Civil War

CIVIL WAR

Civil War

CIVIL WAR

Es herrscht Bürgerkrieg - allerdings nicht irgendwo im Mittleren Osten, sondern vor der Haustür in den ganz und gar nicht mehr Vereinigten Staaten von Amerika.

Ab 18. April 2024 im Kino

Die zynische Fotografin Lee (Kirsten Dunst) hat schon die schlimmsten Gräueltaten vor der Linse gehabt. Nun will sie mit ihrem Journalistenfreund Joel (Wagner Moura) den US-Präsidenten zu einem (wahrscheinlich) letzten Interview und Foto treffen, bevor Rebellengruppen das Weiße Haus stürmen und ihn hinrichten. Die Reise von New York nach Washington wird zu einem Roadtrip durch ein dystopisches Amerika, in dem keiner keinem traut und die meisten schon lange nicht mehr wissen, gegen wen sie eigentlich kämpfen.

Krieg ist die Hölle

Regisseur und Drehbuchautor Alex Garland hält sich nicht mit Erklärungen auf, was den Bürgerkrieg ausgelöst hat und positioniert sich auch nicht klar für oder gegen eine Seite. Hier gibt es keine klare Rollenverteilung von gut und böse, Garland interessiert weniger die Moral und mehr der Horror einer komplett zerrissenen, kaputten Gesellschaft. So gesehen ist sein Film näher an einer Zombie-Apokalypse als an einem Politthriller.

Krieg ist die Hölle. Und Garlands Film führt die Zuschauer mitten rein. Gerade die Kampfszenen sind ungemein spannend und extrem gut gemacht. Das ist schmerzhaft laut und beängstigend realistisch, man das Gefühl, Teil des Geschehens zu sein. Dass Kirsten Dunst sagt, die Dreharbeiten hätten ihr posttraumatische Belastungsstörungen beschert, glaubt man ihr gerne. Schauspielerisch ist der Film herausragend, vor allem Dunst liefert eine ihrer bisher besten Leistungen. Erwähnenswert auch der kurze Auftritt von Jesse Plemons (Dunsts Ehemann im wahren Leben) als sadistischer extremistischer Soldat.

Das bevorstehende Ende des Bürgerkriegs, so der US-Präsident (Nick Offerman) mit der orangefarbenen Gesichtshaut, sei der „größte Sieg in der Menschheitsgeschichte“. Naheliegend, an wen der fiktive Staatschef erinnern soll. Wer denkt, das ganze Szenario sei übertrieben oder gar unrealistisch, der hat die Bilder von der Stürmung des Kapitols vergessen. CIVIL WAR gibt einen Vorgeschmack auf das, was da schon bald (wieder) kommen könnte.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Civil War“
USA 2024
109 min
Regie Alex Garland

alle Bilder © DCM

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EVIL DOES NOT EXIST

EVIL DOES NOT EXIST

Evil does not exist? Von wegen. Selbst in einem meditativen Dorf in Japans berauschender Natur droht das Böse Einzug zu halten.

Ab 18. April 2024 im Kino

In dem verschlafenen Örtchen Mizubiki nahe Tokio leben Takumi und seine Tochter Hana im Einklang mit der Natur. Ihr entschleunigter Alltag besteht aus Spaziergängen, Wasser schöpfen und Holz hacken. Die Idylle wird gestört, als in der Nähe eine Glamping-Anlage errichtet werden soll. Die Auswirkungen auf das ökologische Gleichgewicht der Region und das Leben der Dorfgemeinschaft wären verheerend.

Prequel zur Katastrophe

Normalerweise beschäftigen sich Öko-Dramen mit den Konsequenzen von Umweltkatastrophen. EVIL DOES NOT EXIST geht zwei Schritte zurück und zeigt das Leben davor, ehe die Natur zerstört wurde und Menschen krank geworden sind. Das macht den Film zu einer Art Prequel zur Katastrophe – ein interessanter Ansatz.

Wie DRIVE MY CAR ist auch Ryusuke Hamaguchis neuer Film fein nuanciert und voller kleiner, ruhiger Momente. Interessant, dass der japanische Regisseur auf seinen Oscar-Erfolg nicht etwas Größeres oder Mainstreamigeres folgen lässt, sondern sich noch weiter zurücknimmt und eine schlichte, aber elegante Geschichte erzählt.

Im Vergleich dazu wirkt Wim Wenders PERFECT DAYS geradezu hektisch. EVIL DOES NOT EXIST ist mehr meditatives Experiment als klassische Erzählung. Für die poetische Parabel über die komplexe Interaktion zwischen Mensch und Natur gab es bei den Filmfestspielen von Venedig den Silbernen Löwen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Aku Wa Sonzai Shinai“
Japan 2023
106 min
Regie Ryusuke Hamaguchi

alle Bilder © PANDORA FILM

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Sieger Sein

SIEGER SEIN

Sieger Sein

SIEGER SEIN

Prädikat "Besonders wertvoll" - Begründet oder ein weiterer Beweis für die Wahllosigkeit der Filmbewertungsstelle?

Ab 11. April 2024 im Kino

Die Jury sagt: „Ein wunderbar frisch-frecher Film, der die Diversität feiert und auf Augenhöhe der Zielgruppe erzählt.“ So stellen sich Erwachsene eben die Welt der Jugendlichen vor. Voll fetzig. Aber auch cringe. Safe.

Lief auf der Berlinale

Mona ist mit ihrer kurdischen Familie aus Syrien geflüchtet und landet im Berliner Wedding, dem Bezirk, der seit 30 Jahren kommt. In ihrer neuen Schule ist sie „voll das Opfer“, bis sie beim Fussballspielen beweisen kann, was in ihr steckt.

Sieger sein

Erstaunlich, dass es sich bei SIEGER SEIN um einen Debütfilm handelt. Denn es wimmelt nur so von Klischees. Regisseurin Soleen Yusef will es allen recht machen: Der jungen Zielgruppe ebenso, wie den vereulten Redakteuren der Öffentlich-Rechtlichen. Besonders nervig sind dabei die didaktischen Ansätze. Ein bisschen Zuwendung und schon hebt der gerade noch respektlose Rotzlöffel im Unterricht brav die Hand und fragt mit großen Augen „Was ist Diktatur?“ Erklärung folgt, wieder was gelernt – Bruda, isch schwöre!

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2024
119 min
Regie Soleen Yusef

Sieger sein

alle Bilder © DCM

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Back to Black

BACK TO BLACK

Back to Black

BACK TO BLACK

13 Jahre nach ihrem Tod kommt mit BACK TO BLACK ein Biopic über die britische Soul- und Jazzsängerin Amy Winehouse in die Kinos.

Ab 11. April 2024 im Kino

Back to Black

Mehr als 30 Millionen verkaufte Platten und ihr hochgelobtes zweites Album „Back To Black“ machen Amy Winehouse spätestens 2006 zum Superstar. Das Biopic BACK TO BLACK zeigt die entscheidenden Jahre in ihrer kurzen Karriere. Jahre voller Aufs und Abs. Hinter der erfolgreichen Fassade verbirgt sich eine junge Frau mit jeder Menge Probleme.

Schaler Beigeschmack

Matt Greenhalghs Drehbuch arbeitet sich relativ ideenlos am Privatleben der Sängerin ab. Auf jeden Lebenseinschnitt folgen ein Song und ein Tattoo. In der dauernden Wiederholung wirkt das banal. BACK TO BLACK ist in Zusammenarbeit mit der Winehouse-Familie entstanden. Das erklärt, weshalb Vater Mitch (Eddie Marsan) beinahe zur Heiligenfigur stilisiert wird. Demnach hat der ehemalige Taxifahrer immer nur das Beste für seine hochbegabte, aber labile Tochter im Sinn. Dass er sie im wahren Leben noch betrunken und mit Drogen vollgepumpt auf die Bühne schickt, schon ein Jahr nach ihrem Tod eine Biografie auf den Markt bringt und im letzten Jahr ihre Tagebücher veröffentlicht, verleiht dem Ganzen einen schalen Beigeschmack.

Back to Black

Den 60s-Look hat sie sich von ihrer Großmutter Cynthia (Lesley Manville) abgeschaut. Damit das jeder kapiert sagt Amy gleich in der ersten Szene: „You are my style icon, Nan.“ Dass Hauptdarstellerin Marisa Abela dem Original nur bedingt ähnelt – junge Frauen mit dickem Kajalstrich und Beehive-Frisur sehen ja irgendwie alle wie Amy Winehouse aus – muss man sich schöntrinken, immerhin liegt ihre Singstimme überzeugend nah am Original.

Back to Black

Das sind die undankbarsten Kritiken: Filme, die nicht schlecht, aber auch nicht richtig gut sind. Meh. BACK TO BLACK ist mehr ROCKETMAN als mutiger Blick auf die düsteren Abgründe des Ruhms. Herausragend ist nur Jack O’Connell in der Rolle des verhängnisvollen Ehemanns Blake. Mit seinen Daniel-Craig-Vibes empfiehlt er sich als neuer Bond. Regisseurin Sam Taylor-Johnsons konventionelles Biopic bleibt zu glatt und gefällig. Dem Leben der von Dämonen geplagten Ausnahmekünstlerin Amy Winehouse wird sie damit nicht gerecht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Back to Black“
GB / USA 2024
122 min
Regie Sam Taylor-Johnson

Back to Black

alle Bilder © STUDIOCANAL

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WHITE BIRD

WHITE BIRD

Parlez-vous anglais? Marc (nicht Mark) Forster inszeniert in seinem Edelkitsch-Film eine französische Geschichte mit englischer Besetzung.

Ab 11. April 2024 im Kino

Julian (Bryce Gheisar) wird wegen Mobbings von seiner New Yorker Schule verwiesen. Nun muss er sich entscheiden: Hänge ich weiter mit den coolen Arschlochkids oder den gütigen Looserkids ab? Der Junge braucht einen sozialen Kompass. Auftritt Grand-mère Sara (Helen Mirren), frisch aus Paris eingeflogen (in der Grande Nation begrüßt man sich stets mit mehreren Küsschen, falls Zweifel an Dame Mirrens Herkunft aufkommen sollten). Um den Enkel auf den Pfad der Tugend zurückzuführen, erzählt sie ihm die Geschichte ihrer Jugend.

Es war einmal: Frankreich, Herbst 1942, Sara ist fünfzehn, geht zur Schule, hat viele Freundinnen, ist wohlbehütet. Doch dann okkupieren die Nazis das Dorf. Sara entgeht dank der Hilfe ihres Mitschülers Julien (Orlando Schwerdt) knapp der Deportation. Der Junge versteckt das jüdische Mädchen in der Scheune seiner Eltern (Gillian Anderson, Jo Stone-Fewings). Doch Kollaborateure lauern überall.

Realitycheck: Julian (nicht Julien) hört auf seinen modernen, kabellosen Kopfhörern Justin Bieber-Songs aus dessen später Schaffensphase. Man kann also davon ausgehen, dass der Film in der Jetztzeit spielt. Helen Mirrens Figur ist 1942 fünfzehn Jahre alt. Also wäre sie nach Adam Riese heute um die 95. Was ist ihr Beautygeheimnis? Viel Schlaf und Wasser?

Von solchen Petitessen abgesehen, muss man sich fragen, weshalb Franzosen in diesem Film ausschließlich von Engländern gespielt werden. Kulturelle Aneignung? Besonders Gillian Anderson fällt in der Originalversion mit schwerem britischen Akzent auf. Da nützt es auch nichts, wenn Helen Mirren hier und da eine französische Floskel einbaut, die klingt, als habe sie eben einer Babbel-Lektion gelauscht.

Die Guten sind grundgut, die Bösen absolut böse. Es gibt keine Grauzone. Eine Geschichte wie von den Gebrüdern Grimm erdacht. In der dramatischsten Szene wird der Film plötzlich zum Musical: Sara singt mit glockenheller Stimme das Lied „Little Bird“. Dazu Streicher, Akustikgitarre und Pianoklänge. Spätestens mit dem Auftritt von drei Wölfen wird klar: Dies ist ein Märchenfilm, und zwar mit Botschaft – Tue Gutes, so wird auch Dir Gutes getan. Oder Du wirst erschossen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „White Bird“
USA 2023
121 min
Regie Marc Forster

alle Bilder © LEONINE

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Morgen ist auch noch ein Tag

MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG

Morgen ist auch noch ein Tag

MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG

In Italien war MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG ein gigantischer Erfolg und schlug mit mehr als 5 Millionen Besuchern sogar BARBIE und OPPENHEIMER an der Kinokasse.

Ab 04. April 2024 im Kino

Paola Cortellesi ist in ihrer Heimat vor allem als Moderatorin und Fernsehkomikerin bekannt. Mit MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG hat sie den Sprung in ein völlig neues Genre gewagt. Ihr Debüt als Filmemacherin ist eine fulminante One-Woman-Show: Cortellesi ist Regisseurin, Autorin und Hauptdarstellerin in Personalunion. Das hätte auch schief gehen können – ist es aber nicht.

Sinnbild einer ganzen Frauengeneration

Der Film, angesiedelt in den Arbeitervierteln Roms 1946, erzählt von der gepeinigten Delia (Paola Cortellesi), die sich schon vor dem Aufstehen eine Backpfeife von ihrem brutalen Ehemann Ivano (Valerio Mastandrea) einfängt. Jeder Tag verläuft gleich: Frühstück machen, tausend kleine Arbeiten verrichten, ein wenig Geld verdienen, nur um trotzdem weiter Prügel einzustecken. Die Rollen waren seinerzeit klar verteilt: Männer hatten das Sagen, Frauen mussten parieren. Delia erträgt das alles vor allem, um ihre 20-jährige Tochter vor dem gleichen Schicksal zu bewahren.

Paola Cortellesi hat mit ihrem ersten Film ein kleines Meisterwerk geschaffen: Momente der Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit bleiben bis zum Ende in perfekter Balance. C’È ANCORA DOMANI (Originaltitel) zeigt die Ungerechtigkeit eines patriarchalischen Systems, Delia wird dabei zum Sinnbild einer ganzen Frauengeneration. Der Querschnitt durch das Alltagsleben vor achtzig Jahren schlägt keinen belehrenden Ton an und überrascht stattdessen mit Wärme, Humor und ungewöhnlichen Inszenierungsideen.

Die Gesichter der Schauspieler, die Ausstattung, die Kulissen – der Schwarz-Weiß-Film könnte tatsächlich aus den 1940er-Jahren stammen, wären da nicht die irritierenden, aber ausgesprochen wirkungsvoll eingesetzten modernen Musikstücke. Auch die Szenen des prügelnden Ehemanns werden hier zu einem künstlerischen Ausdruckstanz von makabrer Eleganz, das ist erschütternd und vermeidet gleichzeitig ein Abgleiten in unnötige Gewalt und Voyeurismus. Regisseurin Cortellesis weiß offensichtlich genau, was sie tut. MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG ist einer der schönsten (und überraschendsten) italienischen Filme der letzten Jahre.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „C’è ancora domani“
Italien 2023
118 min
Regie Paola Cortellesi

alle Bilder © TOBIS Film

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ICH CAPITANO

ICH CAPITANO

Gekenterte Boote mitten auf dem Meer, im Wasser treibende Leichen, verzweifelt um Hilfe flehende Migranten - ein Großteil der Welt hat sich an die Schreckensbilder gewöhnt oder schaut weg. ICH CAPITANO ist ein zutiefst berührender Film, der die Flüchtlingskrise neu und einfühlsam beleuchtet.

Ab 04. April 2024 im Kino

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Seydou und Moussa, zwei Teenager im Senegal, deren Traum es ist, als Popstars in Europa zu leben. Entgegen aller guten Ratschläge machen sie sich auf den Weg nach Italien. Ihre gefährliche Reise führt sie durch die Wüste, libysche Gefängnisse und das lebensbedrohliche Mittelmeer.

Findet immer wieder magische Momente

Für ICH CAPTIONO nimmt Regisseur Matteo Garonne die gegenteilige Perspektive zur klassischen Medienberichterstattung ein: „Ich wollte aus der Sicht der Migranten erzählen, die auf ihrer Flucht um ihr Leben bangen müssen“, sagt er.

Hauptdarsteller Seydou Saar ist eine Entdeckung. Seine Darbietung ist intensiv und authentisch – kaum zu glauben, dass dies sein Filmdebüt ist. Auch visuell beeindruckt ICH CAPITANO. Die Bilder sind nicht nur ästhetisch, sondern helfen auch, sich dem schwierigen Thema zu öffnen. Die Farben, die Bildsprache, die gesamte künstlerische Gestaltung verleihen der Geschichte eine große Zugänglichkeit.

ICH CAPITANO konfrontiert nicht nur mit der Realität der Flüchtlingskrise, sondern findet dabei immer wieder magische Momente. Der Aufruf zur Empathie und zum Verständnis erinnert daran, dass hinter jeder Flüchtlingsgeschichte Menschen mit Träumen, Hoffnungen und einem unstillbaren Überlebenswillen stehen. Ein herausragender Film, der trotz aller Schwere einen Funken Hoffnung entfacht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Io Capitano“
Italien / Belgien 2023
124 min
Regie Matteo Garrone

alle Bilder © X Verleih

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CLUB ZERO

CLUB ZERO

Das große Nichtfressen: Jessica Hausners satirischer Film über Hungerwahn zwecks Selbstoptimierung schießt am Ziel vorbei. Am Ende bleibt die Frage: Was will uns die Regisseurin genau sagen?

Ab 28. März 2024 im Kino

Vielleicht, dass Hungern genauso schlecht ist wie zu viel Essen. Und Bulimie auch keine Lösung ist. Das wusste man allerdings schon vorher.

Artifizielle Bildsprache und gestelzte Dialoge

Die junge Lehrerin Frau Novak (Mia Wasikowska aus ALICE IM WUNDERLAND) lehrt an einem Internat bewusste Ernährung, indem sie zum Verzicht auffordert. Die Schüler begeistern sich, fühlen sich wichtig und glauben, durch Hungern die Welt retten zu können. Doch auf dem Weg zur Selbstkasteiung folgt bald der nächste, nur konsequente Schritt: Wenn schon sehr leichte Küche, warum dann nicht gleich ganz ohne? Muss der Mensch überhaupt essen, um zu überleben? Der Titel CLUB ZERO lässt erahnen, wohin die Reise geht.

