrsinn und Verletzlichkeit zu einem perfekten Cocktail. Und Emma Thomson spielt als niederträchtige Baroness von Hellman sogar Meryl Streeps Prada-Hexe an die Wand.

FAZIT

Fantasievoller, Disney-untypischer Spaß. Eher nix für Kinder.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Cruella“
USA 2020
134 min
Regie Craig Gillespie
Kinostart 27. Mai 2021 (wo möglich)
und ab dem 28. Mai mit VIP-Zugang* auf Disney+

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

NEUBAU

Markus spült Geschirr, bügelt seine Hose, raucht und trinkt Bier aus der Flasche. In der Kneipe traut er sich nicht aufs Männerklo, geht draußen in die Hocke und pinkelt. Markus war früher mal eine Frau. Ein Transmann in der Uckermark, hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seinen pflegebedürftigen Omas und der Sehnsucht nach einem anderen Leben in Berlin. Immer wieder erträumt er sich eine queere Familie, die ihn aus seiner Einsamkeit befreit. Sein eintöniges Dasein ändert sich erst, als er sich in den Fernsehmechaniker Duc verliebt.

Transsexualität in Brandenburg: Das klingt nach Ausgrenzung, Konflikten und Drama. Doch dafür interessieren sich Autor/Hauptdarsteller Tucké Royale und Regisseur Johannes M. Schmit herzlich wenig. Ihnen geht es um die stille Beleuchtung des Alltags. Und dafür lassen sie sich in ihrem minimalistischen Debütfilm viel Zeit. So langsam wie das reale Leben in Brandenburg, so langsam fließt auch ihr schwuler Heimatfilm dahin. Der Saarländische Rundfunk lobt, „Neubau“ entfalte sich „ohne dramaturgische Zuspitzungen“. Das stimmt – weniger euphemistisch könnte man das auch als langweilig bezeichnen.

Ganz und gar nicht langweilig dagegen ist die berührende Nebenhandlung von Markus und seinen beiden Großmüttern: Alma ist dement und entgleitet immer mehr dem Dasein, Sabine bereitet sich tapfer auf den Tod ihrer Freundin vor. Die stärksten Szenen des Films. Und allemal interessanter als das schon zu oft verfilmte Queer-Thema „schwuler Junge auf dem Land“.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2020
81 min
Regie Johannes Maria Schmit
ab 1. April online bei der queerfilmnacht und irgendwann im Kino, sobald es wieder möglich ist

alle Bilder © Edition Salzgeber

DER MENSCHLICHE FAKTOR

Fünf bis sechs Filme am Tag sind eben doch zu viel. Deshalb hier ein kleiner Berlinale-Nachklapp: der sehenswerte PANORAMA-Beitrag „Der menschliche Faktor“ von Ronny Trocker.
Jan und Nina leiten eine Werbeagentur in Hamburg. Die Geschäfte könnten besser laufen, deshalb nimmt Jan, ohne es mit seiner Frau abzusprechen, einen Neukunden an. Doppelt schlimm: Er missachtet nicht nur die „no politics“-Regel der Agentur, es handelt sich auch noch um eine populistische Partei – die AfD lässt grüßen. Nina ist sauer. Um die Wogen zu glätten, fahren die beiden mit ihren Kindern übers Wochenende in ihr Ferienhaus an der belgischen Küste. Doch mit der Erholung ist es schnell vorbei, als ein mysteriöser Einbruch das Familiengefüge empfindlich stört. Keiner kann eine genaue Täterbeschreibung geben – die Kinder haben nichts gesehen, Jan war einkaufen und Nina hat nur Schritte gehört.

„Der menschliche Faktor“ ist ein subtiler Psychothriller, der seine Figuren langsam in ein feines Netz aus Manipulation, wachsendem Misstrauen und subjektiver Wahrnehmung spinnt. Klingt verkopft, ist aber spannend. Der Einbruch wird aus verschiedenen ineinanderfließenden Perspektiven gezeigt. Was gerade noch klar schien, ist durch die Sicht eines anderen Familienmitglieds plötzlich wieder infrage gestellt. So behauptet der achtjährige Sohn Max, der Vater habe sich während des Vorfalls versteckt. Und die vagen Aussagen von Nina lassen bei der Polizei Zweifel aufkommen, ob es den Einbruch überhaupt gegeben hat.

Ronny Trocker ist ein fesselndes Familiendrama mit hervorragender Besetzung gelungen: Mark Waschke (immer gut) überzeugt als verunsichertes Alphatier Jan und die wunderbare Schweizerin Sabine Timoteo als Nina möchte man sowieso gerne öfters sehen. Falls sich auch irgendwer fragt: Woher kenne ich Sabine Timoteo noch mal? Die hat in der Andreas Steinhöfel-Romanverfilmung „Die Mitte der Welt“ die Mutter gespielt.

FAZIT

„Der menschliche Faktor“ feierte im Sommer 2020 seine Premiere beim Sundance Film Festival. Da es sich um eine Koproduktion des „Kleines Fernsehspiel“ handelt, stehen die Chancen gut, dass er demnächst im ZDF zu sehen sein wird. Wahrscheinlich um 23.30 Uhr – für einen 20.15 Uhr-Sendeplatz ist er einfach zu gut.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Italien / Dänemark 2021
102 min
Regie Ronny Trocker
Demnächst im Kino oder Fernsehen

alle Bilder © Klemens Hufnagl / zischlermann filmproduktion

YES, GOD, YES – BÖSE MÄDCHEN BEICHTEN NICHT

Männer sind wie Mikrowellen: schnell heiß! Frauen sind wie Backöfen: Sie brauchen, bis sie auf Temperatur kommen! Sex vor der Ehe ist Sünde! Masturbation führt auf direktem Weg in die Hölle! Solcherlei Weisheiten muss sich Alice jeden Tag in der Schule anhören. Das steht im krassen Widerspruch zu ihrer  Vorliebe für die verschwitzte Sexszene aus „Titanic“ oder ihre „unkeuschen“ Handlungen beim Onlinechat.

Strafe muss sein: Alice wird für ein langes Wochenende ins Kirchenlager geschickt. Dass die von der Kirche gepredigten Verhaltensregeln Theorie sind und Theorie nicht gleich Praxis bedeutet, begreift sie dort schnell. Weder die züchtigen Vorzeigeschüler noch der Keuschheit predigende Pfarrer halten sich an die selbstauferlegten strengen Vorgaben. 

„Yes, God, Yes“ ist eine charmante und sehr kurze – ohne Abspann läuft der Film gerade mal 72 Minuten – Teenager-Komödie über das sexuelle Erwachen eines katholischen Schulmädchens im Jahr 2001. Regisseurin Karen Maine hat ihren eigenen Kurzfilm als abendfüllenden (sic!) Spielfilm neu inszeniert. Ganz lustig, wie sie dabei das heuchlerische Getue der Kirche um Sexualität und Sünde vorführt. Der Film ist in keinster Weise revolutionär und hätte hier und da ruhig etwas mehr wagen können, entwickelt aber trotzdem seinen eigenen, unperfekten Charme.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Yes, God, Yes“
USA 2020
78 min
Regie Karen Maine
ab 14. Januar 2021 auf Amazon Prime Video
ab 29. Januar digital und ab 05. Februar auf DVD und Blu-ray erhältlich

alle Bilder © Capelight Pictures

RUN

Mutterliebe kann erdrückend sein: Diane (Sarah Paulson) hat ihre Tochter Chloe (Kiera Allen) in völliger Isolation großgezogen. Das schwerkranke, an den Rollstuhl gefesselte Mädchen kann nichts tun, ohne dabei von ihrer übergriffigen Mutter kontrolliert zu werden. Diane verabreicht Chloe ihre täglichen Medikamente, macht Physiotherapie, verordnet eine strikte Diät – scheinbar alles, um Chloes Leben erträglicher zu machen. Doch nach ein paar irritierenden Begebenheiten beginnt Chloe, die Motive ihrer Mutter infrage zu stellen.

Das kranke Verhältnis der Figuren erinnert stark an die berühmte Stephen-King-Geschichte „Misery“, in der eine wahnhafte Leserin ihren Lieblingsautor in Gefangenschaft nimmt.

Geiselhaft bei Mutti: Der kurzweilige Thriller „Run“ erfindet das Rad zwar nicht neu, bietet aber genügend clevere Wendungen über 90 Minuten. Die Einfachheit des Plots tut der Spannung dabei keinen Abbruch. Beide Schauspielerinnen sind top: Newcomerin Kiera Allen ist auch im wahren Leben an den Rollstuhl gefesselt (echte Inklusion) und Sarah Paulson hat mittlerweile die Fähigkeit perfektioniert, sich auf der Stelle von hysterisch über zerbrechlich zu „Mommie Dearest“ sehr, sehr wütend zu wandeln.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Run“
USA 2020
89 min
Regie Aneesh Chaganty
ab 14. Januar 2021 auf DVD und Blu-ray

alle Bilder © Leonine

WONDER WOMAN 1984

Enttäuschendes Sequel

WW84 beginnt mit einem Rückblick in die Kindheit der Superheldin: Die kleine Diana wettstreitet mit erwachsenen Amazonen in einem Kampf, der wie eine Folge der RTL-Show „Ninja Warrior“ aussieht. Die Holzhammer-Botschaft dieser Eröffnungsszene lautet: Echte Helden betrügen nicht.

Nach diesem käsigen Einstieg springt die Handlung ins titelgebende Jahr 1984 – vor allem modetechnisch eines der deprimierendsten Jahrzehnte der Menschheitsgeschichte. Die Netflix-Serie „Stranger Things“ war Impulsgeber und eine Zeit lang hat es ja auch Spaß gemacht, sich wieder an Schulterpolstern und Synthesizermusik zu verekeln. Nur wie lange soll diese Idee noch ausgequetscht werden? Wenn wenigstens die Augen schmerzen würden, wie beim Anblick des quietschbunten Kinoplakats, doch der Retro Look in WW84 ist nur ein Gimmick, die zu moderne Bildsprache und Spezialeffekte torpedieren das gewünschte Zeitgeist-Feeling.

Visuell also eher schwach und auch die Story reißt’s nicht raus. Die ist in etwa so originell wie ein „Lustiges Taschenbuch“ aus Entenhausen: Ein antiker Zauberstein erfüllt bei Berührung jeden Wunsch. Doch wie bei der berühmten Geschichte mit der Affenpfote hat das Wünschen mitunter katastrophale Nebenwirkungen.
Wonder Woman Diana (Gal Gadot) sehnt sich natürlich ihre große Liebe Steve (Chris Pine) ins Leben zurück. Der war im ersten Weltkrieg den Heldentod gestorben und findet sich nun unversehens in den geschmacklosen 1980er-Jahre wiedergeboren. Das sorgt für ein paar erwartbare, nur mäßig komische „Fisch aus dem Wasser“-Momente. Den gleichen Drehbuchkniff hatte schon der erste Teil mit einer über die Zukunft staunenden Diana viel erfolgreicher angewandt.

DC did it again und liefert einen weiteren unterwältigenden Superhelden-Film ab. „Wonder Woman 1984“ leidet an klassischen Fortsetzungsschmerzen: Mehr Lärm plus mehr CGI plus mehr Bösewichter ergibt selten einen besseren Film. Alles in allem ein schwacher zweiter Teil mit ein paar gelungenen Momenten. Möglicherweise entfaltet der Film auf der großen Kinoleinwand mehr visuelle Strahlkraft. WW84 ist bisher nur auf dem US-Bezahlsender HBO verfügbar. Ein Starttermin für Deutschland steht noch aus.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Wonder Woman 1984“
USA 2020
151 min
Regie Patty Jenkins
In den USA (und für trickreiche Deutsche) seit 25. Dezember auf HBO verfügbar

alle Bilder © 2020 Warner Bros. Entertainment Inc.