Die wohl hässlichsten Schuluniformen seit Menschengedenken, 70er-Jahre-Betonarchitektur, dazu eine Mia Wasikowska im spröden Sandra-Hüller-Modus. Die Kamera zoomt langsam in die Totale oder verdichtet. Die artifizielle Bildsprache passt zu den (gewollt?) gestelzten Dialogen. Zu den Themen Körperbild, Essstörungen und westlicher Überkonsum hat der Film dabei wenig Neues beizutragen. Die Botschaft ist nach spätestens der Hälfte angekommen. Zudem gibt es gegen Ende eine ausgesprochen unappetitliche Szene auszuhalten, die den Begriff „Wiederkäuer“ neu definiert. Nicht umsonst gibt es eine Triggerwarnung vor dem Film. Überraschender Nebeneffekt: Nachdem man fast zwei Stunden Wohlstandskids beim Fasten zuschauen musste, verspürt man großen Hunger auf eine Currywurst mit Pommes.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Club Zero“
Österreich / Großbritannien / Deutschland / Frankreich / Dänemark / Katar 2023
110 min
Regie Jessica Hausner

alle Bilder © Neue Visionen Filmverleih GmbH

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ONE LIFE

ONE LIFE

Die wahre Geschichte eines couragierten Mannes, der gegen alle Widrigkeiten über 600 Kindern vor den Nazis rettet. Konventionell gemachtes Biopic mit einem herausragenden Anthony Hopkins in der Hauptrolle.

Ab 28. März 2024 im Kino

In England gab es mal eine BBC-Fernsehshow namens „That’s Life!“ 1988 sorgte eine Folge für besonders großes Aufsehen: Nicholas Winton traf im Fernsehstudio auf die Überlebenden, die er fünfzig Jahre zuvor als Kinder vor den Nazis gerettet hatte.

Heute so aktuell wie vor 80 Jahren

Die Rahmenhandlung von James Hawes Film zeigt das Leben des gealterten Nicholas Winton (Anthony Hopkins). Noch immer quälen ihn die Dämonen seiner Vergangenheit. Dass er „nur“ 669 und nicht alle Kinder retten konnte, verfolgt ihn bis ins hohe Alter. Parallel erzählt ONE LIFE von der Rettungsaktion 1938. Der junge Nicholas (Johnny Flynn) erfährt über einen Freund von den entsetzlichen Zuständen in tschechischen Flüchtlingslagern. Zusammen mit vielen Unterstützern startet er eine beispiellose Rettungsaktion – immer bedroht von der nahenden Invasion der Faschisten.

ONE LIFE ist eine solide gemachte Nacherzählung dieser Ereignisse. Die starken Leistungen der Schauspieler, allen voran Anthony Hopkins und Johnny Flynn, werden durch die konventionelle Machart des Films geschwächt. Die Handlung wird artig nacherzählt, Flüchtlingsgeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg hat man schon weitaus mitreißender inszeniert gesehen. Trotz solcher Unzulänglichkeiten ist ONE LIFE ein Film für das heutige Publikum. Flüchtlingskrisen und Menschen, vor denen trotz Lebensgefahr die Grenzen verschlossen werden, sind 2024 leider so aktuell wie vor 80 Jahren.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „One Life“
GB 2023
110 min
Regie James Hawes

alle Bilder © SquareOne Entertainment

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DIE HERRLICHKEIT DES LEBENS

DIE HERRLICHKEIT DES LEBENS

Franz Kafka privat. DIE HERRLICHKEIT DES LEBENS erzählt von der großen letzten Liebe des meistgelesenen deutschsprachigen Autors.

Ab 14. März 2024 im Kino

Wem bei Kafka nur ein riesiges Ungeziefer im Bett oder labyrinthische Behördengänge in den Sinn kommen, der hat keine Ahnung. Franz Kafka war ein Mensch! Michael Kumpfmüller beschreibt in seinem Buch „Die Herrlichkeit des Lebens“ das letzte Lebensjahr des jüdischen Schriftstellers. Nun haben Georg Maas und Judith Kaufmann den Bestseller verfilmt und dabei alles richtig gemacht.

Eine große Liebesgeschichte

1923, irgendwo an der Ostsee: Kafka, von Tuberkulose gezeichnet, lernt während eines Erholungsaufenthalts die junge Dora Diamant kennen. Sie steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden, er schwebt immer etwas darüber. Gegen den Wunsch seiner überbesorgten Familie zieht er mit ihr nach Berlin. In der gemeinsamen Wohnung ist es eiskalt und zugig – Lebensumstände, die der Gesundheit des schwer kranken Schriftstellers nicht gerade zuträglich sind. Doch gegen alle Widrigkeiten erleben die beiden eine große Liebe, Dora weicht bis zum Ende nicht mehr von Kafkas Seite.

Sabin Tambrea ist das, was man wohl eine schauspielerische „Bank“ nennen könnte. Der stets etwas melancholisch wirkende 39-Jährige ist immer gut, egal was er macht. Und obwohl er dem echten Kafka nur sehr bedingt ähnlich sieht, passt er perfekt in die Rolle, spielt mit der richtigen Mischung aus trauriger Ernsthaftigkeit und sanftem Humor. Die Deutsch-Niederländerin Henriette Confurius dürfte den meisten aus TV-Serien, vor allem aber aus TANNBACH – SCHICKSAL EINES DORFS bekannt sein. In der Rolle der Dora Diamant ist sie ein Glücksgriff, bringt eine charmante Leichtigkeit in ihre Rolle, die den ganzen Film trägt.

Wo Judith Kaufmann draufsteht, ist selten was Schlechtes drin. Die Kamerafrau/Regisseurin hat zusammen mit Georg Maas einen wunderbar unpathetischen Film über eine große Liebesgeschichte gedreht. DIE HERRLICHKEIT DES LEBENS kommt im Vorfeld zu Franz Kafkas 100. Todestag in die Kinos.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Österreich 2023
98 min
Regie Georg Maas und Judith Kaufmann

alle Bilder © MAJESTIC

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THE PERSIAN VERSION

THE PERSIAN VERSION

Ein zwiespältiger Film über eine Mutter-Tochter-Beziehung: Die erste Hälfte nervt, die zweite erzählt die interessante Geschichte einer jungen Frau im Iran.

Ab 14. März 2024 im Kino

THE PERSIAN VERSION beginnt mit der Einblendung „Basierend auf einer wahren Geschichte … mehr oder weniger“ und setzt damit gleich zu Anfang seine erste „Achtung, witzig!“-Marke. Im MIttelpunkt der dramatischen Komödie steht zunächst die iranische Amerikanerin Leila, eine junge Faru, die noch immer gegen ihre Eltern rebelliert. Als einziges Mädchen von neun Geschwistern fühlt sie sich seit Kindesbein benachteiligt, schon in der Schule war sie „zu iranisch für eine Amerikanerin“ und „zu amerikanisch für eine Iranerin“. Davon abgesehen ist sie vor allem eins: zu viel. Die Filmemacherin ist lesbisch, chaotisch und gerade von einer vermeintlichen Transe geschwängert worden, die sich als heterosexueller Schauspieler entpuppt. Besonders Leilas Mutter stößt das selbstbestimmte Leben ihrer Tochter auf. Ich hab’s im Magen.

Mehr Filmhochschule als Filmkunst

Dies ist Maryam Keshavarz‘ dritter Film und ihre erste Komödie. Es gibt viele gute Ansätze und mindestens genauso viele schlechte Umsetzungen. In der ersten Hälfte nervt die Lebens-Erinnerungs-Clip-Sammlung mit bemühter Originalität. Schnelle Schnitte, Freezeframes und das Durchbrechen der vierten Wand sind legitime filmische Mittel. Aber man sollte wissen, wann, wie oft und aus welchem Grund man sie einsetzt. Hier hat man den Eindruck, als habe eine Filmemacherin im kreativen Drogenrausch krampfig versucht, ihr Werk aufzupeppen. Das Ergebnis ist mehr Filmhochschule als Filmkunst.

Nach gut der Hälfte wechselt THE PERSIAN VERSION plötzlich die Richtung. Die Kamera zoomt nicht mehr in das überdrehte Leben der Tochter, sondern fokussiert sich auf die Mutter. Endlich wird es interessant. Ein Film im Film mit einem dramaturgischen Bogen und nachvollziehbarer Erzählstruktur – als hätte jemand das Steuer eines entgleisten Zuges endlich in die richtige Richtung gelenkt. Schade, dass es bis dahin eine gefühlte Ewigkeit dauert. Vielleicht hätte man die erste Hälfte besser verschlafen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Persian Version“
USA 2023
107 min
Regie Maryam Keshavarz

alle Bilder © Sony Pictures

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America

AMERICA

America

AMERICA

Nach dem Indiehit THE CAKEMAKER liefert Regisseur Ofir Raul Graizer mit seinem zweiten Film erneut ein authentisches Drama über verpasste Chancen und unausgesprochene Liebe.

Ab 07. März 2024 im Kino

America

AMERICA ist vielleicht das undramatischste Melodrama aller Zeiten. Von der verbotenen Liebe, dem Koma-Patienten, der zur rechten Zeit wieder erwacht und reichlich Gefühlsirrungen ist AMERICA prallvoll. Mit schmalziger Konservenmusik unterlegt und schlechteren Schauspielern besetzt, wäre das Ganze auch als Soap Opera zwischen GZSZ, NUR DIE LIEBE ZÄHLT oder GENERAL HOSPITAL im frühen Abendprogramm vorstellbar. Doch Ofir Raul Graizer ist trotz der kitschigen Zutaten eine zarte, poetische Dreiecksromanze gelungen.

Mit Symbolhaftigkeit spart der Film nicht

Eli (Michael Moshonov), ein israelischer Schwimmtrainer, lebt in den USA. Als sein Vater stirbt und der Nachlass geregelt werden muss, reist er widerwillig nach Tel Aviv. Dort trifft er seinen alten Freund Yotam (Ofri Biterman), der zusammen mit seiner Verlobten Iris (Oshrat Ingedashet) einen kleinen Blumenladen betreibt. Elis Besuch löst eine Kette von Ereignissen aus, die längst verschüttet geglaubte Emotionen weckt und das Leben aller Beteiligten durcheinanderbringt.

America

Nicht nur schauspielerisch, auch visuell beeindruckt AMERICA: Kameramann Omri Aloni orientiert seine primärfarbigen Bilder an Iris‘ kunstvollen Blumenarrangements. Der Look ist stark von den Frühwerken Almodóvars beeinflusst – die warmen, kräftigen Farben werden als Symbol für Leben und Liebe gegen das triste Weiß von Elis Welt genutzt. Überhaupt: Mit Symbolhaftigkeit spart der Film nicht. Der Garten hinter Elis Haus, anfangs eine verwahrloste Ödnis, wird durch Iris‘ geschickte Hand (und ihre aufkeimende Liebe) in ein blühendes Paradies verwandelt.

America

Fragende Blicke und abwägende Pausen: Die bisexuelle Ménage-à-trois ergeht sich in Andeutungen, bleibt verhalten. Gelegentlich würde man vor allem den stoischen Eli gerne schütteln – da wünscht man sich etwas mehr Offenheit oder ein paar heftigere Emotionen. Doch zu laute Gefühle hätten AMERICA vielleicht wirklich zum edelkitschigen Melodrama gemacht.

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Originaltitel „America“
Israel / Deutschland / Tschechien 2022
127 min
Regie Ofir Raul Graizer

America

alle Bilder © missingFILMs

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MARIA MONTESSORI

MARIA MONTESSORI

MARIA MONTESSORI klingt nach Bildungsbürger-Arthouse-Kino, ist aber ein sehenswerter Film über die Freundschaft zweier Frauen, die - jede auf ihre Art - den gesellschaftlichen Konventionen des beginnenden 20. Jahrhunderts trotzen und ihrer Zeit weit voraus sind.

Ab 07. März 2024 im Kino

In Frankreich nennen Historiker feministische, gebildete und unabhängige Frauen um 1900 „La nouvelle femme“ (so auch der Originaltitel des Films). Damit sind Frauen gemeint, die es auf hohe Positionen geschafft und zu akademischen Würden gebracht haben und die sich ihren Platz in der Gesellschaft durch ihr Wissen erarbeitet haben.

Eine neue Form der Pädagogik

Die Kurtisane Lili d’Alengy (Leïla Bekhti) befindet sich zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt ihres Ruhms. Um ihren Ruf zu wahren und ihre lernbeeinträchtigte Tochter Tina zu verstecken, flüchtet die Pariser Halbweltdame nach Rom. Dort sucht sie Hilfe bei der Ärztin Maria Montessori (Jasmine Trinca), die gemeinsam mit ihrem Lebenspartner Giuseppe Montesano eine Schule für „Idioten“ (wie es seinerzeit hieß) führt. Die beiden entwickeln in ihrem Institut Lernmethoden, die später Geschichte schreiben. 

Gut, die Inhaltsangabe klingt etwas dröge – so was musste man sich früher im Geschichtsunterricht anschauen. Aber Regisseurin Léa Todorov hat mit MARIA MONTESSORI einen überraschend unterhaltsamen und berührenden Film gedreht. Bemerkenswerterweise arbeitet sie sich dabei nicht brav an der Historie ab, sondern fokussiert ihren Blick auf eine kurze, aber entscheidende Zeit im Leben der beiden Freundinnen Maria und Lili. Das macht den Film persönlicher und interessanter als das übliche Oberlehrer-Biopic. Empfehlenswert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „La nouvelle femme“
Frankreich / Italien 2023
100 min
Regie Léa Todorov

alle Bilder © Neue Visionen Filmverleih

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DUNE: PART TWO

DUNE: PART TWO

Jetzt mit noch mehr Sandwürmern! Denis Villeneuves galaktische Fortsetzung ist feistes Überwältigungskino.

Ab 29. Februar 2024 im Kino

Dune: Part Two

Knie nieder, der Messias ist da! Die Geschichte um Glaubenskriege und politische Machtspiele geht in die nächste Runde. Aus dem zarten Jüngling Paul Atreides ist in Part Two des Kinoerfolgs DUNE (2021) der große Führer ganzer Völker geworden. Bis es allerdings so weit ist, stiert Timothée Chalament mit langen Wimpern vielsagend in die Ferne oder wirft Zendaya schmachtende Blicke zu.

Jedes Einzelbild ein Kunstwerk

Regisseur Denis Villeneuve hat aus dem (einzigen) Fehler seines ersten Teils ganz eigene Rückschlüsse gezogen: Statt einer unendlich langen Einführung, gefolgt von einer mitreißenden zweiten Hälfte, wechseln sich diesmal epochale Kämpfe mit tiefschürfenden Dialogszenen ab. Die Fortsetzung ist das filmische Äquivalent zu einem Hochseedampfer: grandios und majestätisch, aber bis die riesige Maschine immer wieder Fahrt aufnimmt, kann es dauern.

Dune: Part Two

Auch wenn es zwischendurch mal zäh ist, der Film sieht natürlich wahnsinnig gut aus. Jedes Einzelbild ist ein Kunstwerk. Höchstes Niveau auch schauspielerisch: Timothée Chalamet, Zendaya, Rebecca Ferguson, Charlotte Rampling, Florence Pugh, Christopher Walken, Austin Butler, Josh Brolin und Javier Bardem – was soll da schon schief gehen? Etwas mehr Leichtigkeit hätte das Wüstenspektakel allerdings vertragen, Villeneuve nimmt den Kampf um den galaktischen Spice sehr ernst. Humor hat da nichts verloren.

Dune: Part Two

DUNE: PART TWO ist genau der Film, den Teil eins versprochen hat: Nicht besser und nicht schlechter. Natürlich sollte man sich das im Kino anschauen, allein schon wegen der cinemascopehaften Bilder von Greig Fraser und Hans Zimmers gewohnt bombastischen BRRRAAAAMMM-Soundtracks.

Dune: Part Two

Dass die komplizierte Handlung (nicht umsonst gilt Frank Herberts Vorlage als das unverfilmbarste Buch aller Zeiten) und die verschachtelten Storylines über verfeindete Herrschaftshäuser nicht im Chaos enden, ist der souveränen Regie von Villeneuve zu verdanken. Der französisch-kanadische Filmemacher liefert erneut eine beeindruckende Melange aus STAR WARS, Shakespeare-Tragödie und GAME OF THRONES. Im Kern jedoch ist DUNE eine auf biblische Proportionen aufgeblasene Jugendromanze, verpackt in eine visuell prächtige Space Opera.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Dune: Part Two“
USA 2024
165 min
Regie Denis Villeneuve

alle Bilder © Warner Bros. Entertainment Inc.

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THE ZONE OF INTEREST

THE ZONE OF INTEREST

Sandra Hüller ist europäische Schauspielerin des Jahres 2023. Nach ANATOMIE EINES FALLS, dem Gewinner der Goldenen Palme, kommt nun ihr zweiter in Cannes preisgekrönter Film in die Kinos.

Ab 29. Februar 2024 im Kino

Das Haus liebevoll eingerichtet, den Garten sorgfältig gestaltet – vom prächtigen Blumenbeet bis zum akkurat geschnittenen Rasen. Familie Höss hat sich ein kleinbürgerliches Idyll wie aus dem Bilderbuch erschaffen. Rudolf geht pflichtbewusst seiner Arbeit nach, Hedwig schmeißt mit einer Schar Bediensteter den Haushalt, trifft sich mit Freundinnen zum Kaffeeklatsch. So weit, so normal.

Banalität des Bösen

Doch „normal“ ist an diesem Setting gar nichts. Den Garten Eden trennt nur eine mit Stacheldraht bewehrte Mauer von der größten Vernichtungsmaschine der Nazis, dem Konzentrationslager Auschwitz. Die konstante Geräuschkulisse aus Schüssen und Schreien wird vom Ehepaar Höss ausgeblendet wie das ferne Rauschen einer Autobahn. Einzig die Kinder und die Schwiegermutter scheinen durch das Grauen vor der Haustür irritiert.

Die ersten Minuten des Films sind pures Schwarz, unterlegt von Musik. Ein Vorgeschmack auf die innere Leere der Figuren. Eiskalt und fast unmenschlich: Sandra Hüller spielt bravourös. Ekelhaft, wie sie vor dem Spiegel in einem Pelzmantel posiert, der wahrscheinlich aus dem Besitz einer ermordeten Jüdin stammt. Als Lagerkommandant Rudolf Höss beeindruckt der aus BABYLON BERLIN bekannte Christian Friedel. Ein mustergültiger Nazi, der sich von Hitler nach Oranienburg versetzen lässt, um dort das nächste Lager auf Effizienz zu trimmen. Der drohende Wegzug der Familie ist einer der wenigen Momente, in denen seine Frau emotional reagiert. Das schöne Haus und den Garten zurücklassen? Niemals.

Jonathan Glazer inszeniert eine schier unvorstellbare Geschichte des Terrors in klaren, nüchternen Bildern. Sein Film ist eine teils improvisierte, experimentelle Anordnung, in der das Grauen allgegenwärtig ist, aber nie gezeigt wird. Schmerzhaft und brillant.

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Originaltitel „The Zone of Interest“
USA / GB / Polen 2023
106 min
Regie Jonathan Glazer

alle Bilder © Leonine

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SCHOCK

SCHOCK

Und es geht ja doch: Ein richtig guter Gangsterfilm aus Deutschland, ganz ohne Digger-Dialoge.

Ab 15. Februar 2024 im Kino

„Bruda, Du bist Ehrenmann!“ Man hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass in deutschen Gangsterfilmen gesprochen wird, wie sonst nur an Berliner Schulen. Selbst Kinder ersetzen das gute alte „ch“ durch „sch“. Digger, krass und „Isch schwöre beim Leben meiner Mutta“ gehören zur Alltagssprache 10-Jähriger. Deshalb großes Lob an Daniel Rakete Siegel und Denis Moschitto: In ihrer gemeinsamen Regiearbeit sprechen die Ganoven geschliffenes Hochdeutsch.

Für einen deutschen Thriller ungewöhnlich cool

Bruno (ausgezeichnet: Denis Moschitto) ist ein Arzt, der wegen Drogenmissbrauchs seine Approbation verloren hat. Nun kümmert er sich um Patienten außerhalb des Systems: Illegale oder Kriminelle, die aus diversen Gründen nicht ins Krankenhaus können. Die Probleme beginnen, als ihm seine Anwältin (Anke Engelke in einer Gastrolle) 50.000 € für einen scheinbar simplen Job bietet: Er soll einem italienischen Mafioso eine Antikörpertherapie verabreichen. Doch nicht nur das Beschaffen des Medikaments löst eine Kette von Katastrophen aus, Brunos Schwager Giuli (durch Halbglatze und Wampe schön verunstaltet: Fahri Yardim) ist zudem als Killer auf den kranken Italiener angesetzt.

Bildgestaltung, Schauspiel und Atmosphäre sind für einen deutschen Thriller ungewöhnlich cool. Aus der Not des begrenzten Budgets haben die beiden Regisseure eine Tugend gemacht. Die Handlung spielt zu großen Teilen in verregneten Nächten – das ist stimmungsvoll und sieht auch noch gut aus. Es gibt keine unnötig ausgewalzten Backstorys, kein overacting und keine lachhafte Möchtegern-Hollywood-Action. SCHOCK ist ein atmosphärisch dichter Genrefilm aus Deutschland, an dem sich der gute alte TATORT ein Beispiel nehmen könnte. So geht spannende Krimiunterhaltung.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
104 min
Regie Daniel Rakete Siegel und Denis Moschitto

alle Bilder © Filmwelt Verleihagentur

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BOB MARLEY: ONE LOVE

BOB MARLEY: ONE LOVE

Ja, Mann! Bob Marley hätte einen besseren Film verdient als dieses flache Malen-nach-Zahlen-Biopic.

Ab 15. Februar 2024 im Kino

Reinaldo Marcus Greens Film wendet sich an ein Publikum, das entweder gar nichts über Bob Marley weiß (Bob wer?) oder Fans, die einfach noch mal die Greatest Hits des Reggaemusikers hören wollen. Schon der Anfang ist entsprechend plump: Schrifttafeln informieren den Zuschauer gefühlt minutenlang, wer der Mann überhaupt war und in welcher Zeit er lebte.

Mit dem Holzhammer erzählt

Wer es noch nicht wusste: Bob Marley war ein jamaikanischer Musiker und Aktivist, der als bedeutendster Vertreter und Mitbegründer der Reggae-Musik gilt. Gemeinsam mit seiner Band The Wailers hatte er zahllose Hits. Mit nur 36 Jahren starb er am 11. Mai 1981 an Hautkrebs.

Eine Geschichte wie mit dem Holzhammer erzählt. Beispielsweise so: Kaum hört Marley (Kingsley Ben-Adir) ein paar Takte des Soundtracks zum Paul-Newman-Film EXODUS, schon greift er nach der Gitarre und performt aus dem Stand den Welthit „Exodus“. Ja, so genial war er wohl. Oder: Marley und seine Frau Rita (Lashana Lynch) streiten sich, sie läuft weinend weg und – richtig – in der nächsten Szene ist „No Woman, No Cry“ zu hören. Welcher Song läuft wohl vor einer Schießerei?

Regie und Drehbuch mögen es ohnehin simpel, haken mehr ab, als eine dramaturgisch interessante Story zu erzählen. Keine Szene, in der nicht irgendwas Maßgebliches besprochen oder Geniales komponiert wird. Das mag zwar alles so gewesen sein, eine tiefergehende Entwicklung der Charaktere bleibt bei diesem „Best of eines Lebens“ aus. Technisch ist das gut gemacht und auch schauspielerisch gibt es nichts zu meckern, nur das Drehbuch hat die Eleganz eines Wikipediaeintrags.

Musiker-Biopics sind ein hit-or-miss-Spiel: Verkleidete Schauspieler, die zum Playback performen, erreichen nie die Kraft und den Zauber des Originals. Für jede BOHEMIAN RAHAPSODY gibt es einen ROCKETMAN, für jeden ELVIS einen MAESTRO. In diesem Fall ist nicht nur haartechnisch gesehen GIRL YOU KNOW IT’S TRUE der bessere Rastazopf-Film.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Bob Marley: One Love“
USA 2024
105 min
Regie Reinaldo Marcus Green

alle Bilder © Paramount Pictures Germany

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ARISTOTELES UND DANTE ENTDECKEN DIE GEHEIMNISSE DES UNIVERSUMS

ARISTOTELES UND DANTE ENTDECKEN DIE GEHEIMNISSE DES UNIVERSUMS

Die Bestsellerverfilmung über zwei ungleiche Freunde will zu viel und scheitert daran.

Ab 08. Februar 2024 im Kino

ChatGPT, fasse die folgenden 300 Seiten zusammen, unter Beibehaltung der Kernaussagen. Was mit Texten per KI halbwegs funktioniert, ist bei Buchverfilmungen immer noch ein Problem. Entscheidendes fehlt oder ans Herz gewachsene Charaktere werden gestrichen. Der Leser ist genervt. Bei ARISTOTELES UND DANTE ENTDECKEN DIE GEHEIMNISSE DES UNIVERSUMS ist das Gegenteil der Fall – und nun, was soll man sagen? Das macht es auch nicht besser.

Reichlich uninteressante Nebenhandlungen

Der einzelgängerische Aristoteles und der flamboyante Dante könnten unterschiedlicher nicht sein. Trotzdem oder gerade deshalb werden sie beste Freunde. Die „vielleicht“ oder „vielleicht nicht“-Liebesgeschichte zwischen den Jungs, angesiedelt im Texas der 1980er-Jahre, hätte als Coming-of-Age-Film genügend Potenzial. Leider wurden noch reichlich uninteressante Nebenhandlungen über Aris im Knast sitzenden Bruder, den Tod einer lesbischen Tante, die AIDS-Epidemie, Probleme mit den Eltern, Trennungsschmerz, Homophobie und vieles mehr ins Drehbuch gepackt. All die Nebenkriegsschauplätze rauben der eigentlichen Geschichte die Luft zum Atmen. Dramaturgisch besonders ungeschickt: Dante zieht für ein Jahr nach Chicago und verschwindet damit für gut die Hälfte des Films. Kein Wunder, dass man spätestens dann das Interesse an der ohnehin nicht besonders knisternden jungen Liebe verloren hat.

Krampfige oder ins Nichts laufende Dialoge, Charaktere, die eingeführt werden und wieder verschwinden, beliebige Ausstattung und Kostüme. Der Film könnte 1985 oder genauso gut 2024 spielen. Die Besetzung geht in Ordnung (Eva Longoria bleibt als verständnisvolle Mutter fast ungenutzt), doch die guten Schauspieler können das überfrachtete Drehbuch nicht retten.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Aristotle and Dante Discover the Secrets of the Universe“
USA 2023
96 min
Regie Aitch Alberto

alle Bilder © capelight pictures

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ALL OF US STRANGERS

ALL OF US STRANGERS

Zeitreise mal anders. Nicht im DeLorean auf brennenden Reifen zurück in die Zukunft, sondern als melancholischer Traum auf den Spuren der eigenen Kindheit.

Ab 08. Februar 2024 im Kino

Adam ist einsam. Seine Eltern verlor er bei einem Autounfall, als er gerade mal zwölf Jahre alt war. Nun lebt der Drehbuchautor in einem gesichtslosen Hochhaus am Rande Londons. Auf dem Plattenspieler die großen Queer-Pop-Hits der 1980er-Jahre. Eines Abends klingelt sein Nachbar Harry an der Tür. Zwischen den beiden Männern entwickelt sich rasch eine Beziehung, doch gleichzeitig wird Adam von Erinnerungen an die Vergangenheit heimgesucht. Immer wieder findet er sich in der Vorstadt wieder, in der er aufgewachsen ist. Im Haus seiner Kindheit leben seine Eltern noch genauso, wie vor 30 Jahren, nichts hat sich hier verändert. Das Wiedersehen jenseits von Zeit und Raum löst nicht nur bei Adam schmerzhafte Erinnerungen aus.

Der irreale Zustand zwischen Traum und Aufwachen

ALL OF US STRANGERS ist eine melancholische Meditation über Verlust und Einsamkeit, die sich wie der irreale Zustand zwischen Traum und Aufwachen anfühlt. Wunderbar unkitschig und herzzerreißend traurig, dazu mit umwerfenden Leistungen von allen Schauspielern. Neben Andrew Scott (dem Pfarrer aus FLEABAG) und Paul Mescal glänzen Jamie Bell und Claire Foy als (un)-tote Eltern. Wer bei den Gesprächen zwischen Vater und Sohn nicht mit den Tränen kämpft, hat kein Herz.

Für seine Studie über Vergebung und die Macht der Liebe findet der Film eine ungewöhnliche Erzählform, Kamera und Soundtrack sind herausragend. ALL OF US STRANGERS ist eine der schönsten Lebens- und Liebesgeschichten des Jahres.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „All of us Strangers“
GB 2023
105 min
Regie Andrew Haigh

alle Bilder © Walt Disney Studio Motion Pictures GmbH

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DIE FARBE LILA

DIE FARBE LILA

Aus Buch wird Film wird Broadwaymusical wird Film. THE COLOR PURPLE erzählt vom Triumph einer schwarzen Frau über ihren brutalen Ehemann. 1985 wurde der Stoff unter der Regie von Steven Spielberg verfilmt, 2005 kam eine mit Tony-Awards ausgezeichnete Broadway-Produktion auf die Bühne. Aus der hat Regisseur Blitz Bazawule nun wieder einen Kinofilm gemacht.

Ab 08. Februar 2024 im Kino

Musicals: Die einen lieben sie, die anderen hassen sie. Daran wird auch die von Oprah Winfrey und Steven Spielberg produzierte Verfilmung des Broadway-Stücks DIE FARBE LILA nichts ändern. Die Geschichte von der misshandelten Celie, die unglücklich mit einem brutalen Drecksack verheiratet ist und deren geliebte Schwester von eben diesem vertrieben wird, ist bekannt. Neu ist, dass die Handlung diesmal singend erzählt wird.

Überbordende Gesangs- und Tanznummern

Regisseur Blitz Bazawule hat mit der Adaption des Pulitzerpreis-ausgezeichneten Romans von Alice Walker einen zeitlosen Film gemacht. Hier stört nichts unpassend Modernes, alles ist hochprofessionell inszeniert, perfekt ausgestattet und natürlich top gespielt und gesungen. Die Kamera von Dan Laustsen gleitet durch sonnendurchflutete oder dramatisch verregnete Südstaaten-Landschaften, umkreist und fliegt über die Darsteller in feist ausgestatteten Musicalnummern.

Dass es dabei nicht disneyhaft septisch wird, ist vor allem den grandiosen Schauspielerinnen zu verdanken, allen voran Fantasia Barrino in der Hauptrolle, Taraji P. Henson als Shug Avery und Scene-Stealer Danielle Brooks, deren Sofia sich in der von Männern dominierten Welt nicht die Butter vom Brot nehmen lässt.

Die ersten zwei Stunden sind großes Kino: überbordende Gesangs- und Tanznummern und tolle Darbietungen von allen Beteiligten machen den Film zu einem Erlebnis. Doch am Ende ist es die letzte halbe Stunde, die zu viel ist. Je mehr die Bösen geläutert sind, desto kitschiger wird es. Ein Problem, das schon Spielbergs Version hatte. Wie in jeder echten Hollywoodproduktion ist auch hier das Happy End unvermeidlich, nur besonders glaubhaft ist es nicht.

Blitz Bazawule ist ein ghanaischer Multimediakünstler, der vor allem als Co-Regisseur bei Beyoncés „Black is King“ bekannt wurde. Seine Neuverfilmung von THE COLOR PURPLE ist ein visuelles Fest, handwerklich unglaublich gut gemacht, nur bei der Charakterentwicklung hapert es manchmal etwas. Wer Sinn für Musicals hat, sollte sich DIE FARBE LILA trotzdem auf keinen Fall entgehen lassen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Color Purple“
USA 2023
145 min
Regie Blitz Bazawule

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

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EINE MILLION MINUTEN

EINE MILLION MINUTEN

Zufall oder Absicht? EINE MILLION MINUTEN zeigt auffallende Parallelen zu WOCHENENDREBELLEN - ist aber der bessere Film.

Ab 01. Februar 2024 im Kino

Die Geschichte kommt einem bekannt vor: Vater ist viel unterwegs, macht Karriere. Mutter kümmert sich um Kinder und Haushalt, ist frustriert. Opa wird von Joachim Król gespielt. Eines der Kinder hat eine leichte Behinderung. Nix Garstiges, irgendwas, was man fast nicht sieht. ADHS oder so. Und weil keine Therapie anschlägt und das Kind es sich abends beim Zubettgehen so sehr wünscht, fasst die Familie einen verrückten Plan: Sie fahren gemeinsam durch sämtliche Fußballstadien Deutschlands. Nein, das war der andere Film. Sie machen eine Weltreise für 1.000.000 Minuten (entspricht knapp zwei Jahren). Und weil Kinder nicht nur im Prenzlberg an der Macht sind, dürfen sie den Verlauf der Tour bestimmen. Kurz mit dem kleinen Finger auf den Globus getippt – und los geht’s. Doch dass man, egal wohin man reist, seine Probleme immer wie einen schweren Koffer mit sich trägt, ist eine Binsenweisheit.

Das Leben ist der beste Autor

Ohne jeden Zynismus kann man sagen, dass hier die Probleme von extrem privilegierten Menschen thematisiert werden. So hält sich das Mitleid in Grenzen, wenn die Familie bei ihrem Selbstfindungstrip in fantastischen Häusern mit direktem Meerzugang residiert und das größte Problem eine instabile Internetverbindung ist. Darauf ein kühles Bier am Strand.

Dass EINE MILLION MINUTEN um Klassen besser als sein Doppelgänger WOCHENENDREBELLEN ist, hat mehrere Gründe: Zum einen sieht er besser aus. Kameramann Andreas Berger hat den Film fürs Kino gedreht und vermeidet kleinliches TV-Format. Zum anderen beweist Regisseur Christopher Doll bei der Besetzung der Hauptrollen mit Karoline Herfurth und Tom Schilling ein glückliches Händchen. Den beiden ist es zu verdanken, dass EINE MILLION MINUTEN keine banale deutsche Komödie mit Herz-Schmerz-Elementen geworden ist. Ganz im Gegenteil. Abgesehen von den etwas nervigen „Bilder einer glücklichen Familie mit gefälliger Popmusik unterlegt“-Sequenzen hat der Film viele erstaunlich ernste und berührende Momente.

Das Leben ist eben doch der beste Autor: Wie WOCHENENDREBELLEN basiert auch EINE MILLION MINUTEN auf einer wahren Geschichte. Die Buchvorlage stammt von Wolf Küper, der mit seiner Familie nach Stationen in Australien, Neuseeland und Asien inzwischen in Kapstadt lebt. Christopher Doll liefert mit der Verfilmung eine emotionale und wohltuend untypisch deutsche Tragikomödie ab – sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2024
123 min
Regie Christopher Doll

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

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THE HOLDOVERS

THE HOLDOVERS

Ab 25. Januar 2024 im Kino

Ein schlecht gelaunter Professor, ein rebellischer Teenager und eine trauernde Köchin bilden eine Zwangsgemeinschaft zu Weihnachten. Alexander Payns neuer Film kommt auf den Tag genau einen Monat zu spät in die Kinos. Aber weil THE HOLDOVERS ein moderner Klassiker ist, kann man sich den auch im Januar noch gut anschauen.

Schnee rieselt, der Baum ist geschmückt, es weihnachtet sehr. Doch im Elite-Internat Barton Academy ist zum Jahresende 1970 die Stimmung alles andere als festlich. Der bösartige, von Schülern wie Kollegen gehasste Lehrer Paul Hunham (Paul Giamatti) hat die undankbare Aufgabe, sich über die Feiertage um die „Überbleibsel“ (The Holdovers) zu kümmern, also jene Schüler, die nicht zu ihren Familien fahren konnten oder durften. In diesem Jahr bleibt am Ende nur der hochintelligente Einzelgänger Angus (Dominic Sessa) in seiner Obhut. Zusammen mit Kantinenköchin Mary (Da’Vine Joy Randolph) bildet die Zwangsgemeinschaft eine Art Ersatz-Familie, wenn auch auf begrenzte Zeit.