UND MORGEN DIE GANZE WELT

„Wer unter 30 nicht links ist, der hat kein Herz. Und wer mit über 30 noch links ist, der hat keinen Verstand.“ Getreu diesem Motto schließt sich die zwanzigjährige Luisa einer Antifa-Gruppe in Mannheim an – ja, auch in der verschlafenen Schachbrett-Stadt gibt es politischen Kampf. Luisa und ihre Freunde Alfa und Lenor haben Großes vor: Unter einer Revolution gegen das herrschende System machen sie’s nicht. Schließlich steht im 20. Artikel des Grundgesetzes: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Also alles Auslegungssache. Die klaren Feinde sind die „Faschos“ – in diesem speziellen Fall ein Schlägertrupp, der für Wahlkampfveranstaltungen einer fiktiven, aber klar der AfD nachempfundenen Partei als Wachschutz angeheuert wird. Luisa zögert zunächst, doch Alfa und Lenor halten auch den Einsatz von Gewalt für ein legitimes Mittel. Was als Farbeier-werfender Spaß beginnt, läuft bald aus dem Ruder.

Alfa, Lenor und Luisa: Das klassische Trio aus Herz, Hirn und Faust. Doch Luisas Aufruf zu immer brutaleren Aktionen geht den Jungs bald zu weit. Das brave Mädchen aus gutem Haus mutiert zur rücksichtslosen Kämpferin im bewaffneten Widerstand. Dass sich Luisa in den coolen Alfa verliebt, der wie eine jugendliche Andreas-Baader-Kopie daherkommt, reicht kaum als Erklärung für ihre zunehmende Radikalisierung aus. Ihre kompromisslose Entwicklung bleibt schwer nachvollziehbar und ihre Motivation, zur Waffe zu greifen und auf Naziköpfe zu zielen, diffus.

Was wie ein brisanter Politthriller beginnt, verpufft am Ende ohne großen Erkenntnisgewinn. Immerhin taugt „Und morgen die ganze Welt“ zur Bestätigung des eigenen Weltbilds: Die Linken sind die Guten, die Rechten sind die Bösen – aber das wusste man auch schon vorher.

Überraschenderweise lief der Film als einziger deutscher Beitrag bei den internationalen Filmfestspielen von Venedig. Der „Tagesspiegel“ fragte ganz besorgt, ob es verhältnismäßig sei, „dass sich Julia von Heinz im Rampenlicht des Wettbewerbs behaupten“ müsse – ganz so, als sei die Regisseurin ein zartes Pflänzchen, das es vor der bösen Realität zu schützen gelte. Eine unbegründete Sorge, denn Hauptdarstellerin Mala Emde gewann im September den Preis der unabhängigen Filmkritik Bisato d’Oro als beste Hauptdarstellerin.

FAZIT

Ästhetisch näher am kleinen Fernsehspiel als am großen Politkino.

Nachtrag: „Und morgen die ganze Welt“ geht 2021 für Deutschland ins Rennen um den Oscar für den besten ausländischen Film und sticht damit Favoriten, wie „Undine“ und „Berlin Alexanderplatz“ aus. Sehr erstaunlich…

Deutschland / Frankreich 2020
111 min
Regie Julia von Heinz
Kinostart 29. Oktober 2020
und dann wieder ab 03. Dezember 2020

alle Bilder © Alamode

GLITZER UND STAUB

Die eine Hand am Sattelknauf, die andere elegant über den Kopf gehalten, wie um die Augen vor dem Sonnenlicht zu schützen. Einziges Ziel ist es, das Gleichgewicht zu halten. Ein kurzer, brutaler Tanz – wer herunterfällt, hat verloren.

Bullenreiten ist ein unerfreulicher Sport. In seiner Sinnlosigkeit rückt er in die Nähe des spanischen Stierkampfs. Tiere leiden zum Amüsement des Zuschauers. Zum Glück hat „Glitzer und Staub“ mehr zu bieten als Bilder von gequälten Tieren, denen mit der Spore in die Seite getreten wird. Im Mittelpunkt des Dokumentarfilms stehen vier Mädchen zwischen 10 und 17 Jahren, die der Traum verbindet, ein echtes Cowgirl zu werden. Mit dem Klischee vom rosa gekleideten, mit Puppen spielenden Mädchen wird dabei gründlich aufgeräumt.

Die Filmemacherinnen Anna Koch und Julia Lemke erzählen vom Mut und Ansporn, sich in einem gefährlichen, männerdominierten Sport zu beweisen. „Never scared“ steht auf dem Gürtel von Ariyana Escobedo. Eine toughe Aussage für ein kleines Kind. „Jetzt erst recht“ könnte das trotzige Motto von Maysun lauten. Die 10-Jährige saß schon auf einem Pferd, bevor sie laufen konnte. Ihr Vater, der sich eigentlich einen Sohn gewünscht hätte und daraus auch keinen Hehl macht, glaubt, dass die Zuschauer „krasse Typen auf einem krassen Bullen sehen wollen“ – keine besonders ermutigenden Worte für seine Tochter.

Bullenreiten, praktiziert von kleinen Mädchen: eine Nische in der Nische. Die Neugierde der Zuschauer wird sich in Grenzen halten – schade, denn „Glitzer und Staub“ ist ein sehenswerter, exzellent fotografierter Dokumentarfilm über eine verborgene, seltsame Welt im Wilden Westen.

Deutschland 2020
93 min
Regie Anna Koch und Julia Lemke
Kinostart 29. Oktober 2020

alle Bilder © Port au Prince Pictures GmbH

SCHWESTERLEIN

Nina Hoss hätte bei der diesjährigen Berlinale eigentlich den silbernen Bären für die beste weibliche Hauptrolle verdient. Als Schwester(lein) des krebskranken Theaterschauspielers Sven entfaltet sie eine große Kraft, der ganze Film kreist um sie. Ihre Figur, die Autorin Lisa, muss sich gegen eine schier unendliche Flut an Dramen und Problemen stemmen: Ihre Mutter ist eine gefühlskalte Egoistin, ihr Ehemann will lieber Karriere in der Schweiz machen und der Regisseur ihres Bruders zweifelt an dessen Genesung und plant schon mal die nächste Spielzeit ohne ihn.

Nach „Undine“ (mit der tatsächlichen Gewinnerin des Bärens, Paula Beer) noch ein Märchen: „Hänsel und Gretel“ zieht sich als roter Faden durch den Film. Lisa schreibt ihrem Bruder eine Neuinterpretation der Grimm’schen Geschichte auf den Leib, gleichzeitig sind die verlorenen Kinder in der Gewalt der Hexe ein allzu offensichtliches Symbol für den Kampf der Geschwister gegen den Krebs.

„Schwesterlein“ changiert zwischen Illusion und überhöhtem Realismus. Thomas Ostermeier spielt – was sonst ? – den Regisseur, Lars Eidinger eine sterbenskranke Version des Schauspielers Lars Eidinger. Über so viel Nabelschau muss man erst mal hinwegsehen. Die Station des Sterbens werden fast artig abgehakt: der letzte besoffene Technotanz, der vermeintlich freiheitsbringende Paragliding-Flug, die hässlichen Krankenhausszenen mit viel Blut und piepsenden Maschinen. Das sind bekannte Bilder, da bewegt sich das Drama auf ausgetretenen Pfaden.

FAZIT

„Schwesterlein“ ist harte Kost. Als Film eher Mittelmaß, als Demonstration schauspielerischen Könnens eine Wucht.

Schweiz 2020
99 min
Regie Stéphanie Chuat und Véronique Reymond
Kinostart 29. Oktober 2020

alle Bilder © Weltkino Filmverleih GmbH

SCHLAF

Flugbegleiterin Marlene leidet unter wiederkehrenden Albträumen. Irgendwann schnappt sie über, verfällt in eine Art Schockstarre. Ihre Tochter Mona will helfen und macht sich auf die Suche in die Vergangenheit ihrer Mutter. In einem 70er-Jahre Dorfhotel namens Sonnenhügel findet sie irritierende Antworten.

In diesem Film wird viel gewürgt. Männer würgen Frauen, Frauen würgen Männer und manchmal würgen sich Menschen auch ganz alleine selbst. Klingt ein bisschen wie ein Edgar-Wallace-Streifen aus den 60ern. Für das verschwurbelte ZDF-Kleine-Fernsehspiel entschädigen nur die Schauspieler: Sandra Hüller als Marlene ist wie immer gut, hat hier jedoch fast nichts zu tun. Gro Swantje Kohlhof überzeugt als Tochter am Rande des Nervenzusammenbruchs. Marion Kracht und August Schmölzer spielen die Hotelbesitzer zwar schön zwielichtig, scheinen sich aber aus einem ganz anderen Film hierher verirrt zu haben.

Endlich mal wieder ein Vorurteil bestätigt: Deutsche können keine gescheiten Horrorfilme drehen! Es ist schon eine Kunst, einen Brei zu versalzen und gleichzeitig fade schmecken zu lassen. Das heillos überfrachtete Drehbuch bedient sich großzügig bei allerlei Genreklassikern wie „The Conjouring“ und „The Shining“, ohne etwas aufregend Neues daraus zu machen.

FAZIT

Heimathorror im Provinzhotel.

Deutschland 2020
102 min
Regie Michael Venus
Kinostart 29. Oktober 2020

alle Bilder © Edition Salzgeber

THE MORTUARY – JEDER TOD HAT EINE GESCHICHTE

Rechtzeitig zu Halloween kommt nicht nur eine 4K-Abtastung des George A. Romero-Zombie-Klassikers „Dawn of the Dead“ in die Kinos, sondern auch diese erfrischend altmodisch gemachte Horror-Anthologie. Vier gruselige Kurzgeschichten, von einer Rahmenhandlung eingefasst, in der ein furchterregender Leichenbestatter einem jungen Mädchen von den schaurigsten Todesfällen der vergangenen Jahrzehnte erzählt.

„The Mortuary“ steigert seinen Horror effektvoll von Episode zu Episode und sieht dabei auch noch fabelhaft aus. Regisseur und Drehbuchautor Ryan Spindell siedelt seine Geschichten in den 1950er bis 1980er-Jahren an: Was Set-Design, Kamera und Kostümbild hier aus einem überschaubaren Budget rausgeholt haben, ist wirklich phänomenal. Der Film verzichtet dabei dankenswerterweise auf den Einsatz von CGI, erzielt eine ungleich stärkere Wirkung mit analogen, handgemachten Effekten. Ein positiver Trend, der schon „Scary Stories to Tell in the Dark“ sehenswert gemacht hat.

Fun-Fact: Ryan Spindell führte 2015 bei dem 20-minütigen Film „The Babysitter Murders“ Regie. Da Kurzfilme selten Zuschauer finden und bestenfalls ein Festival-Dasein fristen, hat er seine liebevolle Hommage an die 1980er-Slasher-Filme nun in seinen ersten Langfilm „The Mortuary“ integriert. Eine Zweitverwertung sozusagen, die clever mit den anderen Geschichten verwoben, in einem überraschenden Twist endet – was will man zum Kürbisgruselfest mehr, außer vielleicht dem Rezept für eine leckere Suppe?

KÜRBISSUPPE

1 kindskopfgroßer Hokkaidokürbis
2 Zwiebeln
3 Knoblauchzehen
1 Dose Kokosmilch
1 Liter Gemüsebrühe
1 Stück Ingwer
Butter, Öl
Kürbiskerne, Kürbiskernöl
Salz, Pfeffer, Zucker

Den Kürbis waschen (Hokkaido muss nicht geschält werden) und mit einem großen Messer vierteln.
Die widerlichen Eingeweide (Kerne und Fasern) mit einem Löffel auskratzen.
Den Kürbis in daumengroße Stücke zerteilen.
In einem großen Topf die geschälten, in grobe Stücke zerschnittenen Zwiebeln und den Knoblauch im Butter/Ölgemisch andünsten. Den Kürbis dazugeben, kurz mitbraten. Dann den geschälten und geschnittenen Ingwer dazugeben.

Mit der Brühe (frisch ist gut – aus dem Glas oder als aufgelöster Brühwürfel geht auch) ablöschen.
Bei geschlossenem Deckel köcheln lassen. Nach ca. 15 Minuten die Kokosmilch dazugeben.
Noch mal 5 Minuten köcheln lassen.