Das Leben ist hart

THE HOLDOVERS könnte ebenso gut aus der HAROLD AND MAUDE-Zeit stammen. Regisseur Alexander Payn erzeugt ein perfektes 70er-Jahre-Feeling ohne Klischees oder einen aufdringlichen Zeitgeist-Soundtrack. Es fängt schon beim altmodischen Universal-Logo an, geht über die hässlichen, aber sehr authentischen Titel-Einblendungen, bis hin zur perfekten Ausstattung samt Kostüme. Einen Glücksgriff hat Payne mit seinem bislang unbekannten Hauptdarsteller Dominic Sessa getan. Der steht hier zum allerersten Mal vor einer Kamera. Unglaublich. Dass er nebenbei auch noch wie die jugendliche Version von Donald Sutherland aussieht, macht die Reise in die 70er noch überzeugender. (Fragt sich, wieso die Macher vom TRIBUTE VON PANEM-Prequel den nicht auf dem Schirm hatten). Daneben der immer hervorragende, hier oscarreif spielende Paul Giamatti. Regisseur und Schauspieler verbindet eine lange Geschichte. Schon vor 20 Jahren stand Giamatti in SIDEWAYS für Payn vor der Kamera. Die in diesem Jahr mit dem Golden Globe für die beste Nebenrolle ausgezeichnete Da’Vine Joy Randolph vervollständigt das Trio als patente und großherzige Köchin, die mehr Tragik in sich trägt, als es auf den ersten Blick scheint.

Das Leben ist hart und THE HOLDOVERS macht daraus keinen Hehl. Die Weihnachtsgeschichte vom mürrischen Giftzwerg, der sich zum emphatischen Menschen wandelt, ist oft rührend, aber nie rührselig. Payne ist ein moderner Klassiker geglückt – bewegend, toll gespielt und mit viel authentischer 70er-Jahre-Atmosphäre. Unbedingt ansehen. 

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Holdovers“
USA 2023
133 min
Regie Alexander Payn

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

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STELLA. EIN LEBEN.

STELLA. EIN LEBEN.

Ab 25. Januar 2024 im Kino

Blondiert, elegant und skrupellos - Stella Goldschlag verrät während des Zweiten Weltkriegs jüdische Mitbürger, um ihre eigene Haut zu retten.

Berlin 1940: Sie lebt und liebt Jazz. Der große Traum vom Engagement in New York wird sich nicht erfüllen, denn Stella und ihre Freunde sind Juden. Sie kann zwar zunächst untertauchen, doch 1943 wird sie verhaftet. Um sich und ihre Eltern zu retten, arbeitet sie im Auftrag der Gestapo, sucht nach jüdischen Mitbürgern und denunziert sie. 

War Stella Goldschlag ein Monster?

Zwischen 600 und 3.000 Juden verrät Stella Goldschlag und stürzt sie damit ins Verderben. Nach Kriegsende will sie sich als „Opfer des Faschismus“ anerkennen lassen, später konvertiert sie zum Christentum und wird bekennende Antisemitin. Paula Beer spielt die ambivalente Figur gewohnt facettenreich, doch als Zuschauer bleibt man distanziert. Es fällt schwer, irgendeine Form von Sympathie oder Mitgefühl (trotz brutaler Folter durch die Gestapo) für eine Kollaborateurin zu entwickeln, die sich derart skrupellos verhält. Wie sie gemeinsam mit ihrem Freund, dem Passfälscher Rolf Isaaksohn, nicht nur überteuerte Ausweispapiere an Juden verkauft, sondern sich bald einen genussvollen Sport daraus macht, sogar enge Freunde zu verraten – das ist schon ganz und gar widerlich.

Den Kudamm der 40er-Jahre hat Set-Designer Albrecht Konrad kurzerhand an der Frankfurter Allee nachgebaut. Das sieht täuschend echt aus und ist eine Wohltat gegenüber den sonst üblichen, im Computer generierten Kulissen. STELLA. EIN LEBEN. besticht immerhin durch tolle Ausstattung. Doch sowohl in der Besetzung als auch in der Bildsprache ist der Film eigenartig modern. Zu keinem Moment glaubt man ernsthaft, Jannis Niewöhner oder Damian Hardung seien Menschen aus der damaligen Zeit. Kameramann Benedict Neuenfels zoomt und wackelt dazu durch die Geschichte, als würde er einen Jason-Bourne-Film in den 2000er-Jahren drehen – auch das wirkt angestrengt und fehl am Platz.

Ein zwiespältiger Film über eine (mehr als) zwiespältige Frau. War Stella Goldschlag ein Monster? Darüber zu urteilen, fällt schwer. Über allem steht die ewige Frage: „Was hätte man selbst getan?“ Stella Goldschlag war Täterin und Opfer zugleich. STELLA. EIN LEBEN. hat inszenatorische Schwächen, erzählt aber eine hochinteressante und gleichzeitig verstörende wahre Geschichte.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
115 min
Regie Kilian Riedhof

alle Bilder © MAJESTIC

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POOR THINGS

POOR THINGS

Ab 18. Januar 2024 im Kino

Was passiert, wenn man einer Selbstmörderin das Gehirn ihres ungeborenen Kindes einpflanzt? Auf diese komplexe Frage findet der neue Film von Yorgos Lanthimos (THE LOBSTER und THE FAVOURITE) überraschende Antworten.

Frankenstein 2.0: Der brillante Wissenschaftler Dr. Gordon Baxter (Willem Dafoe) fischt die Leiche einer Schwangeren aus dem Fluss. In seinem Labor verpflanzt er das Gehirn des ungeborenen Babys in den Kopf der jungen Frau. Mit viel Blitz und Strom erweckt er sie anschließend zum Leben. Bella Baxter (Emma Stone), so nennt er sein Geschöpf, macht sich mit kindlicher Neugier daran, die Welt des 19. Jahrhunderts zu erkunden.

Mindestens die weibliche Emanzipation in Zeitraffer

Vom Prenzlpanther zum normalen Menschen: Bella lernt laufen, essen, sich zu benehmen, entdeckt ihre Sexualität, die Liebe, die Kultur und die Politik. Was so ein Leben eben alles bereithält. Emma Stone spielt sich dabei in Richtung nächste Oscarnominierung. Faszinierend, wie sie sich von einem brabbelnden, kaputten Spielzeug auf zwei Beinen vor den Augen der Zuschauer in eine freiheitsliebende, selbstbestimmte Frau verwandelt. Manche interpretieren schon wieder eine zweite BARBIE und mindestens die weibliche Emanzipation in Zeitraffer in den Film. Doch POOR THINGS ist vor allem ein intelligenter Augenschmaus.

Willem Dafoe sieht unter einer dicken Schicht Latex selbst wie eine Kreation Frankensteins aus. Hinter der vernarbten Maske verbirgt sich eine geschundene Seele, seinem monströsen Vater sei Dank. Den genialen Wissenschaftler spielt Dafoe zurückgenommen, die Rolle hätte leicht in schamloses overacting kippen können. „Dumm fickt gut“ müsste im Falle von Mark Ruffalos Figur eher „eitel fickt gut“ heißen. Großartig, wie er den erbärmlichen Liebhaber Bellas der Lächerlichkeit preisgibt und nebenbei für eine ganze Generation Männer steht, die glaubt, nur durch ihre Virilität, könnten Frauen Erfüllung finden.

Die mit Fischaugenobjektiv teils in schwarz-weiß, teils in knallbunten Farben gedrehten Bilder wecken dank surrealistischer Kulissenbauten Erinnerungen an Terry Gilliam und Wes Anderson. Ähnlich wie die beiden großen Kinomagier erschafft Yorgos Lanthimos einzigartige, handgemachte Fantasiewelten und lässt seine Figuren jenseits aller gängigen Hollywoodformeln agieren. Dabei ist Lanthimos noch nicht im Manierismus festgefahren (im Gegensatz zu Anderson, der sich seit Jahren um sich selbst zu drehen scheint), wirkt frisch und aufregend.

Noch besser wäre POOR THINGS wohl nur, wenn man ihm in der Mitte eine halbe Stunde rausschneiden würde. Es zieht sich zwischendurch ein wenig. Aber das wird locker durch grandiose Bilder, tolle Schauspieler und die besten Tierfabelwesen (ein Hund mit Gänsekopf!) wettgemacht, die seit langem im Kino zu bestaunen waren. Das Festivalpublikum in Venedig war begeistert, am Schluss gab es den Goldenen Löwen für den Besten Film. Verdient.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Poor Things“
England 2023
141 min
Regie Yorgos Lanthimo

alle Bilder © The Walt Disney Company Germany

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BABY TO GO

BABY TO GO

Ab 11. Januar 2024 im Kino

Familienplanung von übermorgen. BABY TO GO ist eine ironische Zukunftsvision mit hübschem Technik-Schnickschnack und Werbeästhetik.

Gleichberechtigung 5.0: Männer können auch im neuen Jahr nicht schwanger werden, da kann die Wissenschaft noch so lange forschen. Und Frauen wollen es nicht mehr. Die Hormone, die Hitzewallungen, die Schwangerschaftsstreifen! Stattdessen lässt sich der Nachwuchs in einem schicken Designer-Pod im Labor züchten. Kinderkriegen wird so einfach wie die Pflege eines Tamagotchis.

BLACK-MIRROR-Episode auf 111 Minuten gedehnt

BABY TO GO erzählt von Rachel (Emilia Clarke) und Alvy (Chiwetel Ejiofor), die sich nach langem Zögern entschließen, Eltern von einem Plastikei zu werden. Regisseurin Sophie Barthes nutzt für ihre Science-Fiction-Sozialsatire die visuellen Mittel einer Apple-Werbung. Slicke Technik (der Frühstückstoast kommt aus dem 3D-Drucker), sanfte Pastelltöne – die Welt der Zukunft sieht gut aus.

Doch gutes Aussehen alleine reicht nicht. BABY TO GO ist eine etwas zahnlose BLACK-MIRROR-Episode auf 111 Minuten gedehnt. Das hätte sich komprimierter und wirkungsvoller locker in der Hälfte der Zeit erzählen lassen. Trotz all der hübschen Bildideen zieht es sich zwischendurch wie eine Apple-Präsentation von Tim Cook.

Zuschauer, die zwischen 10 und 14 € für ein Kinoticket berappen, erwarten eine gewisse Quantität an Film. Deshalb gibt es hierzulande auch keinen Markt für Kurzfilme. Eine knackigere Version von BABY TO GO wäre besser bei einem Streamer oder als Hälfte eines Doublefeatures aufgehoben.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Pod Generation“
GB 2022
111 min
Regie Sophie Barthes

alle Bilder © Splendid Film

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PRISCILLA

PRISCILLA

Ab 04. Januar 2024 im Kino

Was vom Mythos übrigblieb – die wahre Geschichte von Elvis Presleys besserer Hälfte.

Text: Anja Besch

Wohl jeder kennt die Story von Priscilla Beaulieu, die als 14-Jährige auf einem deutschen Army-Stützpunkt Elvis kennenlernt und ihm aus Liebe in den goldenen Käfig Graceland nach Memphis folgt. Statt elterlicher Aufsichtspflicht gilt es nun, die kruden religiösen und modischen Lebensregeln des Elvis Aaron Presley aka „Elvis the Pelvis“ zu befolgen. Der hüftschwingende Superstar und Pin Up Boy einer ganzen kreischenden Backfischgeneration entpuppt sich im überladenen Heim als pillenkomatöser Sexmuffel, der sieben Jahre lang allenfalls Hand an die Optik seiner später Angetrauten legt. Vierzehn Jahre und ein überraschendes Kind später verlässt Priscilla den King und schreibt 1985 ihre Memoiren „Elvis und Ich“, auf denen die 20 Millionen US-Dollar teure Produktion von Regisseurin Sophia Coppola beruht.

Lehrstück in Make-up, Frisurenstyling und Raumausstattung

PRISCILLA ist zwar aufwendiger als ein Privatfernsehen-Biopic, doch keineswegs interessanter, aufschlussreicher oder subtiler. Was die Königin des Musik-Merchandise-Marketings zu eben dieser machte (Lebensaufgabe seit Elvis Tod 1977 – neben talentfreien Schauspielversuchen in DALLAS oder DIE NACKTE KANONE – Verwalterin der Pilgerstätte Graceland), ist allenfalls ein Lehrstück in Make-up, Frisurenstyling und Raumausstattung.

Natürlich zieht der Name der bekanntesten Ex-Ehefrau der Welt, doch ist nicht jedes vermeintliche VIP-Opfer gleich eine verfilmungswürdige Ikone. Um die Beziehung des Mythos‘ Elvis zu seiner Kindsbraut zu verstehen, hätte es mehr als die überdimensionierten 40 cm Größenunterschied der beiden Hauptdarsteller Cailee Spaeny und Jacob Elordi gebraucht. Der Zuschauer bleibt außen vor und leidet bei Tränchen der chronisch Unterliebten – deren Namenspatronin bezeichnenderweise eine vorchristliche Märtyrerin ist – allenfalls mit ihrer Wimperntusche. Zum Trost gibt es nicht einmal ein Wiederhören mit gefühlsverstärkenden Elvis-Songs, da aus rechtlichen Gründen der Score von Coppolas Ehemann Thomas Mars und dessen Poprockband „Phoenix“ stammt.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Priscilla“
USA 2023
113 min
Regie Sofia Coppola

alle Bilder © MUBI

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THE QUEEN MARY

THE QUEEN MARY

Ab 28. Dezember 2023 im Kino

Rechtzeitig zum Jahresende kommt dieser komplett verkorkste Quatschfilm über ein dümpelndes Gespensterschiff in die Kinos.

Am Hafen von Long Beach liegt seit vielen Jahren die RMS Queen Mary vor Anker. In den 1930er-Jahren gebaut, früher stolzer Passagierdampfer, inzwischen zu einem Casino für spielsüchtige Touristen verkommen. Als neue Attraktion bieten die Eigner nun eine Geistertour an Bord. Der Film THE QUEEN MARY dient offensichtlich als Werbevehikel für den 65 $ teuren „Paranormal Ship Walk“.

Ein Meisterwerk des Scheiterns

THE QUEEN MARY macht den Eindruck, als hätten sehr viele Köche den Brei verdorben. Im Schnittraum wurde dann das Material ohne jeden Sinn und Verstand aneinander geschustert. Das Ergebnis: Ein Meisterwerk des Scheiterns. Wirr wäre untertrieben. Es gibt wohl zwei (oder drei?) Zeitebenen: Eine spielt 1938 und handelt von einer Gaunerfamilie, die sich trotz Dritte-Klasse-Tickets in den Speisesaal der First Class schmuggelt. Als man sie enttarnt, wird der Vater zum blutrünstigen Axtmörder, während seine kleine Tochter mit Fred Astaire einen schier unendlich langen Stepptanz aufführt (nicht fragen). Gleichzeitig stolpern in der Gegenwart die vollbusige Sarah (an der Bluse stets einen Knopf zu viel geöffnet), ihr Ex-Mann und der zwergwüchsige Sohn über das Deck, auf der Suche nach Gespenstern oder möglicherweise dem verloren gegangenen Drehbuch. In diesem filmischen Desaster sind einzig die Ausstattung des Schiffs mit seinen historischen Dekor und die schick gemachten Übergänge zwischen den Epochen erwähnenswert.

Regisseur Gary Shore hat schon den unsäglichen DRACULA UNTOLD verbrochen. Dass er früher mal Werbefilme gemacht hat, mag man kaum glauben. THE QUEEN MARY ist zu lang, zu schlecht gedreht und im wahrsten Sinne des Wortes unterbelichtet. Das funktioniert nicht mal als trashiger Spaß. Die beste Szene zeigt eine Gespensterfrau, die sich den Kopf auf der Tastatur eines Klaviers zu Matsch zerschlägt – als Zuschauer dieses Films kann man es ihr nachempfinden.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Haunting of the Queen Mary“
USA / Großbritannien 2023
125 min
Regie Gary Shore

alle Bilder © Splendid Film

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LOLA

LOLA

Ab 28. Dezember 2023 im Kino

Was wäre, wenn? LOLA ist ein kluges Gedankenspiel über Machtmissbrauch und seine fatalen Konsequenzen.

Eine interessante Überlegung: Ließe sich das Schicksal der Menschheit verändern, wenn man Nachrichten aus der Zukunft sehen könnte? Thom und Mars haben eine Maschine erfunden, kurz „Lola“ genannt, mit der sie genau das können. Es ist das Jahr 1941, der Zweite Weltkrieg tobt und Hitlers Truppen rücken nach England vor. Mithilfe ihrer Maschine, mit der sie Radio und Fernsehschnipsel aus der Zukunft empfangen können, wissen die beiden Schwestern immer schon einen Tag vorher, was der GröFaZ plant und können die Zivilbevölkerung vorwarnen. Bald werden die beiden „Wahrsagerinnen“ nationale Berühmtheiten, obwohl niemand weiß, wer sie in Wirklichkeit sind. Doch das Wissen über die Angriffspläne von morgen weckt das Interesse des Militärs – und so was geht ja bekanntlich nie gut aus.

Wäre David Bowie in einer alternativen Zeit Zahnarzt geworden?

Sie haben David Bowie gelöscht! Kann passieren, wenn sich durch zunächst kleine, dann immer gewaltigere Eingriffe der Ablauf des Weltgeschehens ändert und die uns bekannte Timeline aus dem Ruder läuft. Wäre David Bowie in einer alternativen Zeit Zahnarzt geworden und hätte nie von Major Tom gesungen? Die Idee ist nicht neu, aber hier besonders faszinierend weitergedacht: Wie sehr ändert sich der Lauf der Welt, wenn zum Beispiel Musik aus der Zukunft schon 1940 populär gemacht wird?

Für seinen klugen Experimental-Film LOLA hat Regisseur Andrew Legge die Form des „Found-Footage“-Formats gewählt. Das ist zwar voll 2000er, funktioniert hier aber hervorragend. Statt verwackelter Videobilder gibt es der damaligen Zeit entsprechend verwackelte Filmbilder in schwarz-weiß und verrauschtem Ton. LOLA ist ein beeindruckendes Spielfilmdebüt, nur 80 Minuten lang und könnte als Blaupause für eine Miniserie oder einen großen Spielfilm dienen. Clever gemacht und sehr interessant.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Lola“
Irland / UK 2023
80 min
Regie Andrew Legge

alle Bilder © Neue Visionen

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THE IRON CLAW

THE IRON CLAW

Ab 21. Dezember 2023 im Kino

In der internationalen Wrestling-Szene waren sie jahrelang Stars. Privat lag ein Fluch auf den Von Erichs.

Texas, Anfang der 80er-Jahre: Fritz Von Erich ist ein berühmter Wrestler, dem der ultimative Sieg als World-Champion zeitlebens verwehrt bleibt. Also drängt er seine Söhne in den Sport. Dass die Jungs in erster Linie das Ego ihres Vaters befriedigen und mit unterwürfigem „Yes Sir!“ nur Befehle ausführen, kommt dem herrschsüchtigen Alten nicht in den Sinn.

Muskeln, Kraft und toxische Männlichkeit

Die Story vom Fluch, der angeblich auf den Von Erichs liegt, ist in Insiderkreisen Legende. Hätte sich das ein Drehbuchautor ausgedacht, würde man ihm maßlose Übertreibung vorwerfen. So viel sei verraten: Von fünf Brüdern (in Wahrheit sogar sechs) überlebt am Ende nur einer. Nicht umsonst wird die Familie oft als die Kennedys des Sports bezeichnet.

Die Besetzung ist das Highlight des Films. Neben dem besorgniserregend muskulösen Zac Efron (von einer He-Man-Gedächtnisfrisur verunstaltet) besteht sie aus lauter tollen Schauspielern, bei denen man auf Anhieb nicht so genau erinnert, woher man sie kennt: Jeremy Allen White (THE BEAR), Harris Dickinson (TRIANGLE OF SADNESS) und vor allem als gestrenger Vater Holt McCallany, der in der leider nie fortgesetzten Serie MINDHUNTER die Hauptrolle spielt.

Es riecht nach Testosteron. Für Wrestling sollte man sich auf jeden Fall interessieren, denn es gibt viel vom Sport zu sehen, von dem bis heute niemand weiß, wo Wettkampf aufhört und Show beginnt. Hier dreht sich alles um Muskeln, Kraft und toxische Männlichkeit. Die Von Erichs sind jahrelang Stars der Szene und eilen von Sieg zu Sieg. Es hätte nicht geschadet, wenn sich das Drehbuch dabei ein bisschen weniger an der Realität abgearbeitet hätte. So bleiben die Figuren von Anfang bis Ende in ihren Verhaltenskorsetts gefangen. Die Eltern behandeln ihre Kinder wie nützliches Werkzeug, Emotionen sind unerwünscht. Die ständige Wiederholung von Kämpfen im Ring und dem nächsten Schicksalsschlag ist nicht leicht zu verdauen. Doch die Realität war wohl noch viel schlimmer als das, was auf der Leinwand zu sehen ist. Einer der Söhne, Chris, kommt im Film gar nicht vor. Auch sein Leben endete früh durch Selbstmord. „Man kann das den Zuschauern nicht zumuten. Es wäre einfach zu unerbittlich.“, sagt Regisseur Durkin.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Iron Claw“
USA / GB 2023
130 min
Regie Sean Durkin

alle Bilder © LEONINE Studios

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GIRL YOU KNOW IT’S TRUE

GIRL YOU KNOW IT’S TRUE

Ab 21. Dezember 2023 im Kino

Sie verkauften 14 Millionen Alben, wurden zu Stars - gesungen haben andere. Ist die Geschichte von Milli Vanilli knapp 30 Jahre später noch relevant genug, um daraus einen Kinofilm zu machen?

Der kometenhafte Aufstieg und der krasse Absturz der beiden Backgroundtänzer Robert Pilatus und Fabrice Morvan, besser bekannt als Milli Vanilli, ist 1993 der größte Skandal, den die Musikgeschichte bis dato erlebt hat. Vergleichbar in etwa, wenn heute rauskäme, dass Taylor Swift seit Jahren die Lippen zum Playback einer anderen Sängerin bewegt. Milli Vanilli sind internationale Stars aus München. Nummer eins Hits weltweit, vergöttert in Amerika und Gewinner des Grammys als Best New Artists. Doch dann lässt Produzent Frank Farian bei einer Pressekonferenz die Bombe platzen: Rob und Fab haben nicht einen Ton auf ihrem millionenfach verkauften Album selbst gesungen. Alles Lug und Trug. Ihre Platten werden öffentlich von enttäuschten Fans mit Bulldozern zermalmt.

Eine alberne deutsche Klamotte auf RTL-Niveau?

Wenn Menschen, die es gut mit einem meinen, hören, dass man sich bei strömendem Regen zur Pressevorführung eines Milli Vanilli-Biopics mit Matthias Schweighöfer (!) aufmacht, erntet man Mitleid. Warum tust Du dir das an? Die eigene Lust ist auch nicht gerade groß, schließlich sieht der Trailer verboten schlecht aus. Eine alberne deutsche Klamotte auf RTL-Niveau über zwei Fake-Musiker – wer braucht das? Und dann die große Überraschung: Nicht nur nervt Schweighöfer nicht, der Film ist richtig gut. Unterhaltsam, witzig und vor allem auf den Punkt besetzt. Tijan Njie und Elan Ben Ali sehen den Originalen unfassbar ähnlich und können auch noch spielen.

Die Rahmenhandlung zeigt die beiden auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. In einem luxuriösen Hotelzimmer auf die Couch gefläzt, erzählen sie ihre Geschichte. Dabei durchbricht Regisseur Verhoeven, wie auch später bei anderen Szenen, die vierte Wand. Die Darsteller sprechen direkt zu den Zuschauern. Nur eine von vielen guten Ideen, die den Film auch visuell interessant machen. Schön widerlich ist die Ausstattung. Wer dabei war, erinnert sich: so geschmacklos sah Ende der 80er-Jahren die Mode wirklich aus. Neben der eigentlichen Skandalgeschichte gibt es Wissenswertes über die Abgründe des Musikbusiness (der große Hit „Girl you know it’s true“ war geklaut – Farian selbst nennt es eine Neuinterpretation) und die familiären Hintergründe der beiden gefallenen Stars.

Wie so oft, findet auch GIRL YOU KNOW IT’S TRUE kein Ende. Es gibt da eine bestimmte Szene mit einem Walkman, die das perfekte Schlussbild für diesen unerwartet guten Film gewesen wäre. Aber das ist nur ein kleines Manko – die unglaublich wahre Geschichte von Milli Vanilli ist eine echt gelungene Überraschung zu Weihnachten.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
124 min
Regie Simon Verhoeven

alle Bilder © LEONINE Studios

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EILEEN

EILEEN

Ab 14. Dezember 2023 im Kino

Todd Haynes für Arme: EILEEN ist ein hochkarätig besetztes B-Picture.

Massachusetts im Winter 1964: Der Vater ein jähzorniger Säufer, die gemeinsame Wohnung heruntergekommen, der Job im Jugendgefängnis öde. Eileens Leben ist trostlos. Bis eines Tages die glamouröse Rebecca als ihre neue Chefin auftaucht – um das junge Mädchen ist es geschehen. Bald entwickelt sich eine zarte Bande zwischen den beiden Frauen. Doch dann konfrontiert Rebecca Eileen mit einem furchtbaren Geheimnis.

Der große Twist kommt viel zu spät

Oh Schreck, oh Graus! Klingt wie ein B-Picture? Ist es auch. Früher wäre so was als Schwarz-Weiß-Drama mit hysterischem Geigenscore in die Kinos gekommen. Todd Haynes, der andere moderne Regisseur mit einer Schwäche für Douglas-Sirk-Dramen, hat mit CAROL schon vor acht Jahren das bessere Retro-Drama gedreht. 

Die einen mögen sie, viele hassen sie: Anne Hathaway gibt dem Affen Zucker, ist in dieser zweitklassigen Produktion aber fast verschenkt. Die hervorragende Thomasin McKenzie (LAST NIGHT IN SOHO) spielt die Titelfigur Eileen als sexuell erwachende Kindfrau. Weshalb sich ein A-Cast für diese maue Produktion verpflichtet hat, bleibt ein Geheimnis. Aber das größte Rätsel ist, wohin das Drehbuch mit seiner Geschichte will. Der gar nicht so überraschende Twist kommt viel zu spät, da hat man schon längst das Interesse verloren. Und auch die mehr als dezent angedeutete homoerotische Liebe zwischen Eileen und Rebecca verpufft ohne nennenswerten Effekt. Am Ende des Films fragt man sich: Was genau sollte das alles?

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Eileen“
USA 2023
97 min
Regie William Oldroyd

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

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MUNCH

MUNCH

Ab 14. Dezember 2023 im Kino

Biopic über den Vater des Expressionismus, Edvard Munch. Sein Gemälde „Der Schrei“ ist eines der berühmtesten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts.

MUNCH ist eine Tour de Force durch das Seelenleben eines unergründlichen Künstlers. Von seinen Kollegen missverstanden, vom Kunstbetrieb abgelehnt, von Melancholie geplagt und von der Alkoholsucht gequält – Regisseur Henrik Martin Dahlsbakken zeichnet ein nuanciertes Porträt des norwegischen Malers.

Nur wenige waren produktiver

Das 19. Jahrhundert ist nur ein Handyklingeln vom Technoclub entfernt. MUNCH schafft den Bezug zum Heute, indem er Szenen frech ins Berlin der Jetztzeit verlegt. Dort sorgt 1892 die erste Ausstellung des jungen Malers für einen Skandal. Eine von vielen künstlerisch mutigen Ideen, die das Biopic zu einem relevanten, modernen Stück Kino machen. So wird der greise Munch beispielsweise von der norwegischen Theaterschauspielerin Anne Krigsvoll gespielt, eine überraschende Besetzung, die hervorragend funktioniert.

Der große Ruhm setzt auch bei Edvard Munch erst lange nach seinem Tod ein: 2012 wird „Der Schrei“ für unfassbare 120 Millionen US-Dollar versteigert. Wie in den beiden anderen aktuellen Malerbiopics DALILAND und DER SCHATTEN VON CARAVAGGIO spielen auch bei MUNCH die Kunstwerke selbst nur eine untergeordnete Rolle. Die Seelenqualen (und damit Inspirationsquellen) des Künstlers stehen mehr im Mittelpunkt als sein Werk. Verständlich, denn für einen Spielfilm bieten abgefilmte Gemälde nur einen überschaubaren Unterhaltungswert. Wer das im Kino trotzdem sehen möchte, für den gibt es am Ende von MUNCH eine tolle, mehrminütige Sequenz, die ein Best of seiner berühmtesten Bilder zeigt. Es sind viele. Munch hinterließ der Nachwelt mehr als 1.700 Gemälde.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Munch“
Norwegen 2023
104 min
Regie Henrik Martin Dahlsbakken

alle Bilder © Splendid Film

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HOW TO HAVE SEX

HOW TO HAVE SEX

Ab 07. Dezember 2023 im Kino

How to have sex - hopefully not like this.

Was ist schlimmer, als eine Horde besoffener US-Teenager zum Springbreak? Eine Horde besoffener Teenager aus England auf einer Mittelmeerinsel. Die 17-jährige Tara und ihre Freundinnen machen auf ihrem Mädelstrip keine Gefangenen. Nach den Schulprüfungen wollen sie vor allem drei Dinge: Saufen bis zum Koma, Party & Sex. Praktisch: Auch bei den Jungs im Apartment nebenan haben die Hormone das Denken übernommen. Je lauter und zügelloser, desto besser. Was dann in dieser einen Nacht passiert, bleibt zunächst vage. Erst gegen Ende wird klar: Tara hatte Sex gegen ihren Willen.

Saufen, Party & Sex

HOW TO HAVE SEX ist provokant, exzessiv und trotz mediterranen Sonnenscheins düster. Regisseurin Molly Manning weiß genau, wie man die Stimmung für eine moderne Coming-of-Age-Geschichte einfängt. Ihr Film ist ein authentisches, klischeefreies Stück über das Erwachsenwerden. Souverän auch ihre Schauspielführung: Tara wird von Mia McKenna-Bruce gespielt, einer 26-jährigen Britin, die sicher noch eine große Karriere vor sich hat. Eine Entdeckung.

Neid auf Cannes. Wie viele gute Filme laufen da eigentlich jedes Jahr? Die Berlinale schaut beschämt zu Boden. Man kann darauf wetten: Alles was herausragend ist, trägt im Vorspann den Palmwedel des französischen Filmfestivals. Auch dieses aufregende Erstlingswerk wurde in Cannes 2023 gefeiert und gewann in der Sektion „Un Certain Regard“ den Hauptpreis.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „How to have sex“
GB 2023
98 min
Regie Molly Manning

alle Bilder © capelight pictures

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WIE WILDE TIERE

WIE WILDE TIERE

Ab 07. Dezember 2023 im Kino

Das kennt man aus Brandenburg: Die einen wollen nichts wie weg - hin in die Großstadt. Die anderen haben Lärm und Prenzlpanther satt und ziehen aufs Land. Doch in den verwaisen Dörfern lauern oft Ablehnung und offener Hass auf die Zugezogenen.

Das französische Paar Antoine (Denis Ménochet) und Olga (Marina Foïs) lebt seit zwei Jahren in einer kleinen Gemeinde im Landesinneren Galiziens. Die beiden passen sich an, so gut es geht, arbeiten hart, betreiben Ackerbau und ernähren sich von dem, was sie erwirtschaften. Doch die Einheimischen bleiben unter sich, begegnen den ökologisch bewussten Neubauern mit Argwohn und Ablehnung. Besonders mit dem Nachbarn Xan (beängstigend fies: Luis Zahera) gibt es immer wieder Streit.

Es brodelt unter der Oberfläche

Es brodelt unter der Oberfläche und früher oder später wird es zur Katastrophe kommen. Als es dann so weit ist, wechselt der Film von der männlichen in die weibliche Perspektive. Das macht WIE WILDE TIERE vielschichtig und ungemein spannend. Dass die Geschichte von wahren Begebenheiten inspiriert ist, lässt die Verzweiflung über die elende Spezies Mensch noch wachsen. Warum nur gibt es so viel Neid und Verbohrtheit auf der Welt? Aber so einfach ist es nicht. In einer der besten Szenen des Films versuchen die Kontrahenten eine Annäherung. Bei einer Flasche Wein macht jeder seinen Standpunkt klar. Das führt zwar zu keiner Lösung, doch als Zuschauer wird man sich seines eigenen Schwarz-Weiß-Denkens bewusst und beginnt fast Mitgefühl für die vermeintlich „Bösen“ zu empfinden.

Seit der Weltpremiere in Cannes 2022, wo WIE WILDE TIERE als Sensation gefeiert wurde, ist sein Erfolg ungebrochen. Bei der Verleihung der Goyas 2023 räumte er neun Preise ab, unter anderem für Bester Film, Beste Regie sowie Bester Hauptdarsteller.

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Originaltitel „As Bestas“
Spanien / Frankreich 2023
137 min
Regie Rodrigo Sorogoye

alle Bilder © STUDIOCANAL

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AUF DEM WEG

AUF DEM WEG

Ab 30. November 2023 im Kino

Und noch ein Film zum Thema: Männer laufen von A nach B und finden sich dabei selbst. Diesmal wandert Jean Dujardin durch Frankreich.

Spätestens seit Hape Kerkelings Jakobsweg-Reise sehnt sich das Publikum nach Kerlen, die sich in schroffer Natur Erkenntnisse über sich selbst erlaufen. Auch Denis Imberts AUF DEM WEG bietet da inhaltlich wenig Neues. Doch im Vergleich zur verunglückten ICH BIN DANN MAL WEG-Verfilmung ist dieser Trip ein echtes Juwel. In Frankreich wollten das bis jetzt über eine Millionen Zuschauer sehen.

Jean Dujardin ist perfekt als gestrauchelter Macho

„Acht Meter reichten aus, um mir die Rippen, die Wirbel und den Schädel zu brechen. Acht Meter reichten, um 50 Jahre zu altern.“ Jean Dujardin spielt den Schriftsteller Pierre, der nach einer betrunkenen Kletterei aus dem 2. Stock eines Hotels auf die Straße fällt. Die Ärzte sehen zunächst wenig Chance auf Heilung. Ob der passionierte Kletterer jemals wieder laufen kann, ist mehr als fraglich. Doch wäre das so, gäbe es weder Buch noch Film. Gegen jede Diagnose findet Pierre die Kraft, eine 1.300 Kilometer lange Mammutwanderung quer durch Frankreich anzugehen. Sein Weg führt ihn von den südlichen Alpen über das Zentralmassiv bis zur Küste von La Hague.

Ein Traum der Privilegierten – so eine mehrmonatige Auszeit muss man sich finanziell leisten können. Praktisch, wenn man während der Wanderung noch seinem Job nachgehen kann – dass dabei dann ein Bestseller rauskommt – geschenkt. Aus der Fülle der Selbstfindungsfilme (und Bücher) sticht AUF DEM WEG wohltuend heraus. Das liegt vor allem an der Besetzung – Jean Dujardin ist perfekt als gestrauchelter Macho. Auch wenn es schon wieder ein Mann ist, der sich hier auf Seelenreise in die raue Natur begibt. Frauen fahren wohl lieber nach Indien oder gehen in den SPA.

Mit aufs Wesentliche reduzierten Rückblenden und grandiosen Naturaufnahmen entwickelt AUF DEM WEG einen leisen, fast poetischen Sog. Dazu werden aus dem Off die prägnantesten Stellen der Vorlage, Sylvain Tessons Lebenserinnerung „Auf versunkenen Wegen“ gelesen. So ist man dann nach 93 Minuten doppelt belohnt: einen schönen Film gesehen und gleichzeitig ein gutes Buch dazu gehört.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Sur les chemins noirs“ 
Frankreich 2021
93 min
Regie Denis Imbert

alle Bilder © X VERLEIH

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THE OLD OAK

THE OLD OAK

Ab 23. November 2023 im Kino

Regisseur Ken Loach ist 87 Jahre alt und hat keine Geduld mehr. Sein (wahrscheinlich) letzter Film ist nochmals ein Aufruf zu mehr Gemeinschaft und Solidarität.

Gelsenkirchen könnte auch in Großbritannien liegen. Easington ist eine dieser typisch nordenglischen Kleinstädte, die früher dank Bergbau mit Leben und harter Arbeit erfüllt waren, nun aber nach 30 Jahren des Niedergangs zu Geisterstädten verkommen. Es gibt keine Jobs, die Häuser verfallen oder werden zu Schleuderpreisen an Investoren verscherbelt. Der letzte Zufluchtsort für die, die den Absprung nicht geschafft haben, ist der lokale Pub „The Old Oak“. Dessen Wirt TJ Ballantyne (Dave Turner) hat selbst einige Schicksalsschläge erlebt, bei den verbitterten Tiraden seiner Stammgäste schaltet er deshalb lieber auf Durchzug. Als eines Tages unter dem Protest der Dorfbewohner eine große Gruppe syrischer Flüchtlinge in Easington eintrifft, ist die Aufregung und Ablehnung groß.