In der Zwischenzeit eine halbe Folge einer Serie schauen (z. B. „The Boys“ Season 2) oder die Kürbiskerne (aus der Tüte, nicht die schleimigen aus dem gerade zerschnittenen Hokkaido) ohne Öl in der Pfanne rösten.
Die fertig gekochte Suppe (die Kürbisstücke sollten beim Gabeltest weich sein) mit dem Rührstab rücksichtslos pürieren. Mit Salz, Pfeffer und ggfs. einer Prise Zucker abschmecken.
Die Suppe in tiefen Tellern mit einem Schuss Kürbiskernöl verzieren und ein paar geröstete Kerne draufgeben. Mahlzeit!

Originaltitel „The Mortuary Collection“
USA 2019
111 min
Regie Ryan Spindell
Kinostart 22. Oktober 2020

alle Bilder © Capelight Pictures

KAJILLIONAIRE

Produziert von Brad Pitt! Ja, DEM Brad Pitt, bei dem Carsten Maschmeyer seine Frau mal im Badezimmer festgestellt hat, dass die Beleuchtung nicht ausreicht. Die Hauptrollen mit Evan Rachel Wood (Westworld), Debra Winger (Zeit der Zärtlichkeit), Richard Jenkins (Shape of Water) und Gina Rodriguez (Deepwater Horizon) hochkarätig besetzt! „Kajillionaire“ klingt wie das nächste große Ding aus Hollywood. Was für eine Überraschung, dass Miranda July trotz der versammelten Prominenz keinen Blockbuster, sondern eine kleine, absurde Tragikomödie gedreht hat. Die Regisseurin dürfte Eingeweihten bislang höchstens als Performance- und Konzept-Künstlerin bekannt sein.

Old Dolio greift im Vorbeigehen ganz automatisch in das Münzfach des öffentlichen Telefons. Es könnten ja noch ein paar Cent darin liegen. Das Mädchen und ihre Eltern, Robert und Theresa, halten sich mit kleinen Gaunereien und Diebstählen über Wasser. Da sie seit Monaten mit der Miete im Rückstand sind, droht ihnen nun die Kündigung. Zeit, ein etwas größeres Ding zu drehen. 
Als das schrullige Trio bei einer Flugreise (auch diese wird nur aus betrügerischen Gründen unternommen) die aufgekratzte Latina Melanie kennenlernt, verändert sich die Familiendynamik gründlich. Vor allem Old Dolio spürt plötzlich eine große Leere und beginnt sich nach Liebe und einer normalen Familie zu sehnen.

Anfangs ganz schön deprimierend, der toxischen Beziehung zwischen introvertierter Tochter und lieblosen Eltern zuzuschauen. Erst das Auftauchen der exaltierten Melanie injiziert den Figuren und damit dem Film eine gewisse Leichtigkeit.
„Kajillionaire“ nimmt einige überraschende Wendungen, manchmal unerwartet, bisweilen bizarr – Wes Anderson läßt grüßen. Viele Einfälle funktionieren gut, andere erscheinen bemüht oder albern, ein bisschen „hit and miss“.  Evan Rachel Wood und Debra Winger sind in hässlichen Klamotten, ungeschminkt und mit trocken-struppigem Haar kaum wiederzuerkennen. Selten waren Hollywoodstars so erfrischend unvorteilhaft auf der Kinoleinwand zu sehen – das ist entweder komplett uneitel oder eine Bewerbung um den nächsten Oscar.

Originaltitel „Kajillionaire“
USA 2020
106 min
Regie Miranda July
Kinostart 22. Oktober 2020

alle Bilder © Universal Pictures Germany

THE BEACH HOUSE

Wenn sich der Zuschauer weder um die Handlung noch um die Charaktere schert, dann ist das keine glückliche Kombination. „The Beach House“ ist eine Super-Low-Budget-Produktion, die aussieht, als hätten sich ein paar Freunde übers Wochenende in einem Ferienhaus getroffen und spontan beschlossen, einen Horrorfilm zu drehen, ohne zu wissen, wie man so was macht.

Die „Geschichte“: Randall will mit seiner Highschoolfreundin Emily ein paar romantische Tage im Strandhaus seines Vaters verbringen. Dort treffen sie auf die Turners, Freunde von Randalls Vater. Die vier beschließen, einen gemütlichen Abend miteinander zu verbringen. Zum Essen gibts Austern und Haschisch-Schokolade. Später zieht dichter Nebel auf, Schleim tropft aus den Wasserhähnen und alle werden zu Zombies außer Emily, denn die mag keine Meeresfrüchte. Ende.

Die Infizierten können sich vor lauter Kotzattacken kaum von der Stelle bewegen – was ihre Bedrohlichkeit stark minimiert – und nach der endgültigen Zombifizierung werden ihre Augen ganz milchig. Warum außerdem überdimensionale Dumplings am Strand rumliegen und Emily sich einen langen Wurm aus dem Fuß zieht, bleibt ebenso unerklärt wie die Frage, weshalb dieser wirre Cocktail aus „Invasion of the Body Snatchers“, „The Fog“ und „Dawn of the Dead“ produziert wurde. Macht alles keinen Sinn.

Originaltitel „The Beach House“
USA 2019
88 min
Regie Jeffrey A. Brown
Kinostart 22. Oktober 2020

alle Bilder © koch films

I AM GRETA

Greta Thunberg Superstar. Ist es nun gutes oder unglückliches Timing, ausgerechnet in Corona-Zeiten eine Doku über die schwedische Umweltaktivistin in die Kinos zu bringen? Der Sieg über den Virus hat auf der Liste der zu lösenden Menschheitsprobleme den Top-Spot übernommen, Umweltschutz ist dabei ein wenig in Vergessenheit geraten. Eine filmische Gedächtnisauffrischung schadet also nicht.

„I am Greta“ erzählt die Geschichte eines Mädchens, das mit 15 Jahren anfängt, freitags einfach nicht mehr in die Schule zu gehen. Was als einsamer Protest vor dem schwedischen Parlament beginnt, weitet sich schon bald zu einer globalen Jugendbewegung aus. Wo immer Greta mittlerweile auftaucht, wird sie wie ein Rockstar gefeiert. Politiker schmücken sich mit ihrer Anwesenheit, sogar der Papst empfängt die junge Schwedin. Aber bringt all die Öffentlichkeit etwas? Hat sich die Menschheit tatsächlich geändert? Greta zweifelt und fragt immer wieder: Funktioniert mein Mikrofon? Hört ihr mich überhaupt?

Greta tapfer auf hoher See, Greta inniglich schmusend mit ihrem Pferd, Greta wütend auf dem UNO-Klimagipfel in New York – „How dare you!“ Die Macher wissen genau, was die Fans sehen und hören wollen. Gerade als man dem Film vorwerfen möchte, zu manipulativ zu sein, zu viel Starkult aufzubauen, kommen die Mit-Verursacher der zerstörten Umwelt zu Wort: Die Sympathieträger Trump und Bolsonaro, zwei mächtige Männer, die sich nicht entblöden, ein sechzehnjähriges Mädchen mit Asperger-Syndrom vor der Weltöffentlichkeit schlecht zu reden. Eine Erinnerung, dass der Kampf noch lange nicht gewonnen ist.

Originaltitel „I am Greta“
Schweden / Deutschland / USA / GB 2020
97 min
Regie Nathan Grossman
Kinostart 16. Oktober 2020

DER GEHEIME GARTEN

Niemand mag arrogante Klugscheißer. Das muss auch die 10-jährige Mary Lennox (Dixie Egerickx) erkennen. Obwohl sie gerade beide Eltern verloren hat, bringt kaum jemand Mitgefühl für die hochnäsige Waise auf. Ihr einziger Verwandter ist der trübsinnige Onkel Archibald (Colin Firth), der als Witwer mit seinem kränklichen Sohn ein düsteres Landgut in Yorkshire, England bewohnt. Um der gestrengen Aufsicht von Haushälterin Mrs. Medlock (Julie Walters) zu entfliehen, erkundet Mary die neblig-graue Moorlandschaft rund um das Anwesen auf eigene Faust. Dabei stößt sie zufällig auf einen verwunschenen „geheimen“ Garten. Gemeinsam mit ihrem Cousin und ihrem neugewonnen Freund Dickon entdeckt sie dort eine magische Welt, die nicht nur ihr eigenes Leben komplett verändert.

Das 1911 erschienene Buch „The Secret Garden“ von Frances Hodgson Burnett wurde schon unzählige Male verfilmt. Diese Version von Marc Munden ist eine interessante Mischung aus Hitchcocks Gothic-Horror-Klassiker „Rebecca“ und kunterbuntem Schlumpfhausen-Film geworden. Eine Mixtur mit ein paar Schwächen: Die zickige Mary nervt zu Beginn sehr und der jauchzende Geigen-Score hätte auch ein paar Gänge zurückschalten können. Aber visuell ist „Der geheime Garten“ ein Rausch, die farbenprächtigen Bilder wirken wie lebendig gewordene Gemälde. Besonders die prachtvoll üppigen Gartenszenen erwecken umgehend den Wunsch nach einer eigenen grünen Parzelle (schöner Traum).

FAZIT

Angenehm ernsthafter Kinderfilm um Verlust, Trauer und Magie. 

Originaltitel „The Secret Garden“
Großbritannien 2019
100 min
Regie Marc Munden
Kinostart 15. Oktober 2020

ES IST ZU DEINEM BESTEN

Alles zu deinem Besten, Liebes! Von Generation zu Generation meinen es die Eltern stets gut mit den Kindern, auch wenn die schon längst erwachsen sind. Die Väter Arthur, Kalle und Yus (gespielt von Heiner Lauterbach, Jürgen Vogel und Hilmi Sözer) bilden da keine Ausnahme. Ihre Töchter sind zwar keine kleinen Mädchen mehr, doch wenn der neue Freund so gar nicht den väterlichen Vorstellungen entspricht, ist Ärger vorprogrammiert. Als Klub der „Super-Schwäger“ planen die drei, die unliebsamen Schwiegersöhne in spe aus dem Weg zu räumen. Keine gute Idee, wie sich bald herausstellt.

Ja, der Film könnte auch „Väter der Klamotte“ heißen.

Ja, Trailer, Plakat und Inhaltsangabe lassen das Schlimmste vermuten.

Ja, der Film ist visuell so aufregend wie ein ZDF-Fernsehfilm.

Aber:

„Es ist zu deinem Besten“ ist tatsächlich lustig.

Und besonders Heiner Lauterbach beweist wieder mal (wie schon in „Enkel für Anfänger“), dass er einen ausgeprägten Sinn für trockenen Witz hat.

Die Vorlage liefert der spanische Erfolgsfilm „Es por tu bien“ – haben die Deutschen also alles wieder nur abgekupfert? Na und (bei Königin)? Warum sollte man Geschichten, die in anderen Ländern schon das Publikum ins Kino gezogen haben, nicht für den hiesigen Markt copy/pasten? Hat schon hervorragend und sehr erfolgreich bei „Das perfekte Geheimnis“ geklappt.

FAZIT

Eine Komödie ohne Aussage und tieferen Sinn, manchmal platt, aber oft sehr lustig.

Deutschland 2019
90 min
Regie Marc Rothemund
Kinostart 08. Oktober 2020

MILLA MEETS MOSES

Wenn eines Tages Außerirdische das kulturelle Erbe der Menschheit durchforsten, werden sie sich wundern, weshalb es so viele Bücher und Filme über sterbenskranke Teenager gibt. „Milla meets Moses“ ist der nächste Beitrag zum Thema „Jugend und Tod“.

Die 16-jährige Milla verliebt sich in den kleinen Drogendealer Moses. Ihren Eltern gefällt das zunächst gar nicht. Doch die seltsame Beziehung beschert dem schwerkranken Mädchen neue Lebensfreude. Als die Eltern merken, dass Moses ihrer Tochter sichtlich guttut, nehmen sie ihn trotz aller Bedenken bei sich auf. Durch den ungewöhnlichen Familienzuwachs werden sie unfreiwillig mit ihren eigenen Schwächen konfrontiert.

Die australische Regisseurin Shannon Murphy variiert das Thema mit einer neuen, erfrischenden Erzählweise. „Babyteeth“ (so der Originaltitel) ist ganz im Sinne des „modern cinemas“ spontan und authentisch inszeniert und damit weit entfernt von thematisch vergleichbaren Filmen, wie „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ oder der letzte Woche gestarteten deutschen Produktion „Gott, Du kannst ein Arsch sein“.