Ein Loblied auf die Arbeiterklasse

THE OLD OAK erzählt von der ungewöhnlichen platonischen Beziehung zwischen dem depressiven Pub-Besitzer TJ und der jungen, fotobegeisterten Syrerin Yara (Ebla Mari). Ganz langsam entwickelt sich eine zarte Freundschaft zwischen den beiden. Wahrhaftig und authentisch gespielt von Dave Turner und Ebla Mari, die hier ihr Filmdebüt gibt.

Ken Loach war und ist ein Meister im Darstellen des englischen Arbeitermilieus. So ist auch sein neuer – und nach eigener Aussage letzter – Film ein Loblied auf Gemeinschaftsgeist und die Arbeiterklasse. THE OLD OAK fügt sich damit nahtlos in das Lebenswerk des Regisseurs ein.

Keine Jobs, keine Perspektive, vergessen  und von der Regierung fallengelassen: Die Probleme der britischen Einheimischen und der syrischen Flüchtlinge sind sich gar nicht so unähnlich. Loachs Leidenschaft und sein Mitgefühl für diese Menschen sind aufrüttelnd und eindringlich. Dass der Regisseur nach einer fast 60-jährigen Karriere die Geduld verloren hat und deshalb seine Botschaften mit dem Holzhammer vermittelt, sei ihm verziehen. Nur das Ende geht dann doch zu weit und ist purer Sozialkitsch. Bis dahin ist OLD OAK ein bewegendes Drama über Verlustangst und die Schwierigkeit, die Hoffnung zu behalten. Das sehenswerte Alterswerk eines kompromisslosen und bemerkenswerten Regisseurs.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Old Oak“
Großbritannien / Frankreich 2023
113 min
Regie Ken Loach

alle Bilder © WILD BUNCH GERMANY

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NAPOLEON

NAPOLEON

Ab 23. November 2023 im Kino

Kino, wie es sein soll: episch, spannend, lustig und lehrreich. Ridley Scotts neues Meisterwerk zeigt den französischen Kaiser, wie man ihn noch nie zuvor gesehen hat.

Stolze 85 Jahre alt ist Ridley Scott und er kann’s noch immer. Mit NAPOLEON ist dem britischen Regisseur erneut ein großer Wurf gelungen. Dass das alles toll aussieht und die Schlachtszenen bombastisch sind, versteht sich fast von selbst. Schließlich hat der Mann mit ALIEN, BLADE RUNNER und GLADIATOR ganze Genres neu erfunden oder zumindest jahrzehntelang geltende Maßstäbe gesetzt.

Trotz der blutigen Schlachtszenen fast eine Komödie

Joaquin Phoenix ist die perfekte Besetzung und spielt den französischen Feldherrn und Kaiser als souveränes, rücksichtsloses Genie – zumindest wenn es um Kriegsführung geht. Im Privaten ist seine Hoheit dagegen das Gegenteil eines Genies. Unbeholfen, albern und dabei schwer in Josefine verliebt (fabelhaft: Vanessa Kirby). Von der Liebe seines Lebens, die ihm 15 Jahre (nicht immer) treu zur Seite steht, lässt sich Napoleon wegen ausgebliebener Nachkommen scheiden.

Überraschung: NAPOLEON ist trotz der blutigen Schlachtszenen fast eine Komödie. Mindestens aber ein historisches Drama mit komischen Elementen. Kleine Missgeschicke, absurde Dialoge und ein sich oft gar nicht kaiserlich verhaltender Kaiser sorgen für Lacher. Überhaupt ist Scott eine ausgesprochen kurzweilige (bei 157 Minuten Laufzeit) und lehrreiche Geschichtsstunde gelungen. Höhepunkt ist die Schlacht von Austerlitz, in der die französische Armee die Streitkräfte Russlands und Österreichs dank Napoleons strategischem Geschick auf dem Schlachtfeld auslöscht. Selten genug in Historienfilmen: Man versteht die Zusammenhänge und geht klüger aus dem Kino.

Ridley Scotts vielleicht nicht 100 % historisch korrekte Version des Lebens von Napoleon Bonaparte hätte noch reichlich weitere Lobeshymnen verdient. Zum Beispiel, dass Joaquin Phoenix auf einen falschen (französischen) Akzent verzichtet – Scotts HOUSE OF GUCCI wurde wegen übertriebenen Englisch-Italienisch-Kauderwelschs zur unfreiwilligen Komödie. Aber vor allem ist NAPOLEON für die große Leinwand gemacht. Apple hat den Film zwar finanziert und früher oder später wird er auf Apple TV+ laufen – aber vorher sollte man sich NAPOLEON unbedingt im Kino anschauen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Napoleon“
USA / England 2023
157 min
Regie Ridley Scott

alle Bilder © Sony Pictures

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DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES

DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES

Ab 16. November 2023 im Kino

Und noch eine Fortsetzung: Das Prequel zu einer Trilogie, die schon in vier Teile zerdehnt war. Hat die Menschheit wirklich auf die Vorgeschichte zu den Hunger Games gewartet?

Erstmal: dett is nich meen Berlin! Wieso Berlin? Als es den Babelsberger Filmstudios noch gut ging und diverse Streiks nicht die halbe Industrie lahmlegten, wurde die US-Produktion DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES zu großen Teilen in der deutschen Hauptstadt gedreht – und das sieht man. Szenenbildner Uli Hanisch hat vom Olympiastadion über den Strausberger Platz bis zum Krematorium Baumschulenweg (werden da eigentlich auch noch Bestattungen durchgeführt oder nur noch Filme gedreht?) diverse Motive in beeindruckende Endzeit-Settings umgebaut. So macht der Film vor allem Berlinern Laune beim heiteren Locationraten.

Fühlt sich wie die komplette Staffel einer Serie an

Basierend auf der Bestseller-Reihe von Suzanne Collins werden „Die Tribute von Panem“-Kinofilme weiter ausgeschlachtet. Nachdem Regisseur Lawrence kürzlich selbst zugab, dass das Splitten des dritten Films in zwei Teile „ein schwerer Fehler“ gewesen sei, geht es nun mit dem fünften beziehungsweise ersten Prequel-Teil weiter. Die Vorgeschichte der gefürchteten Hungerspiele stellt den jungen Coriolanus (Tom Blyth) in den Mittelpunkt, lange bevor er zum Präsidenten von Panem wird (in Teil eins bis vier von Donald Sutherland gespielt). Als Sprössling einer einst vermögenden Familie wird er zum Mentor von Lucy Gray (Rachel Zegler) ernannt, einem Mädchen aus dem verarmten Distrikt 12. Schnell wittert er seine Chance, Familienehre und Macht zurückzuerlangen.

Bis in die Nebenrollen hochkarätig besetzt: Oscarpreisträgerin Viola Davis goes full camp als Dr. Volumnia Gaul. Trotz aufgeplatzter Sofakissen-Frisur und grellem Make-up ist sie weniger furchteinflößend, als sie es hätte sein wollen und lässt dabei die Grenzen zum overacting weit hinter sich. Ausgezeichnet dagegen: Jason Schwartzman als schmieriger Showmoderator und der immer herausragende Peter Dinklage in der Rolle des tragischen Antihelden. Nach THE MARVELS trällert es auch in den Tributen gewaltig. Noch ein Actionspektakel, in dem gesungen wird. Man fragt sich, was das soll. Rachel Zegler hat zwar eine hübsche Stimme (schließlich war sie die Maria in Steven Spielbergs WEST SIDE STORY), aber das Gejodel wirkt in einem dystopischen Jugendfilm völlig fehl am Platz.

DIE TRIBUTE VON PANEM – THE BALLAD OF SONGBIRDS & SNAKES. Langer Titel, langer Film. Der in drei Kapitel unterteilte 157-Minuten-Film fühlt sich wie die komplette Staffel einer Serie an. Vor allem der letzte Akt könnte glatt ein eigener Spielfilm sein. Fortsetzung folgt. Garantiert.

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Originaltitel „The Hunger Games: The Ballad of Songbirds & Snakes“
USA 2023
157 min
Regie Francis Lawrence

alle Bilder © LEONINE Studios

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HÖR AUF ZU LÜGEN

HÖR AUF ZU LÜGEN

Ab 16. November 2023 im Kino

Eine traurige, aber unsentimentale Geschichte über die Zwänge der Moral – und deren Überwindung.

„Hör auf zu Lügen“, mahnt seine Mutter ihn. Dabei erfindet der junge Philippe Besson einfach nur gerne Geschichten. Er beobachtet fremde Menschen auf der Straße und fantasiert ihr Leben. Zu lügen hilft ihm, ehrlich zu sich selbst zu sein. Denn Philippe mag Jungs und das ist in einer kleinen französischen Provinz in den 1970er-Jahren ein echtes Problem. Im autobiografischen Roman „Hör auf zu Lügen“ erzählt Philippe Besson von seiner Jugendliebe.

Ein sehenswerter LGBTQ-Film

In Buch und Film heißt das Alter Ego des Schriftstellers Stéphane, ist 17 Jahre alt und schwer verliebt. Er fühlt sich von seinem Klassenkameraden, einem hübschen und bei den Mädchen beliebten Winzerssohn, angezogen und ist mehr als überrascht, als dieser sein Interesse erwidert. Thomas wird seine erste große Liebe. Doch diese Liebe muss im Verborgenen bleiben, denn Thomas verleugnet seine sexuelle Identität. Jahrzehnte später kehrt der inzwischen erfolgreiche Autor Stéphane zum ersten Mal seit seiner Jugend in sein Heimatdorf zurück. Kurz nach seiner Ankunft lernt er Lucas (Victor Belmondo) kennen und erfährt, dass der junge Mann der Sohn seiner großen Liebe Thomas ist. Eine Begegnung, die alte Wunden aufreißt.

Gerade das Buch zu Ende gelesen, schon kommt die Verfilmung in die Kinos. Was natürlich reiner Zufall ist, denn „Hör auf zu Lügen“ („Arrête avec tes mensonges“) hat Philippe Besson schon 2017 veröffentlicht. Wie das immer so ist, wenn die Zeit zwischen Lesen und Filmsehen zu kurz ist  – das Buch ist überlegen. Das hat man sich ganz anders vorgestellt – Regisseur Olivier Peyon erfindet Figuren dazu, verzichtet auf eine der drei Zeitebenen und gönnt seiner Hauptfigur mit einer leidenschaftlich vorgetragenen Rede ein unnötig versöhnliches, etwas kitschiges Ende.

Und trotzdem: HÖR AUF ZU LÜGEN lohnt sich. Das liegt vor allem an der zeitlosen, schnörkellos erzählten Geschichte und der Besetzung. Während die beiden jugendlichen Figuren in den Rückblenden eher blass bleiben, sind es besonders Guillaume de Tonquédec als älterer Stéphane Belcourt (aka Philippe Besson) und Victor Belmondo (unverkennbar der Enkel von Jean Paul), die die tragische Liebesgeschichte sehenswert machen. Buch wie Film sind ein Ersatz-Abschiedsbrief für den echten Thomas Andrieu, der sich 2016 das Leben nahm und Familie und Freunde ratlos zurückließ.

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Originaltitel „Arrête avec tes mensonges“
Frankreich 2022
98 min
Regie Olivier Peyon

alle Bilder © 24 Bilder

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THE QUIET GIRL

THE QUIET GIRL

Ab 16. November 2023 im Kino

Der schönste „Stummfilm“ aller Zeiten spricht gälisch und in kleinen Gesten.

Die typisch irisch-katholische Sippe hat so viele Kinder, dass sie sogar eines davon ausleihen kann, zumal bereits das nächste ins übervölkerte Haus steht. Und so erhält Cáit, die Außenseiterin der Familie, die Chance auf einen Sommer bei entfernten Verwandten, der ihr Leben grundlegend verändern wird.

Künftiger Klassiker des Europäischen Films

Auf der Autofahrt in die kleine Küstenstadt erlebt der Zuschauer die Reise mit den Augen der Neunjährigen – Kippen im Ascher, die Schulter des Vaters (Michael Patric), Stromleitungen am Straßenrand – und ist am Ziel ebenso baff über die ungewohnt herzliche Begrüßung ihrer Tante Eibhlín (Carrie Crowley), die sie von da an liebevoll und geduldig in die kleinen Alltäglichkeiten des neuen Zuhauses einführt. Eher wortkarg zeigt sich zunächst ihr Ehemann Seán (Andrew Bennett), mit dem das scheue Mädchen aber bald eine ganz besondere Art der Kommunikation entwickelt, in der ein Keks mehr als 1000 Worte sagt und der tägliche Lauf zum Briefkasten zum Akt der Selbstfindung wird. Doch selbst in dieser sonnigen Idylle auf Zeit gibt es Schatten der Vergangenheit.

Dass „Das stille Mädchen“ nicht zwangsläufig in ein schnödes Disney Finale gipfelt, ist nur eine seiner vielen schönen Eigenheiten. Als kulturelle Besonderheit kann gelten, dass er komplett in irischer Sprache gedreht wurde (was ausnahmsweise für die deutsche Synchronisation spricht) und war natürlich der irische Oscar-Beitrag 2023 in der Kategorie Bester Internationaler Film.

Das tiefgründige, berührende Drama basiert auf einer Kurzgeschichte von Claire Keegan, die 2010 als „Best of the Year“ im New Yorker veröffentlicht wurde. Und ist unglaublicherweise das Spielfilmdebüt sowohl von Regisseur Colm Bairéad als auch für seine überragende Kinderdarstellerin Catherine Clinch in der Titelrolle der Cáit, die mit THE QUIET GIRL heimlich, still und leise einen künftigen Klassiker des Europäischen Films erschaffen haben.

Text: Anja Besch

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Originaltitel „An Cailín Ciúin“
Irland 2022
95 min
Regie Colm Bairéad

alle Bilder © Neue Visionen

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ANATOMIE EINES FALLS

ANATOMIE EINES FALLS

Ab 02. November 2023 im Kino

Sandra Hüller Superstar. Deutschlands beste Schauspielerin überzeugt in Justine Triets Gerichtsdrama. Ist der Gewinner der Goldenen Palme von Cannes wirklich so gut?

Ja.

Spoiler gibts natürlich keine, ist schließlich ein Gerichtsdrama. Im Gegensatz zu US-Filmen und Serien mit ähnlichen Sujets geht es in ANATOMIE EINES FALLS nicht in erster Linie darum, ob die Angeklagte schuldig ist oder nicht. Regisseurin Justine Triet interessiert sich mehr für das Zwischenmenschliche, die Dynamiken in einer Familie.

Ein Highlight des Kinojahres

Schuld ist ein bestimmender Faktor in der Beziehung von Sandra (Sandra Hüller) und Samuel (Samuel Theis). Die Deutsche und der Franzose leben in einem Chalet in den Bergen. Sie ist erfolgreiche Schriftstellerin, er wäre es gerne, ist aber nach einem Unfall, bei dem sein Sohn das Augenlicht verliert, von Selbstvorwürfen zerfressen. Eines unschönen Tages liegt Samuel mit klaffender Kopfwunde tot im Schnee. Ist er gestürzt? War es Selbstmord? Hat Sandra ihn erschlagen und über das Geländer gestoßen? ANATOMIE EINES FALLS ist exakt das, was der Titel verspricht. Der Fall wird minutiös auseinandergenommen, all die Umstände, die Streits, die seelischen Verletzungen, die zuvor in der Familie geschehen sind, werden mit scharfem Skalpell seziert.

Ein bisschen Geduld sollte man mitbringen. Mit 150 Minuten Lauflänge und wenig bis keiner Action, dafür non-stop Dialogen in Französisch und Englisch ist das Drama keine leichte Kost. Davon sollte man sich nicht abschrecken lassen. ANATOMIE EINES FALLS ist ein Highlight des Kinojahres und würde – so es noch Sterne bei Framerate gäbe – locker die Höchstbewertung bekommen. Sandra Hüller ist nie schlecht, egal ob sie in einer Komödie (TONI ERDMANN, SISI UND ICH) oder einem Drama (EXIL, IN DEN GÄNGEN) mitspielt. Aber sie war vielleicht noch nie so gut wie hier. Ihre Figur Sandra spielt sie mit einer nuancierten Mischung aus sympathisch, zornig und verletzt. Das ist jeden Filmpreis wert, der in diesem Jahr vergeben wird. Das gesamte Ensemble glänzt – herausragend auch Milo Machado Graner als sehbehinderter Sohn Daniel. Immer wieder erstaunlich, wie verrückt talentiert Kinderschauspieler sein können.

Am Ende – das sei verraten – bleiben wie bei allen guten Gerichtsdramen Fragen unbeantwortet. Für jeden vermeintlichen Beweis gibt es mindestens zwei einleuchtende Erklärungen. War sie es, oder war sie es nicht? Schuld ist auch subjektiv. Der Zuschauer muss selbst entscheiden. ANATOMIE EINES FALLS – unbedingt ansehen.

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Originaltitel „Anatomie d’une chute“
Frankreich 2023
151 min
Regie Justine Triet

alle Bilder © PLAION PICTURES

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DIE UNWAHRSCHEINLICHE PILGERREISE DES HAROLD FRY

DIE UNWAHRSCHEINLICHE PILGERREISE DES HAROLD FRY

Ab 26. Oktober 2023 im Kino

Ein alter Brite macht sich auf die Reise quer durchs Land, trifft dabei auf viele freundliche Menschen und findet sich am Ende selbst.

Wem das bekannt vorkommt, der hat vielleicht im vergangenen Jahr DER ENGLÄNDER, DER IN DEN BUS STIEG UND BIS ANS ENDE DER WELT FUHR gesehen. Gleiche Geschichte, gleiches Setting, fast gleicher Film. Nur eben per pedes und nicht im Bus.

Kluge Ratschläge, Gästezimmer und Blasenpflaster

Harold Fry (Jim Broadbent) erfährt eines Tages, dass seine alte Freundin Queenie im Sterben liegt. Er schreibt ihr einen Brief, verlässt sein Haus, geht zum Postamt und hört nicht auf zu gehen. Er läuft einfach weiter, bis zu dem 450 Meilen entfernten Hospiz. Den Pensionär auf Sinnessuche spielt der ausgezeichnete Jim Broadbent, seine Gattin Maureen ist mit der aus Downton Abbey bekannten Penelope Wilton besetzt. Die Besetzung ist fabelhaft (Nick Caves Sohn Earl spielt den gepeinigten Sohn des Ehepaars) und im Gegensatz zum busfahrenden Engländer sieht DIE UNWAHRSCHEINLICHE PILGERREISE DES HAROLD FRY auch noch richtig gut aus. Kamerafrau Kate McCullough arbeitet viel mit Unschärfen und hübschem Morgenlicht.

Allerdings nervt das Gutmenschentum – auf seiner Reise durch England begegnet Harold ausschließlich warmherzigen Mitmenschen, die ihm mit klugen Ratschlägen, Gästezimmern und Blasenpflastern zur Seite stehen. Sei’s drum, Sinn und Zweck solcher Filme ist es ja, dass man mit einem positiven Gefühl aus dem Kino geht. Nur am Ende wird’s richtig peinlich: Da fällt ein göttliches Licht auf all diejenigen, die Harold zuvor auf seiner Reise getroffen, beziehungsweise „erleuchtet“ hat. Die plumpe Spiritualität ist unnötig und hinterlässt einen schalen Geschmack.

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Originaltitel „The Unlikely Pilgrimage of Harold Fry“
GB 2023
108 min
Regie Hettie Macdonald

alle Bilder © Constantin Film

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KILLERS OF THE FLOWER MOON

KILLERS OF THE FLOWER MOON

Ab 19. Oktober 2023 im Kino

Es ist offensichtlich, was den 80-jährigen Regisseur Martin Scorsese an dem Stoff gereizt hat: Ein Western in Cinemascope, eine Crimestory, eine intime Liebesgeschichte und ein großer Geschichtsfilm - KILLERS OF THE FLOWER MOON ist ein episches Drama voller Verrat und Abgründe.

Oklahoma, Anfang des 20. Jahrhunderts: Über Nacht werden die amerikanischen Ureinwohner des Osage-Stamms steinreich. Dank sprudelnder Ölquellen verfügen sie eine Zeit lang über das höchste Pro-Kopf-Vermögen der Welt. Wie so oft in der amerikanischen Geschichte zieht der Wohlstand weiße Eindringlinge an. Diebstahl, Erpressung und Mord sind unter der Führung des ebenso charmanten wie gerissenen William „King“ Hale (Robert De Niro) bald an der Tagesordnung. Verpackt in die ungewöhnliche Romanze zwischen Hales Neffen Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio) und der Indigenen Mollie Kyle (Lily Gladstone) erzählt der Film die wahre und schreiend ungerechte Geschichte der „Osage-Morde“.

Ein spätes Meisterwerk

Das Dreamteam funktioniert auch bei seiner zehnten Zusammenarbeit immer noch hervorragend. Scorsese und sein Lieblingsschauspieler Robert De Niro kitzeln gegenseitig das Beste aus sich heraus. Als manipulativer Strippenzieher und Auftraggeber einer ganzen Serie von Morden ist De Niro das dunkle Zentrum des Films. Ganz hervorragend auch Lily Gladstone, die mit ihrer zurückgenommenen Art einen sanften Ruhepol in der blutigen Männerwelt bildet. Leonardo DiCaprio (Scorseses zweitliebster Schauspieler – dies ist ihre sechste Kollaboration) macht selbstredend auch als leicht unterbelichteter Handlanger eine gute Figur. Weshalb er diese Rolle allerdings mit einer Mischung aus Robert-de-Niro-Persiflage (permanent nach unten gezogener Mund plus in Falten gelegte Stirn) und Marlon Brandos DER PATE inklusive ausgestopfter Backentaschen spielt, bleibt sein Geheimnis.

Wie Scorsese seine Darsteller führt (in Nebenrollen sind unter anderem Jesse Plemons und der frisch oscargekrönte Brendan Fraser zu sehen), elegant Rückblenden in die verschachtelte Handlung einbaut, Dinge weglässt und manches erst im Nachgang aufschlüsselt, das ist bravourös. Ein 80-jähriger Künstler, immer noch auf der Höhe seines Schaffens. KILLERS OF THE FLOWER MOON ist trotz seiner unfassbaren 206 Minuten Laufzeit keinen Moment zu lang. Ein spätes Meisterwerk, das zudem ein grandioses und überraschend amüsantes Ende bereit hält. Allein wegen der letzten 10 Minuten lohnt es sich.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Killers of the Flower Moon“
USA 2023
206 min
Regie Martin Scorsese

alle Bilder © Paramount Pictures Germany

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DIE MITTAGSFRAU

DIE MITTAGSFRAU

Ab 28. September 2023 im Kino

In ihrem preisgekrönten Roman „Die Mittagsfrau“ von 2007 erfindet Julia Frank eine Version der Lebensgeschichte ihrer Großmutter. Die österreichische Regisseurin Barbara Albert hat den Bestseller nun mit Mala Emde in der Hauptrolle verfilmt.

Helene – so der Name der semifiktiven Großmutter – wächst in Bautzen in bedrückenden Verhältnissen auf. Ihre Mutter ist psychisch krank, lebt in einer Wahnwelt. Um all dem Leid zu entgehen, brechen die junge Helene und ihre ältere Schwester Martha ins wilde Berlin der 20er-Jahre auf, wo sie bei ihrer mondänen Tante Fanny unterkommen. Viele Partys, Charleston-Tänze und Schicksalsschläge später ist Helene alleinerziehende Mutter. Weil das Leben kurz und das Kind nervig ist, bringt sie es an einen Bahnhof und lässt es dort zurück. Endlich frei, kaltes Herz. Ende.

Die Dialoge gestelzt, die Bildsprache gewöhnungsbedürftig

Die guten Schauspieler (u.a. Mala Emde, Max von der Groeben, Thomas Prenn) können nichts dafür, dass das Drehbuch voller gestelzter Dialoge, die Ausstattung unpassend modern und die Bildsprache gewöhnungsbedürftig ist. Es reicht eben nicht, ein paar Möbel (die teilweise aussehen, als hätte IKEA die Ausstattung besorgt) ins Set zu stellen und den Darstellern 20er-Jahre-Kleidung anzuziehen. Aber nicht nur Äußerlichkeiten sind unstimmig, auch Emotionen werden plump auf die Leinwand gebracht. Helenes Mutter beispielsweise muss ihren Wahnsinn mit Schreien, irrem Lachen und wirren Haaren darstellen. Edgw.

DIE MITTAGSFRAU macht den unguten Eindruck eines nicht allzu üppig budgetierten Kunsthochschulprojekts. Immer wenn es besonders gefühlig wird, schaltet die Kamera auf farbübersättigt und grobkörnig, das soll dann wohl stimmungsvoll sein. Die Geschichte von der Frau, die mit ihrer Rolle als Mutter ringt, ist interessant, wird aber in fast 2,5 Stunden lebensbedrohlich in die Länge gezogen. Über weite Strecken entsteht so eine Langeweile, die bei der Pressevorführung mit seligem Schnarchen und teils fluchtartigem Verlassen des Kinosaals honoriert wurde.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Schweiz / Luxemburg 2023
136 min
Regie Barbara Albert

alle Bilder © Wild Bunch Germany

BURNING DAYS

BURNING DAYS

Ab 28. September 2023 im Kino

BURNING DAYS von Emin Alper ist eine aufregende Mischung aus modernem Western und Polit-Thriller.

Es beginnt mit einer Wildschweinjagd. Hier in der anatolischen  Provinz sind Männer noch echte Kerle, das verängstigte Borstenvieh wird unter dem großen Jubel der Einheimischen brutal abgeschossen. In diesem mit toxischer Männlichkeit aufgeladenen Ort beginnt der junge Staatsanwalt Emre (Selahattin Pasali) seinen neuen Job. Und den nimmt er sehr ernst. Kaum angekommen, gerät er mit den örtlichen Honoratioren aneinander, die fest entschlossen sind, ihre Privilegien mit allen Mitteln zu verteidigen. Schnell merkt Emre, dass er in einem Sumpf aus Korruption und Manipulation gelandet ist.

Ein Blick in das Herz der türkischen Gesellschaft

Unausgesprochene Drohungen, Gespräche voller Doppeldeutigkeit und Andeutungen machen BURNING DAYS zu einem starken Dialogfilm. In einer schicksalshaften Nacht, in der sich Emre mit seinen zukünftigen Feinden betrinkt und unter Drogen gesetzt wird, wird eine junge Frau vergewaltigt. Hat er, oder hat er nicht? Seine Erinnerungslücken machen Emre erpressbar.

Mutiger Einzelkämpfer gegen mafiöse Strukturen – das Thema ist für einen Politthriller nicht neu, aber der türkische Kontext und die Offenheit, mit der Regisseur Alper damit umgeht, überraschen. Umweltzerstörung, Korruption, Homophobie, Vergewaltigung – trotz, oder vielleicht wegen all der düsteren Themen entwickelt BURNING DAYS die Qualität eines bedrohlichen Fiebertraums. Ein ungewohnter Blick in das Herz der türkischen Gesellschaft und den ewigen Konflikt zwischen Tradition und Moderne.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Burning Days“
Türkei 2022
129 min
Regie Emin Alper

alle Bilder © CINEMIEN

THE CREATOR

THE CREATOR

Ab 28. September 2023 im Kino

Wird Gareth Edwards demnächst wegen Diebstahls geistigen Eigentums vor Gericht gestellt? THE CREATOR ist ein einziger Ideen-Quilt aus schon gesehenen Film-Flicken.

TERMINATOR 2 – ALIENS – STAR WARS – AVATAR – EX MACHINA – CHAPPIE – BLADE RUNNER – WALL•E – ELYSIUM – THE MANDALORIAN – A.I. – WESTWORLD

Ein lustiges Trinkspiel: Für jede Idee, die Gareth Edwards von einem anderen Film geklaut hat, muss man einen Schnaps trinken. Am Ende von THE CREATOR wäre man sternhagelvoll.

Wenigstens drückt der Regisseur visuell dem Best-of-Science-Fiction seinen Stempel auf. Fans des seit GODZILLA und ROGUE ONE: A STAR WARS STORY kultivierten „düster-realistisch meets Apple-in-200-Jahren“-Looks kommen auf ihre Kosten. Und es gibt ein paar wirklich gute Szenen, wie die, in der ein Toter kurzfristig ins Leben zurückgeholt wird, um ihm noch ein paar Informationen abzupressen, bevor seine Synapsen endgültig erloschen sind. Aber sonst? Die Story vom Ex-Soldaten, der gegen eine durchgedrehte (oder vielleicht doch nicht durchgedrehte?) KI kämpft und sich dabei um ein kleines Roboter-Mädchen kümmern muss, fängt fulminant an. Aber nach dem ersten Kapitel geht es stetig bergab.

Die Geschichte lässt kalt

Das sieht zwar cool aus – aber wie oft soll man sich als Zuschauer für Bombenexplosionen und riesige Laserscanner begeistern? Auf Dauer ermüdet selbst Nietzsche die Wiederholung des immer Gleichen. Nicht jeder kann alles können. Edwards ist meisterhaft im Schaffen von realistisch wirkenden Zukunftswelten. Doch Emotionen sind nicht so sein Ding. Da können sich die Schauspieler noch so sehr bemühen, die Tränen in Strömen fließen und die Hans-Zimmer-Streicher im Soundtrack alles geben – die Geschichte lässt kalt. Je länger der Film dauert, desto mainstreamiger und uninteressanter wird er. Das letzte Drittel könnte glatt von Michael Bay inszeniert sein, und das ist nicht als Kompliment gemeint. Am Ende steht die Erkenntnis: Roboter sind die besseren Menschen. Halleluja.

Neues Feindbild: First reactions von Influencern. Da wird THE CREATOR als „ein Meisterwerk“ und als „neuer Klassiker“ gelobt, als der „beste Science-Fiction-Film in diesem Jahr“. Besser nicht hinhören. THE CREATOR ist ein gut aussehender, aber überlanger und schamlos zusammengeklauter Science-Fiction-Film, der kaum Eindruck hinterlässt.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Creator“
USA 2023
133 min
Regie Gareth Edwards

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

WOCHENENDREBELLEN

WOCHENENDREBELLEN

Ab 28. September 2023 im Kino

Auf großer Stadiontour durch Deutschland: Mirco klappert mit seinem Sohn Jason die Bundesliga ab, um einen Lieblingsverein für den autistischen Junior zu finden.

Jasons Regeln sind streng: Nudeln dürfen sich auf dem Teller nicht mit der Tomatensoße berühren. Ihn selbst darf sowieso niemand anfassen. Das eigenwillige Verhalten kommt nicht von ungefähr: Jason ist Autist. Nun sucht der 10-Jährige einen Lieblingsfußballverein. Und seine Ansprüche sind hoch: Energetisch nachhaltig, keine Nazis unter den Fans, die Spieler müssen einheitlich farbige Schuhe tragen, das Maskottchen darf nicht peinlich sein und vieles mehr. Gemeinsam mit seinem Vater nimmt Jason in einem Langzeitprojekt die erste, zweite und dritte Liga unter die Lupe – 56 Mannschaften insgesamt.

Basiert auf einer wahren Geschichte

Florian David Fitz spielt in WOCHENENDREBELLEN einen Fastfood-Handlungsreisenden, der lernen muss, mit der psychischen Krankheit seines Sohns umzugehen. Was soll man da kritisieren? Cecilio Andresen meistert seine Rolle bravourös, denn die Figur des Jason ist alles andere als liebenswert. Der Film versucht zum Glück nicht, die Krankheit weichzuspülen und aus dem Autisten einen niedlichen Jungen mit leichter Behinderung zu machen. Nein, Jason nervt auf SYSTEMSPRENGER-Niveau. Schade nur, dass Regisseur Marc Rothemund die außergewöhnliche Story wie eine typisch deutsche TV-Produktion inszeniert. Da gibt es wenig große Bilder oder visuelle Einfälle, Emotionen werden mit gefälligen Pophits zugekleistert. 

WOCHENENDREBELLEN basiert auf einer wahren Geschichte. Mirco und Jason von Juterczenka reisen bis heute regelmäßig zu Bundesligaspielen. Wie so oft berühren dann die zum Abspann gezeigten Realaufnahmen mehr als der ganze Film davor. Die gute Absicht zählt, doch fragt sich, ob das Plädoyer für Verständnis und Integration mit einem künstlerisch mutigeren Film nicht stärker gewesen wäre.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
95 min
Regie Marc Rothemund

alle Bilder © Leonine

ROSE – EINE UNVERGESSLICHE REISE NACH PARIS

ROSE – EINE UNVERGESSLICHE REISE NACH PARIS

Ab 28. September 2023 im Kino

Goodbye England’s Rose - Was eine schizophrene Dänin mit der verstorbenen Lady Di zu tun hat, verrät die herzerwärmende Dramödie ROSE.

„Wollen Sie mich ficken?“

„Ich würde Sie gerne erwürgen“

Inger (Sofie Gråbøl) trägt ihr Herz auf der Zunge. Sie kann nichts dafür, Inger ist schizophren. Nach Jahren in einer psychiatrischen Einrichtung geht die verschrobene Mittvierzigerin zusammen mit ihrer Schwester Ellen (Lene Maria Christensen) und deren Mann Vagn (Anders W. Berthelsen) auf eine sentimental journey nach Frankreich. Denn es gab mal ein Leben vor der Krankheit, da lebte Inger in Paris, war verliebt und glücklich. Doch der verheiratete Mann, mit dem sie eine Affäre hatte, brach nicht nur mit ihr, sondern ihr Herz gleich mit. Kurz darauf übernahmen die Stimmen in Ingers Kopf das Kommando.

Mit perfektem Timing inszenierte Dramödie

Eine Busreise mit einer geistig verwirrten Frau – gar nicht so einfach. Vor allem wenn sich unter den Mitreisenden ein echter Stinkstiefel befindet (überzeugt als verklemmter Spießer: Søren Malling). Aber die Mühe lohnt sich – denn der Roadtrip ist nicht nur eine Fahrt von A nach B, sondern auch eine Reise ins Innere, mit Auswirkungen auf das gesamte Familiengefüge.

ROSE – EINE UNVERGESSLICHE REISE NACH PARIS ist ein zärtlicher Blick auf das Leben einer Frau jenseits der Norm. Der deutsche Verleihtitel klingt zwar nach Lore-Roman, doch Niels Arden Oplevs Dramödie ist mit perfektem Timing inszeniert, beinah kitschfrei und oft überraschend komisch. Der Regisseur und Autor erzählt eine Geschichte aus seiner eigenen Familie, ROSE basiert auf dem Leben seiner Schwester. Dabei weiß er genau, wann es zu viel wird, wälzt keine Szene unnötig aus oder drückt künstlich auf die Tränendrüse. Dass der Film zudem gut aussieht (Kamera: Rasmus Videbæk) und einen wunderbar emotionalen Soundtrack (Henrik Skram) hat, macht ihn zu einem kleinen Juwel. Die Schauspieler sind sowieso toll, besonders Sofie Gråbøl, die die verwirrte Inger oscarwürdig überzeugend spielt.

Weil gerade Skandinavische Woche bei Framerate ist, gibt es morgen die Kritik zu einem weiteren Film aus dem Land mit der putzigen Sprache: SPEAK NO EVIL – ein düsterer, sehr empfehlenswerter Horrorfilm, ebenfalls aus Dänemark.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Rose“
Dänemark 2022
106 min
Regie Niels Arden Oplev 

alle Bilder © mindjazz pictures

DALILAND

DALILAND

Ab 07. September 2023 im Kino

Savador Dali - Meister des Surrealismus, Allround-Künstler, Enfant Terrible. Mary Harron widmet dem Mann mit dem gezwirbelten Schnurrbart ein konventionell gemachtes, aber höchst unterhaltsames Porträt.

Blonde Mädchen nennt er „Ginesta“, hübsche Jungs in Anlehnung an Caravaggios Gemälde „San Sebastian“. Und von jungen, schönen Menschen gibt es in Dalis Leben Mitte der 1970er-Jahre reichlich. Den Alltag versüßt er sich mit rauschenden Partys, flotten Dreiern (als Zuschauer), Champagner und Kaviar – das Malen ist eher lästige Pflicht. Seine resolute Ehefrau Gala sorgt dafür, dass der Rubel rollt. Zur Not auch mit Geschrei und nicht ganz koscheren Geschäftsmethoden. In dieses kreative Chaos gerät eines Tages der junge, unschuldige James, der sich bald als Dalis Assistent unentbehrlich macht.