„Milla meets Moses“ schafft es, deprimierende Themen wie Krankheit, Sucht und psychische Probleme unkonventionell und unverkrampft anzusprechen. Die Regisseurin findet dafür einen leichten, einfühlsamen und humorvollen Ton. Guter Film – gute Schauspieler: Eliza Scanlen und Toby Wallace überzeugen als körperlich, beziehungsweise seelisch kaputte Teenager. Ganz fabelhaft auch Essie Davis und Ben Mendelsohn, die in ihren Rollen als Eltern zugleich neurotisch, gebrochen und komisch sind.

FAZIT

Unkitschige, berührende Coming-of-Age-Geschichte über das Sterben.

Originaltitel „Babyteeth“
Australien 2020
118 min
Regie Shannon Murphy
Kinostart 08. Oktober 2020

alle Bilder © X Verleih

JIM KNOPF UND DIE WILDE 13

Warum lassen sich die Romane von Michael Ende so schwer verfilmen? Bei „Die unendliche Geschichte“ konnte man die Enttäuschung über das Kitschfest noch auf die damals begrenzten tricktechnischen Möglichkeiten schieben. Doch die Zeiten ändern sich und „Jim Knopf und die wilde 13“ bietet Bild- und Soundeffekte auf hohem internationalem Niveau. Nicht nur der Wolkenflug durch das dreidimensionale Warner-Logo zu Beginn des Films erinnert an die Harry-Potter-Filme.

Nachdem Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer im ersten Teil den Drachen Frau Mahlzahn besiegt haben, sinnt die Piratenbande „Die wilde 13“ auf Rache. Mit ihren Dampfloks begeben sich die beiden Helden auf eine abenteuerliche Reise, auf der Jim endlich die Wahrheit über seine Herkunft herausfinden möchte. 

Lummerland 2020 – das ist natürlich Lichtjahre von der Augsburger Puppenkiste entfernt. Dank magischer CGI-Effekte entstehen die von Michael Ende erdachten Figuren und Länder ganz so, wie man das bei einem modernen Fantasyfilm erwartet. Doch genau in dieser Perfektion liegt das Problem: Bei Endes Romanen besteht der Hauptspaß darin, sich bei der Lektüre seine eigenen fantastischen Welten auszumalen. Filmgewordener Realismus würgt der Fantasie die Luft ab. Man hätte den Machern etwas mehr Mut zu Wes-Anderson-Schrägheit und etwas weniger Bestreben nach Hollywoodperfektion gewünscht.

Für junge Zuschauer ist der Film bestimmt ein großes Vergnügen, denn an visuellen Schauwerten und Spannung mangelt es nicht. Hauptsache, die Kleinen lesen vorher das Buch und haben so die Chance auf ihr eigenes Kopfkino.

Deutschland 2020
109 min
Regie Dennis Gansel
Kinostart 01. Oktober 2020

GOTT, DU KANNST EIN ARSCH SEIN

Alles schnafte: Steffi ist 16, hat einen schnuckligen Freund, will demnächst ihre Ausbildung bei der Polizei beginnen. Doch dann erfährt sie, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt ist und nur noch kurze Zeit zu leben hat. Bei solchen Nachrichten verschieben sich die Prioritäten. Eigentlich wollte sie auf der bevorstehenden Klassenfahrt nach Paris ihr erstes Mal erleben, aber die besorgten Eltern verbieten die Reise und drängen, besser gleich mit der Chemotherapie zu beginnen. Steffi weigert sich – die letzten Wochen ihres Lebens will sie selbst bestimmen und brennt kurzerhand mit dem coolen Zirkusjungen Steve durch. Bei ihrem tragikomischen Roadtrip nach Frankreich verlieben sich die beiden ineinander.

Boy meets girl, girl get’s sick, girl dies, boy is sad.
Keine neue Geschichte und seit „Love Story“ ein beliebtes Thema für Tearjerker-Filme. Der deutschen Produktion „Gott, Du kannst ein Arsch sein“ hätte es gutgetan, ein paar Kalendersprüche weniger ins Dialogbuch zu schreiben: „Der Weg ist das Ziel“ – wirklich? Ein seichter Mainstream-Pop-Soundtrack, der wie eine Dauerschleife aus dem Privatradio klingt, macht die Sache auch nicht erträglicher. Wenn dann noch Til Schweiger mitspielt, setzen instinktiv Fluchtreflexe ein. Ist so, kann man nix gegen machen. Auch Filme können ein Arsch sein.

Was die RTL-Produktion rettet, ist seine tolle weibliche Besetzung: Heike Makatsch als zwischen Trauer und Hoffnung hin- und her gerissener Mutter, Jasmin Gerat als herzenswarme Barfrau und vor allem Sinje Irslinger in der Hauptrolle – authentisch und mit jeder Menge Witz und Charme gibt sie dem Film die nötige Erdung und bewahrt „Gott, Du kannst ein Arsch sein“ davor, eine allzu glatte Teenie-Schmonzette zu werden.

Liest sich wie eine Bravo-Lovestory, doch Zynismus ist fehl am Platz: der Film basiert auf den Tagebucheinträgen der 15-jährigen Stefanie, die 296 Tage nach ihrer Krebs-Diagnose starb.

Deutschland 2020
97 min
Regie André Erkau
Kinostart 01. Oktober 2020

IN BERLIN WÄCHST KEIN ORANGENBAUM

Der krebskranke Nabil wird nach 15 Jahren aus dem Gefängnis entlassen. Vor seinem Tod plant er noch, von seinem früheren Partner Ivo das Geld vom letzten Überfall zu kassieren. Damit will er wenigstens seiner Exfrau Cora eine Zukunftsperspektive bieten. Was er nicht weiß: Cora hat eine 17-jährige Tochter und Nabil ist der Vater. Um die verlorene Zeit aufzuholen, machen sich Vater und Tochter gemeinsam auf eine abenteuerliche Reise nach Berlin.

Kida Ramadan präsentiert mit „In Berlin wächst kein Orangenbaum“ seine erste Regiearbeit. Der vor allem aus der Serie „4 Blocks“ bekannte Schauspieler hat dafür ein beeindruckendes Ensemble um sich versammelt. Eine weise Entscheidung, denn Ramadan selbst ist als Schauspieler nicht gerade ein Meister seines Fachs. Als „Type“ oft ein Gewinn in Nebenrollen, gelangt er als Hauptdarsteller schnell an seine mimischen Grenzen. Die aufgesagten Dialoge klingen immer ein wenig auswendig gelernt und Emotionen wie Wut, Freude, Ärger und Trauer werden von ihm mit ein und demselben Gesichtsausdruck gespielt. Regisseur Ramadan scheint sich dessen bewusst zu sein und hat deshalb dem Schauspieler Ramadan mit dem „European Shooting Star“ Emma Drogunova und der wie immer ausgezeichneten Anna Schudt zwei starke Frauen an die Seite gestellt. Die Nebenrollen sind mit Tom Schilling, Frederick Lau und Stipe Erceg prominent besetzt. 

FAZIT

Obwohl es im Drehbuch von konstruierten Zufällen und Unwahrscheinlichkeiten wimmelt, ist Ramadan immerhin ein atmosphärisch stimmiger kleiner Film geglückt.

Deutschland 2020
89 min
Regie Kida Ramadan
Kinostart 24. September 2020

PERSISCHSTUNDEN

1942, auf einer Waldlichtung in Belgien: SS-Leute zerren Dutzende Menschen von der Ladefläche eines Lastwagens und erschießen sie. Einzig der junge Belgier Gilles überlebt das Massaker, weil er behauptet, kein Jude, sondern Perser zu sein. Eine Notlüge, die sich als seine Rettung erweist: Hauptsturmführer Koch (Lars Eidinger) sucht gerade jemanden, der ihm Farsi beibringt, da er nach Kriegsende ein Restaurant im Iran eröffnen will.
Das Dumme ist nur: Gilles spricht absolut kein Wort Persisch. Kurzerhand erfindet er eine eigene Sprache und bringt Koch ein Fantasiekauderwelsch bei.

„Persischstunden“ ist zwar sehr unterhaltsam (darf man das über einen Holocaust-Film sagen?) aber auch unentschlossen. Soll es nun eine ironische Komödie oder ein emotionales Drama sein? Gegen die Vermischung von Genres ist nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil, hier aber ist die Balance unausgewogen. Der Humor bewegt sich teilweise auf Pennälerniveau und die Spannungsmomente wirken mitunter wie aus einer mittelmäßigen Nachmittags-Soap.

Nur konsequent, dass sich da auch Lars Eidinger nicht entscheiden kann, ob er die ganz große Bühnenperformance für die letzte Reihe liefern oder doch lieber mit leisen Tönen (die er ja durchaus beherrscht) überzeugen soll. Das beste an „Persischstunden“ ist sein Hauptdarsteller Nahuel Pérez Biscayart. Wie der die ängstliche, traurige und zugleich starke Figur des Gilles spielt, macht den Film sehenswert.

Dem Vergleich mit überlebensgroßen Holocaust-Dramen wie „Schindlers Liste“ oder „Das Leben ist schön“ kann „Persischstunden“ nicht standhalten. Die Bildsprache ist zu glatt, die Schauplätze wirken unpassend ästhetisch. Fast hat man den Eindruck, Kameramann Vladislav Opelyants hätte mehr Wert auf hübsche Bilder als auf Authentizität gelegt.

FAZIT

Klingt absurd, beruht aber auf einer wahren Geschichte.

Originaltitel „Persian Lessons“
Deutschland / Russland 2019
127 min
Regie Vadim Perelman
Kinostart 24. September 2020

DAVID COPPERFIELD – EINMAL REICHTUM UND ZURÜCK

Charles Dickens besaß ein überragendes Talent, die Ängste von Kindern in seinen Romanen anschaulich zu beschreiben. Das 600-Seiten-Werk „David Copperfield or The Personal History, Adventures, Experience and Observation of David Copperfield the Younger of Blunderstone Rookery (Which He Never Meant to Publish on Any Account)“, wie das Buch im Originaltitel heißt, ist neben „Oliver Twist“ sein bekanntester Roman. Die autobiografisch geprägte Geschichte vom verarmten Waisenkind, das zum gefeierten Schriftsteller im viktorianischen England aufsteigt, ist – typisch Dickens – angefüllt mit herrlich schrulligen Figuren. Regisseur Armando Iannucci hat für seine Neuverfilmung eine entsprechend beherzt aufspielende Besetzung versammelt: Als David Copperfield überzeugt der Oscar-nominierte Dev Patel („Slumdog Millionaire“), in Nebenrollen sind unter anderem Ben Whishaw als verschlagener Uriah Heep und Tilda Swinton als schön exzentrische Tante Betsey Trotwood zu sehen. Ein echter scene-stealer ist der immer brillante Hugh Laurie („Dr. House“) als Mrs. Trotwoods Untermieter.

Erwähnenswert ist die unbefangene Besetzung von klassisch weißen Rollen mit Schauspielern jeglicher Hautfarbe. Da haben blasse englische Kinder schwarze Eltern und der eigentlich weiße David wird von einem Inder gespielt. Das alles ist dem Film wunderbar gleichgültig – eine als Tatsache behauptete farbenblinde Multikulti-Welt. Man gewöhnt sich schnell an diesen Kunstgriff, den schon das Musical „Hamilton“ erfolgreich eingesetzt hat.

Das Drehbuch setzt auf Tempo und bisweilen schenkelklopfenden Humor. Eine schöne Idee ist das Spiel mit Handlungs- und Zeitebenen: So beobachtet der erwachsene David seine eigene Geburt und Kindheit, kommentiert immer wieder das Geschehen und schreibt, wenn es sein muss, Figuren auch mal aus der Geschichte, um ihre Abwesenheit zu erklären. Das sind nette Ideen, die den stellenweise etwas theaterhaften Film davor bewahren, allzu sehr ins komödienstadelhafte abzurutschen.

FAZIT

Farbenfrohe Neuverfilmung des unverwüstlichen Klassikers von 1850.

Originaltitel „The Personal History of David Copperfield“
116 min
Großbritannien / USA 2019
Regie Armando Iannucci
Kinostart 24. September

FUTUR DREI

Parvis, der Sohn iranischer Einwanderer, lebt am Nabel der Provinz: Hildesheim, Niedersachsen. Er verbummelt sein Leben zwischen Tanzen gehen, jobben und anonymen Grindr-Dates (dem Gay-Equivalent zu Tinder). Als er in einem Flüchtlingsheim Sozialstunden ableisten muss, verliebt er sich in Amon, der mit seiner Schwester aus dem Iran geflüchtet ist. Die drei verbindet bald eine intensive Freundschaft und Beziehung.

Faraz Shariat, Jahrgang 1994, erzählt in seinem Regiedebut „Futur Drei“ von Heimat und Ausgrenzung. Obwohl Parvis’ Familie seit vielen Jahren in Deutschland lebt, hat sie sich nie wirklich integriert. Parvis dagegen fühlt sich deutsch und nicht als Iraner – ein interessanter Zwiespalt. 

Die ersten zwei Drittel des Films sind spannend und geben einen unklischeeigen Einblick in das Leben des jungen Schwulen. Gegen Ende hat der Regisseur beschlossen, dass es „künstlerisch“ werden muss. Die eher wahllos eingestreuten Vignetten hätten für sich genommen ambitionierte Kurzfilme ergeben, doch das zu gewollt Experimentelle fügt sich nicht in die bis dahin präzise und geradlinige Erzählung.

FAZIT

4 Sterne für die Story plus 2 Sterne für die künstlerische Ambition, geteilt durch zwei  = 3 Sterne für „Futur Drei“. No pun intended.

Deutschland 2020
92 min
Regie Faraz Shariat
Kinostart 24. September 2020

THE OUTPOST – ÜBERLEBEN IST ALLES

„The Outpost“ basiert auf dem gleichnamigen Buch des CNN-Reporters Jake Tapper und beschreibt die „Schlacht von Kamdesh“, die als eine der blutigsten Auseinandersetzungen im Afghanistan-Krieg gilt. 

Der entlegene Außenposten einer amerikanischen Militäreinheit in Afghanistan – eingekesselt, komplett von Bergen umgeben. Heckenschützen und Granaten stellen eine ständige Gefahr für die stationierten US-Soldaten dar. Keine gute Ausgangsposition. „Es wird nicht besser“, hat einer an die Wand neben seinem Feldbett geschrieben – Den Männern ist die Sinnlosigkeit ihres Auftrags schmerzlich bewusst. Trotz der Versuche, den Einheimischen Hilfe beim Wiederaufbau ihrer Gemeinde anzubieten, kommt es regelmäßig zu Scharfschützen-Angriffen der Taliban. Eines Tages eskaliert die Situation.

„The Outpost“ stellt den Wahnsinn einer komplett überflüssigen Militär-Mission bloß. Das ist teilweise erschütternd – ziemlich genau so muss es im realen Krieg zugehen – aber natürlich auch US-typische Heldenverehrung, weshalb es vor allem zum Ende reichlich Pathos gibt.

Die Besetzung ist gut, dass Orlando Bloom mitspielt, realisiert man erst beim Abspann: Wie das mit kurz geschorenen Köpfen so ist – man kann sie nur schwer auseinanderhalten. Hinzu kommt, dass den ähnlich aussehenden Charakteren vom Drehbuch nicht allzu viel Hintergrundgeschichte mitgegeben wird. Dabei wäre es ja durchaus hilfreich, wenn man die Figuren etwas besser kennenlernen würde, bevor sie alle niedergeschossen werden.

FAZIT

Gar nicht so schlecht, reicht aber nicht an die Qualität von modernen Kriegsfilm-Klassikern wie „American Sniper“ heran.

Originaltitel „The Outpost“
USA 2020
119 min
Regie Rod Lurie
Kinostart 17. September 2020

LOVE SARAH – LIEBE IST DIE WICHTIGSTE ZUTAT

Enie van de Meiklokjes (?) lädt fast täglich zum großen Backen auf Sat 1, da war es nur eine Frage der Zeit, bis sich der erste Kinofilm des Themas annimmt.

Sarah verunglückt tödlich mit dem Fahrrad. Sie hinterlässt ihrer 19-jährigen Tochter Clarissa einen unfertigen Laden in Notting Hill, in dem sie eigentlich eine Bäckerei aufmachen wollte. Um diesen Traum posthum zu verwirklichen, verbündet sich Clarissa mit ihrer Oma Mimi und der besten Freundin ihrer Mutter, Isabella – drei Frauen, drei Generationen. Gemeinsam planen sie eine  Konfiserie/Konditorei zu eröffnen, wie es sie seit dem Café Steinmetz nicht mehr gegeben hat!

Eine nette Idee, doch leider geht „Love Sarah“ nicht auf. Vielleicht war’s zu wenig Hefe, zu viel Salz oder nicht ausreichend Liebe beim Anrichten: der Film scheitert auf mehr Ebenen, als ein Mille-feuille Blätterteigschichten hat. Die Erzählung quält sich wie ein Knethaken durch zähen Teig, jede Wendung bleibt vorhersehbar, Humor und Charme sind so rar wie gute Brötchen in Berlin.

Nicht einmal für einen gescheiten Food-Porn hat es gereicht. Die eigentlich sinnliche Herstellung der Torten wird lieblos abgehandelt, da hat schon der Vorspann der Netflix-Serie „Chef’s Table“ mehr Sexappeal. Immer wieder dazwischen geschnittene Bilder von Teilchen auf Kuchentabletts sind ungefähr so aufregend wie das Durchswipen eines Instagram-Accounts zum Thema „Backen“.

FAZIT

Schlechter Film mit guten Schauspielern und hübschem Notting-Hill-Setting.

Originaltitel „Love Sarah“
GB / Deutschland 2020
98 min
Regie Eliza Schroeder
Kinostart 10. September 2020

THE PHOTOGRAPH

„The Photograph“ erzählt von Mae (Issa Rae), Tochter der berühmten Fotografin Christina Eames (Chanté Adams), die sich auf Spurensuche in die Jugendzeit ihrer plötzlich verstorbenen Mutter begibt. Bei ihrer Recherche lernt sie den Journalisten Michael (LaKeith Stanfield) kennen, der gerade an einer Story über Christina arbeitet.

Schöne Menschen in schöner Umgebung. Die Kostüme erlesen, die Wohnungen großzügig und schick, die Autos stets frisch geputzt: „The Photograph“ ist wenigstens hübsch anzuschauen. Das war’s aber auch schon. Wer jemals das Vergnügen hatte, Issa Rae in ihrer preisgekrönten HBO-Dramedy-Serie „Insecure“ zu sehen, den lässt ihr neuer Film unterkühlt zurück. Bei der Auswahl ihrer Kinorollen beweist die Schauspielerin bislang wenig Fortune. „The Lovebirds“ (Die Turteltauben) war albern und doof, „Little“ hatte einer ausgelutschten Idee nicht viel Neues zuzufügen (ein Erwachsener, der über Nacht zum Kind wird – das hat Tom Hanks 1988 schon viel besser gemacht). In „The Photograph“ ist das sonst so lebhafte und über-charmante Multitalent nur ein Schatten ihrer selbst, wirkt wie ausgeknipst. Fast meint man, die Regieanweisung „Weniger! Noch weniger!“ aus dem Hintergrund zu hören. Sediert steht Issa nicht.

Regisseurin und Drehbuchautorin Stella Meghie orientiert sich in Struktur und Inhalt stark an Clint Eastwoods Melodrama „The Bridges of Madison County“, ohne freilich jemals dessen Tiefe und emotionale Wucht zu erreichen. „The Photograph“ plätschert so dahin. Von einem Jazz-Soundtrack begleitet, wechseln sich ein paar berührende mit vielen banalen Szenen ab. Der Film verfällt dabei immer wieder in genretypische Klischees. Zu erwartbar verläuft die Parallelgeschichte von der freiheitshungrigen Mutter in den 1980er-Jahren und der sinnsuchenden Tochter im Heute.

FAZIT

Im Gegensatz zu „The Bridges of Madison County“ muss man (leider) kein Taschentuch mit ins Kino nehmen.

Originaltitel „The Photograph“
USA 2020
106 min
Regie Stella Meghie
Kinostart 10. September 2020

FAKING BULLSHIT

Die Polizeistation einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen soll mangels nicht vorhandener Kriminalität wegrationalisiert werden. Also faken die Polizisten kurzerhand selbst Straftaten, um so ihre Existenz zu rechtfertigen. Gute, aber illegale Idee.

Regisseur Alexander Schubert dürfte den meisten als Mitglied der ZDF-Comedy-Serien „Heute-Show“ und „Sketch History“ bekannt sein. Mit seinem Regiedebüt „Faking Bullshit“ liefert er nun eine unterhaltsame, oft schwarzhumorige Komödie ab. Ein etwas unperfekter, teils holprig gemachter Film, aber das Timing sitzt und die Gags zünden größtenteils. Die erfrischend unbekannten (bis auf Tatortreiniger Bjarne Mädel) Schauspieler halten die Waage zwischen trockenem Witz und Albernheiten.

Einziger Kritikpunkt: Size matters. Oder in diesem Fall besser: Length matters. „Faking Bullshit“ wäre ein noch besserer 60-Minuten-Film geworden; auf über 100 Minuten trägt die Geschichte nicht und ein bemühter Handlungsstrang um geraubte Gemälde macht die zweite Hälfte zäh. 

FAZIT

Ganz charmante Komödie mit guter Besetzung.

Deutschland 2020
105 min
Regie Alexander Schubert
Kinostart 10. September 2020

NINA WU

Die Schauspielerin Nina Wu musste sich bisher mit Werbespots und Kurzfilmen über Wasser halten. Nun wird ihr die Hauptrolle in einem Agententhriller angeboten, doch das Drehbuch verlangt explizite Nacktszenen. Während des Drehs wird Nina immer wieder von ihrem Regisseur vor versammelter Crew erniedrigt und sogar physisch misshandelt. Die Demütigungen hinterlassen tiefe Spuren, als auch noch familiäre Probleme dazukommen, hat sie zunehmend Schwierigkeiten, Realität und paranoide Fantasien auseinanderzuhalten.

„Sie nehmen mir nicht nur meinen Körper. Sie nehmen mir auch die Seele“ – diese Dialogzeilen aus dem fiktiven Film im Film sind als klares #metoo-Statement gegen das System des Machtmissbrauchs im realen Filmbusiness zu verstehen. Hauptdarstellerin und Drehbuchautorin Wu Ke-Xi bezieht sich dabei auf persönliche Erfahrungen, die sie zu Beginn ihrer Karriere erleiden musste. 

Regisseur Midi Z outet sich mit seinem Cannes-2019-Beitrag als großer David-Lynch-Fan. Wie der US-amerikanische Regisseur erzeugt er durch Musik und Bildgestaltung eine Atmosphäre der steten Beklemmung und unterschwelligen Bedrohung. Zum Glück öffnet sich die westliche Welt zunehmend dem asiatischen Filmmarkt, denn auch dieser vom österreichischen Kameramann Florian Zinke grandios fotografierte taiwanesische Film lohnt den Kinobesuch.

FAZIT

Stylisher Psycho-Thriller, vom Weinstein-Skandal inspiriert.

Originaltitel „Zhuo Ren Mi Mi“
Mandarin mit deutschen Untertiteln
Taiwan / Malaysia / Myanmar 2019
103 min
Regie Midi Z
Kinostart 03. September 2020

TENET

Christopher Nolan ist einer der wenigen modernen Regisseure, der – abgesehen von seiner Batman-Trilogie – keine Franchise-Filme produziert, sondern verschiedenste Genres neu interpretiert und damit oft einzigartige Kinoerlebnisse kreiert. So entsteht im besten Fall intelligentes Überwältigungskino, das (neudeutsch) einen Brainfuck auszulösen vermag.

Das Thema „Zeit“ fasziniert Nolan dabei schon seit seinem frühen Erfolg „Memento“. In späteren Werken wie „Inception“ und „Interstellar“ spielt er immer wieder mit temporären Anomalien. Selbst „Dunkirk“, auf den ersten Blick ein straighter Kriegsfilm, entpuppt sich als Kunstwerk der Verschachtelung: Die gleiche Geschichte wird in drei parallelen Zeitsträngen erzählt: als eine Woche auf dem Land, als ein Tag auf der See und zu einer Stunde komprimiert in der Luft.

Der britische Regisseur gilt als einer der größten Geheimniskrämer der Filmgeschichte. So viel Getue um den Inhalt gab es zuletzt bei Trumps Steuererklärung. Wenn das Geheimnis Teil des Events ist, darf man dann überhaupt etwas über die Story verraten? Ja, denn die versteht man bei „Tenet“ ohnehin nicht. Ein Geheimagent (John David Washington) soll die Menschheit vor dem Untergang bewahren. In bester James-Bond-Manier jagt er einen russischen Bösewicht (Kenneth Branagh), der einen Weg gefunden hat, die Zeit zu manipulieren. Play – Pause – Rewind. Die erzählte Geschichte läuft ab einem gewissen Punkt gleichzeitig vorwärts und rückwärts ab. Zeit-Inversion nennt sich das. Nette Idee, doch Nolan wäre nicht Nolan, wenn er die Sache nicht noch verkomplizieren würde. Um das alles halbwegs zu erklären, wird unendlich viel geredet. Dazwischen überschlagen sich Autos rückwärts und Kugeln fliegen in Waffen zurück.

150 Minuten lang visuellen und akustischen Lärm auf höchstem Niveau zu veranstalten und dabei zu langweilen, auch das ist eine Kunst. „Tenet“ ist laut und geschwätzig. Das Gimmick, vor- und rückwärts laufende Szenen miteinander zu kombinieren, hat sich schnell verbraucht. Der Geschichte zu folgen, ist nahezu unmöglich, Mitgefühl mit den Figuren und damit Spannung kann da erst gar nicht aufkommen.

FAZIT

Gut aussehendes Science-Fiction-Drama, das sich möglicherweise nach wiederholtem Anschauen auch inhaltlich erschließt. Lässt kalt.

Originaltitel „Tenet“
USA 2020
150 min
Regie Christopher Nolan
Kinostart 26. August 2020

FRAGEN SIE DR. RUTH

Kaum jemand hat den prüden US-Amerikanern seit Mitte der 1970er-Jahre so viel Wissen über ihr Intimleben vermittelt, wie die kleinwüchsige jüdische Immigrantin Ruth Westheimer. 
„Ich bin Feministin, aber keine Radikale“, um diesen Satz aus der berühmten Sexualtherapeutin zu kitzeln, bedarf es einiger Argumentationskunst ihrer Enkeltochter. Als klassische Feministin hat sich die 1928 in Frankfurt am Main geborene Karola Ruth Siegel nie gesehen. Sollen andere ihre BHs verbrennen, sie beantwortet lieber mit einnehmender Offenheit verklemmte Fragen rund um das Thema Sex.

„Ich habe meine Mutter noch nie weinen gesehen“, sagt ihre Tochter Miriam – ein Wunder, angesichts der schon in jungen Jahren erlittenen Schicksalsschläge. Der frühe Verlust der Eltern im Holocaust, die von Angst und Unsicherheit geprägte Kindheit in einem Schweizer Waisenhaus – Tragödien haben die 1,40 m kleine Ruth zu innerer Größe heranwachsen lassen. Nach den gescheiterten ersten beiden Ehen – „legalisierte Liebesbeziehungen“, wie sie es nennt, findet sie das große Glück erst in der dritten Ehe mit Manfred Westheimer.

„Sex für Dummies“, „The Art of Arousal“, „10 Geheimnisse für richtig guten Sex“: Seit den 1980er-Jahren veröffentlicht Dr. Ruth über 40 Sachbücher zum Thema Sex, unterrichtet an Universitäten, ist Star ihrer eigenen Radio- und TV-Sendungen und Dauergast bei allen populären Talkshows.
Regisseur Ryan White nutzt in seiner filmgewordenen Liebeserklärung neben Interviews mit Weggefährten und zahllosen TV-Ausschnitten, originellerweise auch Zeichentricksequenzen, um einschneidende Erlebnisse in Ruth Westheimers Leben nachzuerzählen.

Funfact: Seit vielen Jahren gehört neben Liliane Bettencourt (angeblich 2017 verstorben) auch Dr. Ruth Westheimer zum engsten Freundeskreis der Lobi AG. Regelmäßig finden Kaffee- und Champagnerkränzchen zwecks Austausch des neusten Klatsches statt. 

FAZIT

Heiterer und bewegender Dokumentarfilm über die einzigartige „Grandma Freud“.

Originaltitel „Ask Dr. Ruth“
USA 2019
100 min
Regie Ryan White
Kinostart 27. August 2020

FOLLOW ME

Nein, „Follow me“ ist leider kein Biopic über die Dali-Muse Amanda Lear und ihren größten Hit von 1978, sondern nur ein mittelmäßiger Horror-Thriller aus den USA.
Nach „Escape Room“ von 2017 und „Escape Room“ von 2019, kommt nun ein weiterer Film zum Thema „Rätselräume“ ins Kino. Der Ablauf wie gehabt: Ein paar Freiwillige – diesmal die nervigste Spezies Mensch überhaupt: Influencer – müssen diverse Rätsel lösen, um sich aus gefährlichen Situationen zu befreien. Regisseur Will Wernick bedient sich dabei einer ungewöhnlichen Herangehensweise: Alle Protagonisten sind ausnahmslos unsympathisch – das erschwert das Mitleiden.

Der vermeintlich coole Social-Media-Star Cole macht sich mit vier Freunden auf den Weg nach Russland und schon der Flug dorthin erweist sich als Belastungsprobe für den Zuschauer. So viel dummes Gepose in die Selfiekamera hat man zuletzt im Mauerpark beim Schulausflug einer achten Klasse aus Mannheim gesehen. In Moskau angekommen, erwartet die Freunde dann das ultimative, perfekt auf sie zugeschnittene Escape-Room-Spiel. Natürlich wird aus anfänglichem Spaß bald blutiger Ernst. Hier nimmt die konstruierte Geschichte endlich ein bisschen Fahrt auf, doch am (von David Finchers „The Game“ geklauten) Ende bleiben viele, viele Fragen offen.

FAZIT

Gebremster Torture-Porn im Stil von „Saw“ und „Hostel“ – trotz aller Logikfehler stellenweise spannend.

Originaltitel „Follow Me“
USA 2019
92 min
Regie Will Wernick
Kinostart 20. August 2020

EXIL

Deutschland im Hochsommer. Die Kamera klebt am widerlich verschwitzten Hemdkragen von Xhafer. Der Kosovo-Albaner lebt mit seiner Frau und den beiden Töchtern in einem Reihenhaus, arbeitet als Pharmaingenieur. Könnte alles so bieder-schön integriert sein, würde sich Xhafer nicht gemobbt fühlen. Mails werden „versehentlich“ nicht weitergeleitet, die oft angemahnten Testergebnisse bleiben aus, es wird getuschelt. Eines Tages hängt eine tote Ratte an seinem Gartentor. Xhafers diffuses Misstrauen gegen Kollegen, seine Frau und sich selbst wächst, er steigert sich zusehends in eine Paranoia. Bald stellt sich die Frage: Ist Xhafer der Verfolgte oder ist er selbst die Bedrohung?

Hauptdarsteller Mišel Matičević gelingt es, den Charakter dieses zutiefst verunsicherten Mannes glaubhaft herauszuschälen. Sandra Hüller spielt ebenso überzeugend seine gepeinigte Ehefrau. Man würde der Schauspielerin nach all den Dramen, in denen sie zuletzt mitgewirkt hat, mal wieder eine etwas leichtere Rolle wünschen, denn komödiantisches Talent besitzt sie zweifellos, wie sie in „Toni Erdmann“ gezeigt hat.

„Exil“ ist harte Kost. Giftige Ockertöne und Düsternis erzeugen eine kafkaeske Beklemmung. Das Sezieren der Psyche des Protagonisten muss man aushalten können. Verlorene Heimat, ausgeschlossen sein, Integration – „Exil“ berührt viele Themen und hängt noch lange nach. 

FAZIT

Ein düsterer Alptraum, Depression als Film. Genau richtig für einen lauen Sommerabend im Kino.

Deutschland / Belgien / Kosovo 2020
121 min
Regie Visar Morina
Kinostart 20. August 2020

WEGE DES LEBENS – THE ROADS NOT TAKEN

Leo (Javier Bardem) ist am Ende – hilflos, sprachlos, apathisch. Der mexikanische Schriftsteller lebt alleine in New York, leidet unter fortgeschrittener Demenz. Seine sich liebevoll kümmernde Tochter Molly (Elle Fanning) erkennt er schon lange nicht mehr.
Plötzlich springt die Handlung: Leo ist mit Dolores in Mexiko verheiratet, beide trauern um ihren toten Sohn. Dann wieder ein Sprung: Leo als Schriftsteller auf einer griechischen Insel, der kein Ende für seinen Roman findet.

„Wege des Lebens – The Roads Not Taken“ ist eine Montage der Möglichkeiten, Parallelentwürfe eines Lebens, die Leo in seinem Geist durchwandert. Regisseurin Sally Potter vermischt die verschiedenen Lebenswege, die Leo in sich trägt, mit der entglittenen Realität seines Daseins. Klingt verkopft? Ist es auch.

FAZIT

Javier Bardem ist – natürlich – grandios.

Originaltitel „The Roads Not Taken“
GB / USA 2020
86 min
Regie Sally Potter
Kinostart 13. August 2020

THE WITCH NEXT DOOR

Der 17-jährige Ben jobbt in der örtlichen Marina eines beschaulichen Touristenstädtchens. Doch die sommerliche Idylle währt nicht lange, schon bald häufen sich beunruhigende Vorkommnisse: Die zwei Kinder der Nachbarsfamilie verschwinden spurlos, kurz darauf kann sich ihr Vater nicht mehr erinnern, jemals Kinder gehabt zu haben, und auch die Mutter verhält sich ausgesprochen seltsam. Ben entdeckt, dass ein Jahrtausende alter böser Geist von der Nachbarin Besitz ergriffen hat. Hex, Hex!

Die Covid-19-Pandemie macht’s möglich: „The Witch Next Door“, ein veritables C-Picture, führte im Mai/Juni diesen Jahres die US-Kinocharts an. Nur auf den ersten Blick überraschend, denn es war der einzige Neustart in dieser Zeit der geschlossenen Kinosäle. Die Regiebrüder Pierce bedienen sich in ihrem zweiten Langfilm recht schamlos bei Stephen Kings „Es“, der Netflix Serie „Stranger Things“, „Alien“ und anderen Horrorklassikern. Die Zitatensammlung bleibt  hinter den Originalen zurück, bietet dafür aber ein charmantes 1980er-Jahre-Feeling.

FAZIT

„The Witch Next Door“: Coming-of-Age-Horror mit einem unerwarteten Schlusstwist und liebevoll gemachten analogen Effekte.

Originaltitel „The Wretched“
USA 2019
91 min
Regie The Pierce Brothers
Kinostart 13. August 2020

KOKON

Bitch! Spermarutsche! – Es herrscht ein rauer Umgangston zwischen den Berliner Teenagern Nora (Lena Urzendowsky) und Jule (Lena Klenke). Die beiden Schwestern hängen mit ihrer besten Freundin im Jahrhundert-Sommer 2018 in Kreuzberg ab. Mittendrin, am Kottbusser Tor. Noras und Jules Mutter verbringt die Abende betrunken in der Eckkneipe, die Mädchen sind auf sich alleine gestellt. 

Im Sportunterricht, auf dem Schwebebalken: Es gibt für Nora kaum einen ungünstigeren Moment, ihre erste Periode zu bekommen. Während sich die Mitschüler*innen peinlich berührt abwenden, erweist sich „die Neue“, Romy, (Jella Hase) als patente Hilfe. Sie wäscht die blutige Hose kurzerhand aus und bietet dem verunsicherten Mädchen einen Joint „gegen die Schmerzen“ an. Nora ist spontanverliebt. Heimliches Schwimmen nachts im Prinzenbad, Tanzen auf dem CSD, der erste Sex: Unter Romys Einfluss entwickelt sich die schüchterne Nora bald von der grauen Maus zum wilden Mädchen.

Kameramann Martin Neumeyer fängt die sommerliche Kreuzberg-Liebesgeschichte stimmungsvoll ein. Vom Handyhochformat über beengtes 4:3 bis zum – mit der Entdeckung der Liebe einhergehenden – Öffnen ins Breitwandbild: Fast schon ein Muss in jedem neueren Arthousefilm ist auch hier das Spiel mit den verschiedenen Bildformaten. Regisseurin und Drehbuchautorin Leonie Krippendorff hat dabei ein gutes Gehör für authentische Dialoge und inszeniert ihre Darsteller glaubhaft und ohne jede Peinlichkeit. Jella Haase mag für ihre Rolle als bezirzende Schülerin ein paar Jahre zu alt sein – das wird mit einem lakonischen „sie ist zweimal sitzen geblieben“ erklärt – doch das schaut sich weg. Zentrum und Herz des Films ist ohnehin Lena Urzendowsky: eine Entdeckung, die demnächst in der Neuverfilmung von „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ zu sehen ist.

FAZIT

Schöne Coming-of-Age-Geschichte über sexuelles Erwachen und die erste große Liebe.

Deutschland 2020
94 min
Regie Leonie Krippendorff
Kinostart 13. August 2020

IRRESISTIBLE

Jon Stewart ist all das, was Oliver Welke gerne wäre: lustig, sophisticated und mit einem perfekten Sinn für Timing ausgestattet. Seine Late-Night-Comedy „Daily Show“ war das unerreichte Vorbild für die schenkelklopfende „ZDF heute-show“. Die beiden Sendungen miteinander zu vergleichen ist in etwa so, als würde man die „Lindenstraße“ in einem Atemzug mit „Breaking Bad“ nennen – beides Dramen, beide fürs Fernsehen gemacht und trotzdem liegen Galaxien dazwischen. Stewart hatte 2015 die Nase voll, beendete kurzerhand sein TV-Dasein (ausgerechnet kurz vor Trumps Präsidentschaft) und zog sich vorerst aus der Öffentlichkeit zurück. Nun legt er nach fünf Jahren Pause mit „Irresistible“ seine zweite Spielfilm-Regiearbeit vor.

Steve Carell (fleißig) spielt Gary, einen Politstrategen für die US-Demokratische Partei. Als er eines Tages die leidenschaftliche Rede des pensionierten Marines Jack Hastings (Chris Cooper) in einem YouTube-Video sieht, glaubt er, mit diesem Kandidaten, die Wähler im mittleren Westen zurückgewinnen zu können. Kurzerhand organisiert er eine Kampagne, um Colonel Hastings das Bürgermeisteramt in der Kleinstadt Deerlaken zu verschaffen. Nach einem großen Medienecho wollen die Republikaner ebenfalls mitmischen und schicken Garys Erzfeindin Faith (Rose Byren), die den gegnerischen Kandidaten pushen soll.

Ein toller Cast (bis in die kleinsten Nebenrollen), ein paar gelungene Szenen und guter Wille reichen nicht, „Irresistible“ zu einem empfehlenswerten Film zu machen. Stewart will mit seiner Komödie das dringend reformbedürftige amerikanische Wahlsystem anklagen (US-Wahlsystem in drei Minuten erklärt). Doch gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht. Die Charaktere und die Geschichte bleiben zu vage. Hauptschuld trägt das schwache Drehbuch, das sich von einer ganz netten zur nächsten mittelmäßigen Idee schleppt, ohne dabei jemals richtig in Fluß zu kommen.

FAZIT

Für eine Komödie nicht lustig genug, für eine Politsatire nicht bissig genug. Nur okay.

Originaltitel „Irresistible“
USA 2020
102 min
Regie Jon Stewart
Kinostart 06. August 2020

THE KING OF STATEN ISLAND

Pech gehabt: Das hätte eine brillante Analyse und Marcel-Reich-Ranicki-würdige Kritik werden können, doch leider verschwand das gerade fertig geschriebene Dokument im Papierkorb – und war nach versehentlicher Löschung desselben für immer verloren. Deshalb gibts hier nur eine schale Kopie des genialen Originals:

Scott ist ein Loser, der sein Leben nicht gebacken kriegt. Mit 24 wohnt er noch immer bei seiner Mutter und verbringt ansonsten den ganzen Tag kiffend mit seinen Kumpels. Sein Traum, Tattoo-Künstler zu werden, bleibt Wunschdenken. Außer ein paar Kritzeleien auf willigen Versuchskaninchen (ihm selbst und seinen Freunden) hat er nichts vorzuweisen. Der frühe Verlust des Vaters, der bei einem Einsatz als Feuerwehrmann ums Leben kam, belastet den Jungen noch 17 Jahre später. Als ihm seine Mutter eines Tages den großmäuligen Feuerwehrmann Ray als ihren neuen Freund präsentiert, beginnt Scott sein ewiges Slacker-Dasein infrage zu stellen.

Ein Miesepeter, der jeden, der ihm zu nahe kommt vor den Kopf stößt. Es fällt schwer, Sympathien für Scott zu entwickeln. Pete Davidson, Eingeweihten bislang höchstens als Ensemblemitglied von „Saturday Night Live“ oder Ex-Freund von Ariana Grande bekannt, ist mit seinem ungewaschenen, ewig unausgeschlafenen Aussehen wie für die Rolle gemacht. 

Marisa Tomei als Mutter Margie und Bill Burr als ihr Lover Ray schaffen es, gleichzeitig dramatische Tiefe und komödiantische Leichtigkeit auf die Leinwand zu zaubern. Sie sind die heimlichen Stars des Films, gerne würde man mehr von ihnen und weniger von den zahlreichen und nur mäßig lustigen Szenen mit Scott und seinen Kumpels sehen.

FAZIT

Regisseur Judd Apatow beweist ein Händchen für komische Absurditäten, exakte Beobachtungen und authentische Gefühle. Mit „The King of Staten Island“ ist ihm eine sehr persönliche Tragik-Komödie geglückt, die Anleihen am Leben seines Hauptdarstellers Pete Davidson nimmt: Auch dessen Vater war Feuerwehrmann und kam bei den Terroranschlägen von 9/11 ums Leben.

Originaltitel „The King of Staten Island“
USA 2020
137 min
Regie Judd Apatow
Kinostart 30. Juli 2020

BERLIN ALEXANDERPLATZ

Wäre Rainer Werner Fassbinder noch am Leben und würde Alfred Döblins Roman zum zweiten Mal verfilmen – vielleicht käme etwas ähnlich Aufregendes dabei heraus.

In fünf Kapiteln (plus Epilog) erzählt das Drama die düstere Geschichte vom Flüchtling Francis aus Westafrika. Im heutigen Berlin trifft er auf den durchgeknallten Drogendealer Reinhold und die Leben der beiden Männer verbinden sich zu einer verhängnisvollen Schicksalsgemeinschaft. Immer wieder versucht Reinhold, Francis für seine Zwecke einzuspannen, immer wieder widersteht der. Als sich Franz (so hat ihn Reinhold inzwischen zwecks „Germanisierung“ getauft) in das Escort-Girl Mieze verliebt, verspürt er seit Langem so etwas wie Glück.

„Berlin Alexanderplatz“ wird spalten. Regisseur Qurbani wendet sich mit seiner Verfilmung nicht an die breite Masse. So wie es Menschen gibt, die Freude an einer 3-stündigen Volksbühnen-Inszenierung haben, so wird es (hoffentlich) auch Zuschauer geben, die diesen Film lieben. Andere, die nach 20 Minuten entnervt aus dem Kino fliehen, verpassen einen der interessantesten deutschen Filme der letzten Zeit.

Welket Bungué, Jella Haase, Joachim Król – durchweg großartige Schauspieler. Aber vor allem Albrecht Schuch als Reinhold stiehlt mit seiner Präsenz jede Szene. Der Film glänzt: Kamera, Schnitt, Musik, Ausstattung – das ist alles gekonnt, von höchster Qualität und packend inszeniert. Selbst an die in der Jetztzeit befremdlich wirkenden Dialoge – Qurbani lässt seine Figuren immer wieder Originalsätze aus dem Roman sprechen – hat man sich rasch gewöhnt. 

FAZIT

Kraftstrotzendes Kino.

Deutschland / Niederlande 2020
183 min
Regie Burhan Qurbani
Kinostart 16. Juli 2020

ALS WIR TANZTEN

Merab und Irakli studieren Tanz an der Akademie des Georgischen Nationalballetts in Tiflis. Die jungen Männer hoffen auf einen festen Platz im Ensemble. Für Merab ist es der einzige Ausweg aus einem Leben ohne Perspektive. Anfangs Konkurrenten, kommen sich die beiden bald näher, werden ein Liebespaar. Im homophoben Georgien müssen sie ihre Beziehung geheim halten.

Das Drama des schwedischen Regisseurs Levan Akin hält gekonnt die Waage zwischen mitreißenden Tanzszenen und authentischen Einblicken in das Alltagsleben Georgiens. Tiflis wird als marode Stadt gezeigt, in der trotzt Handy und Clubszene die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Hauptdarsteller Levan Gelbakhiani ist so knuffig, dass man ihn sich ohne weiteres ins Regal setzen könnte. Er tanzt und spielt die Verwirrung der Gefühle großartig.

Für die Dreharbeiten musste ein geändertes Drehbuch vorgelegt werden – im queer-feindlichen Georgien hätte es sonst keine Genehmigungen gegeben. Bei der Uraufführung versammelten sich hunderte nationalistische und orthodoxe Protestler, darunter auch einige Priester. Sie verbrannten eine Regenbogenflagge und zeigten Plakate wie „Stoppt LGBT-Propaganda in Georgien“ und „Homosexualität ist Sünde und Krankheit“.
Willkommen im Europa 2020.

FAZIT

Interessanter Blick in ein fremdes Land am Rande Europas.

Originaltitel „And Then We Danced“
Schweden / Georgien 2019
113 min
Regie Levan Akin
Kinostart 23. Juli 2020

WAVES

„Waves“ hat das Zeug zu einem modernen Klassiker. Wie der Rhythmus von Ebbe und Flut wechseln sich über 135 Minuten Katastrophen und Glück ab. Eine berührende Geschichte über Liebe, Vergebung und familiärem Zusammenhalt, dem Oscar-Gewinner von 2017 „Moonlight“ nicht unähnlich.

In zwei Kapiteln wird das Schicksal der afroamerikanischen Familie Williams beleuchtet: Zunächst steht der 18-jährige Sohn Tyler im Mittelpunkt (Kelvin Harrison Jr.). Seine Freundin liebt ihn, an der Highschool ist er der Star im Wrestlingteam. Aber der Teenager steht unter Druck. Eine Schulterverletzung und damit das Aus für seine ambitionierten Pläne ist nur eines von vielen Problemen. Schwierig auch das tagtägliche Kräftemessen mit dem dominanten Vater (Sterling K. Brown), gegen den er sich nur schwer behaupten kann.
Eine Katastrophe bahnt sich im Zeitlupentempo an. Nach gut der Hälfte verschiebt sich die Perspektive des Films, erzählt dann von Tylers jüngerer Schwester Emily (Taylor Russel) und deren erster Liebe. 

Regisseur Shults hat mit „Waves“ ein episches Familiendrama in leuchtenden Farben erschaffen. Die außergewöhnliche Bildsprache wechselt immer wieder das Format, von Breitbild zu beengtem 4:3, je nach Gemütslage der Figuren. Trent Reznor und Atticus Ross liefern dazu einen extrem effektiven Soundtrack, treiben manche Szene bis an die Schmerzgrenze.

FAZIT

„Waves“ ist keine leichte Kost und stellenweise vielleicht auch kein perfekter Film, aber er wirkt nach.

Originaltitel „Waves“
USA 2019
135 min
Regie Trey Edward Shults
Kinostart 16. Juli 2020

WIR ELTERN

„Erziehung ist die organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend.“
Das wusste schon Mark Twain vor mehr als hundert Jahren. Erziehung kann ja theoretisch auch bedeuten: sanft in die richtige Bahn lenken und sich an der Entwicklung des Kindes erfreuen. Butterweiches Verständnis für alles oder dauerndes Reglementieren machen aus dem Kind selten einen brauchbaren Erwachsenen. So wird höchstens erfolgreich die Entwicklung zur Selbstständigkeit verhindert. 

In diesem Sinne zeigt das Regieduo Bergkraut/Schweikert in seiner sehr rough gedrehten Schweizer Homestory „Wir Eltern“ eine ganz normale furchtbare Familie. Man weiß gar nicht, wen man nerviger finden soll: die spätpubertären Zwillingssöhne, Anfang 20, die partout nicht aus dem Hotel Mama bzw. Papa ausziehen wollen. Oder die viel zu verständnisvollen Akademiker-Eltern, die, wenn sie dann mal auf den Tisch hauen, garantiert keine Konsequenzen folgen lassen.

Frei nach wahren Begebenheiten spielt hier der Vater und Regisseur Eric Bergkraut mit seinen eigenen Söhnen das mitunter schwierige Familienleben nach. Lustige Idee: Zwischendurch geben echte Experten Erziehungstipps.

FAZIT

Der Film wird in den deutschen Kinos in einer von den Darstellern selbst gesprochenen hochdeutschen Version gezeigt. Die Synchronisation schadet dem Film sehr. Wer die Möglichkeit hat, sollte sich lieber die Schweizer Originalversion mit Untertiteln anschauen.

Schweiz 2019
94 min
Regie Eric Bergkraut und Ruth Schweikert
Kinostart 16. Juli 2020

MARIE CURIE – ELEMENTE DES LEBENS

Marie Curie liegt im Sterben. Schon wieder möchte man fast sagen, denn es ist gerade mal vier Jahre her, dass das Leben der zweifachen Nobelpreisträgerin zuletzt  verfilmt wurde. Auf der Bahre, eilig durch lange Krankenhausgänge geschoben, zieht ihr Leben noch einmal an ihr vorbei. Kein besonders origineller Einstieg in ein eher konventionelles Biopic.

Auch dieses gut gemeinte Werk werden zukünftige Schülergenerationen über sich ergehen lassen müssen. Wie im Lehrbuch hakt „Radioactive“ (so der Originaltitel) artig die Lebens-Best-Of-Stationen der visionären Wissenschaftlerin ab. 1903 erhält Curie als erste Frau (gemeinsam mit ihrem Mann Pierre) den Nobelpreis für Physik, Jahre später einen weiteren für Chemie. Zwischendurch weist der Film auf die zwiespältigen Folgen der Strahlenforschung hin. In seltsam fehl am Platz wirkenden Sequenzen werden eine Tumorbehandlung, der Bombenabwurf auf Hiroshima und natürlich das Reaktorunglück von Tschernobyl eingestreut. Das soll wohl eine mahnende Erinnerung an das sein, was da später noch kam. Hilfreich für diejenigen, die sich noch nie im Leben mit den Vor- und Nachteilen von Radioaktivität beschäftigt haben, für alle anderen unnötige Belehrung, die den Fluss der Erzählung stört. 

Dass „Marie Curie – Elemente des Lebens“ auf einer Graphic Novel („Radioactive: Marie & Pierre Curie: A Tale of Love and Fallout“) basiert, merkt man ihm leider viel zu selten an. Visuell ist das zwar alles ganz hübsch und stimmungsvoll, aber nicht besonders mutig. Erstaunlich, denn Regisseurin Marjane Satrapi ist selbst Comiczeichnerin und hat vor 13 Jahren mit „Persepolis“ ein bahnbrechendes Debüt abgeliefert.

FAZIT

Løtta und Tøby würden aufs Schärfste widersprechen, aber in erster Linie macht der direkte Kontakt mit Radium wohl vor allem eins: krank. Das müssen auch Marie und ihr Ehemann am eigenen Leib erfahren. Mit heutigem Kenntnisstand würde man sagen: „Selbst schuld, an der ganzen blutigen Husterei“, denn dass Marie jeden Abend ein kleines, grün leuchtendes Fläschchen Radium mit ins Bett nimmt, bleibt nicht ohne Folgen.

Originaltitel „Radioactive“
Großbritannien 2020
103 min
Regie Marjane Satrapi
Kinostart 16. Juli 2020

INTO THE BEAT – DEIN HERZ TANZT

„Hey Sweety, Du musst Deinen eigenen Style fahren. Wow, crazy!“
Ja, so reden sie, die jungen Leute von heute. Besonders, wenn sie aus der Tanzszene kommen. Katya steht kurz vor der Erfüllung ihres Lebenstraums: In sieben Tagen findet das Vortanzen für die New York Ballet Academy statt, sie hofft auf ein Stipendium. Doch dann verliebt sie sich Hals über Kopf in den Hip-Hop-Tänzer Marlon aka Alien – neues Glück, neue Pläne: Zusammen wollen sie sich einen Platz bei der weltberühmten Steetdance-Gruppe Tiger-Crew ertanzen.

Bei „Into the Beat“ trifft Klischee auf Klischee auf Klischee. Klar, dass im Jahr 2020 einer jungen Balletteuse bei ihrer ersten Begegnung mit modernem Tanz die Augen übergehen, weil, so etwas hat sie noch nie gesehen! Die Rolle des Internets bei Jugendlichen wird offenbar überschätzt. Selbstverständlich entwickelt sie innerhalb weniger Tage meisterliches Können, denn wer Dornröschen tanzen kann, der kann auch Breakdance. Klassische Tänzer erkennt man in diesem Film übrigens an ihrer intriganten Humorlosigkeit, während Hip-Hopper den ganzen Tag super drauf sind und Hoodies tragen. Eine echt crazy Family eben. „Hey, Du checkst das nicht!“ Hört man den jugendlichen Gesprächen zu, setzt unvermittelt Fremdscham ein. Noch schlimmer die Erwachsenen: Ein Kalenderspruch reiht sich da an den nächsten, als hätten sie alle die Vera-Drombusch-Dialogschule besucht.

Für einen modernen Tanzfilm überraschend uninspiriert gedreht und inszeniert. Das ist meilenweit von US-Vorbildern wie „Step Up“ entfernt.

FAZIT

Ach so! Das ist ein KiKA-Film! Deshalb erinnert „Into The Beat“ an eine modernisierte Version der biederen ZDF-Weihnachtsserie „Anna“.

Deutschland 2020
98 min
Regie Stefan Westerwelle
Kinostart 16. Juli 2020

HELMUT NEWTON – THE BAD AND THE BEAUTIFUL

„Männer interessieren mich nicht – sie sind nur Accessoires, wie ein Hut oder eine Sonnenbrille.“ Dieses gestrenge Urteil über das eigene Geschlecht stammt von Helmut Newton, der sich konsequenterweise zeit seines Lebens am liebsten mit Frauen umgab. Als ihn das Magazin Vogue einmal bittet, eine Fashionstrecke mit Herren-Trenchcoats zu schießen, lässt er das männliche Model kurzerhand weg, zieht selbst den Mantel über und fotografiert sich neben einer langbeinigen Nackten. Eine typische Newton-Geschichte, der laut eigener Auskunft auch mit 80 noch ein „Naughty Boy“ war.

Gero von Boehm lässt in seinem Dokumentarfilm dann auch ausschließlich Frauen zu Wort kommen: „Die Arbeit mit Newton hat mir die Stärke für meine spätere Karriere gegeben“, lobt die britische Schauspielerin Charlotte Rampling fast 50 Jahre nach dem berühmten Shooting Charlotte Rampling at the Hotel Du Nord“ den Fotografen. Zu den weiteren hochkarätigen Interviewpartnerinnen zählen Anna Wintour, Grace Jones, Claudia Schiffer, Nadja Auermann, Isabella Rossellini, Marianne Faithful und Hannah Schygulla. Deren Anekdoten von ihren Begegnungen mit dem Jahrhundertfotografen sind durchweg liebevoll bewundernd. Für Kritik ist da kaum Platz, denn Gero von Boehm ist in erster Linie Fan-Boy. Ein kurzer TV-Schnipsel mit Susan Sonntag liefert die einzige negative Stimme: Newtons berühmte Akte „Big Nudes“ seien „frauenfeindlich und abstoßend“.

Filme über Fotografen würden ihn entsetzlich langweilen, sagt Newton, zeigten sie doch nur „einen Mann hinter der Kamera, der dummes Zeug mit seinen Models redet.“ Die Dokumentation „The Bad and the Beautiful“ beweist das Gegenteil: Dem Charmebolzen zuzuhören und bei der Arbeit zuzuschauen ist nicht eine Sekunde langweilig.

FAZIT

Zum 100. Geburtstag: Bewegtes und bewegendes Porträt des berühmtesten Frauenfotografs.

Deutschland 2019
90 min
Regie Gero von Boehm
Kinostart 09. Juli 2020

SIBERIA

Clint ist ein kaputter Mann. Er lebt in einer einsamen Hütte in den Bergen. Dort betreibt er ein Café, in das sich nur ab und zu Gäste verirren. Eines Abends bricht er mit seinem Hundeschlitten auf, getrieben von der Hoffnung, sein wahres Dasein zu ergründen. Es folgt eine bemühte David-Lynchartige Reise durch Clints Traum- und Fantasiewelten. 

Eine dicke nackte Frau tanzt in einer Höhle im Kreis und ruft dabei “I need a doctor!”
Wieder so ein Schauspielerfilm. Diesmal kann man Willem Dafoe als gebrochenem Mann bei seinem Trip ins Ich zuschauen. Muss man aber nicht. “Siberia” ist verschwurbelte Kunst, die man sich besser sparen sollte. Immerhin gibt es schöne Landschaften mit jeder Menge Schnee zu sehen.

FAZIT

92 Minuten können sehr lang sein.

Originaltitel „Siberia“
Italien / Deutschland / Mexiko 2019
92 min
Regie Abel Ferrara
Kinostart 02. Juli 2020

UNDINE

Die gute Nachricht: am 2. Juli machen die Kinos wieder auf!
Die schlechte: „Die Känguru-Chroniken“ feiern ihren re-release. So unoriginell wie der neue Titel „Die Känguru-Chroniken Reloaded“, so unoriginell ist die Idee, dem Film eine 3D-Einstellung hinzuzufügen. Framerate warnte bereits im März mit einem Stern vor der einfältigen Klamotte.

Ein um einiges intelligenteres Kinoerlebnis bietet der neue Film von Christian Petzold.
Undine (Paula Beer) lebt in Berlin, arbeitet als Stadthistorikerin. Als ihr Freund Johannes (Jacob Matschenz) mit ihr Schluss macht, teilt sie ihm lakonisch mit, dass sie ihn nun töten müsse. Kurz darauf 
begegnet sie dem Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski), die beiden verlieben sich Hals über Kopf.

Undine ist eine mythologische Figur, eine Nymphe, die mit ihrem Gesang die Männer verzaubert. Eine Seele erlangt sie nur, wenn sie sich mit einem Menschen vermählt. Der Haken an der Sache: Untreue Gatten bringt sie um.

Christian Petzold dichtet den Mythos von der geheimnisvollen Wasserfrau zum modernen Märchen im heutigen Berlin um. Das funktioniert über weite Strecken erstaunlich gut. Der Film hat zugleich etwas Traumhaftes und Realistisches. Paula Beer verleiht der Figur Undine mit wassergewellten Locken eine rätselhafte Aura. Und keiner kann so überzeugend den leicht tumben und gleichzeitig sensiblen Arbeiter spielen wie Franz Rogowski.

„Undine“ ist ein hintergründiger, aber seltsam spröder Liebesfilm. Insgesamt eher eine zarte Fingerübung, ein nicht uninteressantes Experiment.

FAZIT

Der etwas andere Berlinfilm. Paula Beer gewann den silbernen Bären für die beste weibliche Hauptrolle bei der diesjährigen Berlinale.

Deutschland 2020
90 min
Regie Christian Petzold 
Kinostart 02. Juli 2020