Sodom und Gommora light

Giraffen brennen lichterloh, Uhren zerfließen wie Camembert in der Sonne und die Abdrücke von nackten Frauenhintern werden zu Engelsflügeln. An schrägen Bildideen mangelt es den Werken des 1989 verstorbenen Künstlers nicht. Umso erstaunlicher, dass seine weltberühmten (und unter Kunstkennern teils berüchtigten) Gemälde in Harrons Film so gut wie keine Rolle spielen. Die AMERICAN PSYCHO-Regisseurin konzentriert sich viel mehr auf Dalis komplizierte Ehe mit Gala und deren Liebeleien und Gaunereien.

DALILAND ist keine Großproduktion und das sieht man ihm an. Establishing Shots bestehen aus altem Filmmaterial (Recycling ist ein zulässiger Kunstgriff, gleichzeitig enorm kostensparend), die wilden Partys und Vernissagen wirken mit ihrer überschaubaren Anzahl von Statisten nie so groß und rauschend, wie sie es wohl in Wirklichkeit waren. Das mag auch den zur Drehzeit bestehenden COVID-Bestimmungen geschuldet sein.

James, von Newcomer Christopher Briney mit staunendem Welpenblick gespielt, gerät so als Vertreter des Zuschauers in ein Sodom und Gommora light. Dass DALILAND trotzdem ausgesprochen kurzweilig und voller Witz ist, verdankt er Ben Kingsley als Dali und Barbara Sukowa als dessen russische Ehefrau Gala. Die beiden alten Filmhasen spielen das unkonventionelle Paar schön exzentrisch und voller Ironie. Eine Topbesetzung in einem Film, der seinem einzigartigen Sujet nicht ganz gerecht wird.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Daliland“
USA / GB 2022
96 min
Regie Mary Harron

alle Bilder © SquareOne Entertainment

ELEFANT

ELEFANT

Ab 24. August 2023 im Kino

Talent borrows, genius steals. Der auf Framerate oft zitierte Spruch passt wie die Faust aufs Auge zum polnischen Liebesfilm ELEFANT.

Ja, es ist wirklich unoriginell: In einer Kritik den gleichen Spruch zu verwenden wie schon (gefühlt) zwanzigmal zuvor. Aber es stimmt: ELEFANT klaut schamlos bei BROKEBACK MOUNTAIN, STADT LAND FLUSS und vor allem GOD’S OWN COUNTRY…und noch ein paar anderen „zwei schwule Männer in grandioser Naturkulisse“-Filmen. Es würde sich langsam eine Persiflage auf das immer gleiche Setting anbieten: Zwei Jungs, der eine zart, der andere kernig, verlieben sich against all odds and all Dorfbewohner. Das fade Landleben wird nach dem Besuch einer crazy Homo-Disco in der nächstgelegenen Großstadt infrage gestellt. So frei, so wild. Einerseits. Andererseits ist das Leben in der Natur mit Tieren (meist Pferde oder Kühe) auch schön. Am Ende bricht einer der beiden Jungs in die weite Welt auf, während der andere traurig zurückbleibt – oder seinem Liebsten folgt. The End.

Solche Filme kann es gar nicht genug geben

Der polnische Filmemacher Kamil Krawczycki hat in seiner Interpretation der immer gleichen Geschichte trotzdem vieles richtig gemacht. Vor allem mit der Wahl seiner Darsteller. Jan Hrynkiewicz und Pawel Tomaszewski bringen als Bartek und Dawid neben der erforderlichen cuteness auch eine charmante Zurückhaltung in ihre Rollen ein. Das ist nie übertrieben oder wirkt unglaubwürdig. Um die beiden glücklich Verliebten scharen sich ignorante Alte und homophobe Jugendliche ebenso wie extrem Verständnisvolle, die es sowieso schon immer gewusst haben. „Ich würde dich auch akzeptieren, wenn Du ein Elefant wärst!“, sagt die reizende Nachbarin, bevor sie Bartek einen kleinen Porzellanelefanten schenkt. Törööö, wie schön!

Im Ernst: Solcher Art Filme kann es gar nicht genug geben, besonders wenn sie aus rechts-konservativ regierten Ländern wie Polen kommen. Solange Homosexualität in Malaysia mit zwanzig Jahren Knast oder in Uganda sogar mit dem Tod bestraft werden, ist es noch ein weiter Weg zur toleranten Gesellschaft. ELEFANT ist zwar nicht der große Wurf, aber ein hübscher und vor allem stimmungsvoller Film mit Herz, positiver Botschaft und zum Glück Happy End.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Elefant“
Polen 2022
93 min
Regie Kamil Krawczycki

alle Bilder © Salzgeber

THE INSPECTION

THE INSPECTION

Ab 24. August 2023 im Kino

In Elegance Brattons autobiografischem Film trifft MOONLIGHT auf FULL METAL JACKET. Ein Militärdrama mit gay-twist.

Der schwule Afroamerikaner Ellis French (Jeremy Pope) wird mit 16 von seiner homophoben Mutter (Gabrielle Union) verstoßen, neun Jahre später lebt er noch immer auf der Straße. Seine letzte Chance sieht er ausgerechnet in der Verpflichtung bei den US-Marines. Er hofft, sich und seiner streng-religiösen Mutter zu beweisen, dass er mehr „als eine obdachlose Schwuchtel“ ist. Das mehrwöchige Bootcamp und ein besonders sadistischer Ausbilder drohen den jungen Ellis zu brechen.

Jeremy Pope liefert eine oscarwürdige Leistung ab

Der Film von Drehbuchautor und Regisseur Elegance Bratton ist eine halb-autobiografische Erzählung über seine Zeit bei den Marines im Jahr 2005. Frei nach der DADT-Regel („Don’t ask, don’t tell“) wurden Anfang des Jahrtausends beim amerikanischen Militär Homosexuelle geduldet, solange sie nicht darüber reden. Ellis’ Problem ist, dass man ihm sofort anmerkt, was Sache ist. Nach einer unglückseligen Versteifung im Duschraum wird er nicht nur von Vorgesetzten, sondern auch von seinen Kameraden schikaniert.

THE INSPECTION fühlt sich stellenweise ein bisschen klischeehaft an, vor allem der Ausbilder (Bokeem Woodbine) wirkt wie eine Persiflage auf den legendären Sergeant Hartman aus FULL METAL JACKET. Dieses kleine Manko machen aber die Schauspieler mehr als wett: Klares Highlight ist Jeremy Pope, der in der Rolle des queeren Soldaten eine oscarwürdige Leistung abliefert und auch Gabrielle Union ist als seine kalte, distanzierte Mutter ausgezeichnet.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Inspection“
USA 2022
100 min
Regie Elegance Bratton

alle Bilder © X-Verleih

KANDAHAR

KANDAHAR

Ab 17. August 2023 im Kino

Zurück in die 90er-Jahre mit Gerard Butler. KANDAHAR ist ein Kriegsfilm von vorgestern.

Tom Harris (Gerard Butler) arbeitet als verdeckter CIA-Agent für hoch komplizierte Spezialeinsätze. Nachdem er im Iran eine unterirdische Atomanlage in den Boden sprengt und kurz darauf enttarnt wird, setzt er sich nach Afghanistan ab. Dort sind ihm nicht nur die Taliban, sondern die halbe iranische Armee und ein garstiger Killerspion auf den Fersen.

Nicht besonders mitreißend

Krieg wie gehabt: Hier die Generäle, die aus dem Hintergrund Befehle geben. Dort die Soldaten, die sich vor Ort die Hände schmutzig machen. Frauen haben in dieser Steinzeitwelt nichts verloren und tauchen höchstens am Telefon oder in Nebenrollen auf. Seit Winnetou hat sich nur die Wahl der Waffen geändert. Während sich früher Cowboys und Indianer mit Flinte und Pfeil und Bogen bekämpften, wird heute mit Maschinengewehr und Drohne gekillt.

KANDAHAR könnte locker 20 bis 30 Jahre alt sein. In den 90er und Nuller-Jahren standen für solche Filme Robert Redford oder (für die intellektuelleren Zuschauer) George Clooney vor der Kamera. Heute macht das Gerard Butler. Und der macht das, was er meistens macht: Den stoischen Haudrauf geben. KANDAHAR ist einer dieser Filme, die wahrscheinlich sehr kurz im Kino laufen und dann schnell bei einem Streaminganbieter landen. Das ist auch gut so, denn als Kriegsfilm ist er nicht besonders mitreißend und als Actionspektakel fehlt es ihm an Schauwert. Das Ganze ist vorhersehbar, nicht besonders glaubwürdig inszeniert und nur mäßig spannend. Kann man sich mal zu Hause anschauen, muss man nicht im Kino sehen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Kandahar“
USA 2023
119 min
Regie Ric Roman Waugh

alle Bilder © Leonine

FOREVER YOUNG

FOREVER YOUNG

Ab 17. August 2023 im Kino

Der Film hat nichts mit dem gleichnamigen Alphaville-Gassenhauer zu tun, sondern heißt im Original LES AMANDIERS - was so viel wie „Die Mandelbäume“ bedeutet und im Zusammenhang mit einer Schauspielschule vielleicht noch verwirrender als der deutsch/englische Titel ist.

Schauspieler sind wie Radios: Immer auf Senden, nie auf Empfang. Besonders angehende Jungschauspieler lösen mit ihrer exaltierten Art und dem Glauben, sie seien das Zentrum des Universums oft Fremdscham aus. Jeder Blick, jede Geste scheint wichtig und will gesehen werden. Valeria Bruni Tedeschi hat mit FOREVER YOUNG einen Film über diese besondere Spezies Mensch gemacht, in dem sie ihre eigene Ausbildungszeit erinnert.

Schauspieler sind durchgedreht, drogensüchtig und sexbesessen

Ende der 80er-Jahre werden zwölf junge Erwachsene (unter ihnen das Alter-Ego der Regisseurin) in die Theaterschule „Ecole du Théâtre des Amandiers“ aufgenommen. Unter der Leitung von Patrice Chéreau planen sie die Aufführung des Stücks „Platanow“ von Anton Tschechow. Den Besten des Jahrgangs verspricht der Regisseur sogar eine Rolle in der Verfilmung des Stoffes.

Valeria Bruni Tedeschi stellt mit Stella (ausgezeichnet: Nadia Tereszkiewicz) eine jugendliche Version ihrer selbst in den Mittelpunkt dieser nicht ganz klischeefreien Reise in die Vergangenheit. An so einer Theaterschule geht es dem Film nach genauso zu, wie sich das Lieschen Müller vorstellt: Alle sind durchgedrehte Künstler (inklusive der Lehrer), drogensüchtig und sexbesessen.

Zum Glück besteht ein Großteil der Szenen aus Vorsprechen und Probearbeiten. Das ist um einiges interessanter, als den privaten Irrungen der Mitte Zwanzigjährigen zuzuschauen. Trotz ein paar Längen: FOREVER YOUNG ist sehenswert. Denn die Regisseurin hat ihr auf hübschem Retro-16mm gedrehes Drama mitreißend und voller Elan inszeniert. Und wer die Verfilmung von Tschechows „Platanow“ (Titel: HOTEL DE FRANCE) des echten Patrice Chéreaus gesehen hat, kann raten, welchen der damals beteiligten Schauspieler Bruni Tedeschi hier wieder auferstehen lässt.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Les Amandiers“
Frankreich 2022
126 min
Regie Valeria Bruni Tedeschi

alle Bilder © Neue Visionen

PAST LIVES

PAST LIVES

Ab 17. August 2023 im Kino

Was wäre, wenn? Simple Entscheidungen können das Leben in dramatisch andere Richtungen wenden. Celine Songs zarte Liebesgeschichte über verpasste Chancen war der Publikumsliebling bei der Berlinale 2023.

Das kennt man aus der eigenen Kindheit: Eltern ziehen um, und schwups verschwindet der beste Freund oder die beste Freundin aus dem Leben. So geht es auch Hae Sung und Nora, als deren Familie aus Südkorea in die USA emigriert. 20 Jahre später treffen sich die Kindheitsfreunde in New York wieder, wo Nora inzwischen mit ihrem amerikanischen Mann lebt.

Das Festival-Publikum liebt PAST LIVES

Mit PAST LIVES – IN EINEM ANDEREN LEBEN gibt Celine Song ihr Kinodebüt als Regisseurin und Drehbuchautorin und geht den schicksalhaften „Was wäre, wenn…“-Fragen des Lebens klug und berührend auf den Grund. In den Hauptrollen spielen die wunderbare Greta Lee, Teo Yoo und John Magaro.

Das Festival-Publikum liebt PAST LIVES – in Berlin wie in Sundance. Und tatsächlich, beim Thema verpasste Chancen kann sich wohl jeder wiederfinden … wäre der Jugendfreund vielleicht doch der bessere Ehepartner gewesen? Aber niemand ist umsonst da, wo er ist und hat den Menschen geheiratet, den er geheiratet hat – so das Fazit des Films. Am Ende der berührenden Lebens- und Liebesgeschichte fließen die Tränen. Sowohl auf der Leinwand – als auch im Publikum.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Past Lives“
USA 2022
106 min
Regie Celine Song

alle Bilder © STUDIOCANAL

BLACK BOX

BLACK BOX

Ab 10. August 2023 im Kino

ChatGTP, schreibe ein Drehbuch mit folgenden Themen: Gentrifizierung, Immobilienhaie, Alt-68er, Profitgier, Geldsorgen, Muslime, Asylanten, Corona-Pandemie, Mord, politischer Aktivismus, Tollwut, Sex, Polizeigewalt - brrr - zzzzp - spratzel - fertig ist das Drehbuch zu BLACK BOX.

Es beginnt symbolisch: Ein moderner Glas-Stahlcontainer senkt sich wie ein UFO an maroder Fassade vorbei in einen Berliner Hinterhof. Der Anfang vom Ende der Gemütlichkeit. Das Pop-up-Office soll Kaufinteressenten anlocken, die alteingesessenen Mieter sind entsetzt. Als am nächsten Morgen die Hofzugänge von der Polizei abgeriegelt werden, mehrfach der Strom ausfällt und sich die Gerüchte vom bevorstehenden Verkauf der Wohnungen verselbstständigen, kippt die Stimmung Richtung Ausnahmezustand.

Druck auf dem Kessel

Regisseurin und Drehbuchautorin Aslı Özge hat Druck auf dem Kessel. Die ganze Wut muss raus, am besten in einem Film. In BLACK BOX versteckt sich unter ungefähr zweihundert angerissenen Themen eine interessante Metapher auf unsere Gesellschaft: Der Mikrokosmos Hinterhof, stellvertretend für die Spaltung eines ganzen Landes. Hochkarätig besetzt, ausgezeichnet gespielt (unter anderem Luise Heyer, Felix Kramer, Christian Berkel, Jonathan Berlin, Anne Ratte-Polle) und souverän inszeniert.

Der ätzende Kampf zwischen Mietern und Vermietern hätte als Bild für das zerfallende Gemeinschaftsgefühl und das Auseinanderdriften demokratischer Strukturen gereicht. Aber es ist von allem viel zu viel. Schere im Kopf, mal anders: Wenn es der innere Editor schafft, all die thematischen Nebenschauplätze auszublenden, dann funktioniert BLACK BOX als ein interessantes Psychodrama aus Deutschland.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
120 min
Regie Aslı Özge

alle Bilder © Port au Prince Pictures

ZOE & STURM

ZOE & STURM

Ab 10. August 2023 im Kino

Gefühlvoll, aber nicht kitschig. Rührend, aber nicht rührselig. Ein Pferdefilm, der nicht nur Reiter und kleine Mädchen zum Weinen bringt.

„Das Leben ist kein Ponyhof“ – wer so was sagt, beweist eher wenig Pferdeverstand, schließlich gehört neben viel Liebe auch eine Menge Drecksarbeit dazu, wenn sich Mensch und Gaul gegenseitig auf Trab halten. In ein Gestüt in der Normandie führt der französische Pferdefilm TEMPÊTE – zu Deutsch ZOE & STURM.

Atemberaubende Tier- und Landschaftsbilder

Er beginnt mit einer Doppelgeburt: die Stute Sturm und das Mädchen Zoe, Tochter der Pferdehofbesitzer, erblicken in derselben Nacht Seite an Seite das Licht der Welt. Die Quasi-Zwillinge kommen zwar aus gutem Stall, doch gehört dieser irgendwann einem amerikanischen Investor samt Ehefrau (mutmaßlich aus Gründen der US-Vermarktbarkeit gespielt von Danny Huston und Ex-Bondgirl Carole Bouquet). Damit nicht genug, bringt ein Unwetter die begeisterte Reiterin Zoe eines Nachts auch noch in den Rollstuhl. Wie sich der querschnittsgelähmte Teenager mithilfe seiner Eltern (Melanie Laurent und Pio Marmaï) ins Leben und sogar in den Sattel zurückkämpft, wird in atemberaubenden Tier- und Landschaftsbildern, realistischen Dialogen, einer in allen Altersstufen bestens besetzten Zoe (u. a. von Carmen Kassovitz, Tochter von Améliestar Mathieu Kassovitz) und einem unerwartet listigen Finale erzählt.

Zoe & Sturm ist eine Adaption des Erfolgsromans „Tempête dans un haras“ von Christophe Donner unter der Regie von Christian Duguay. Ein bewegendes und fesselndes Familiendrama – empfehlenswert für Zwei- und Vierbeiner jeglicher Schulterhöhe.

Text: Anja Besch

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Tempête“
Frankreich 2023
111 min
Regie Christian Duguay

alle Bilder © DCM

IM HERZEN JUNG

IM HERZEN JUNG

Ab 03. August 2023 im Kino

Mehr MILF geht nicht: die Liebesgeschichte zwischen einer 70-Jährigen und einem Mittvierziger.

In Würde altern. Gar nicht so einfach, vor allem im Showgeschäft. Was zu viel Wasser, Schlaf und Sex (aka Filler, Facelift und Botox) mit einem Gesicht anrichten können, hat zuletzt Lionel Richie bei King Charles’ Krönungszeremonie gezeigt. Es hat eben nicht jeder so gute Gene wie Fanny Ardant. Denn die sieht immer noch fabelhaft aus und steht zu ihren Fältchen. Kein Wunder, dass sich der Arzt Pierre (Melvil Poupaud) gleich bei seiner ersten Begegnung in die pensionierte Architektin Shauna schockverliebt.

Bis in die Nebenrollen außergewöhnlich gut besetzt

Beim Wiedersehen nach 15 Jahren ist es endgültig um die beiden geschehen. Obwohl die Umstände eher dagegensprechen: Pierre führt ein glückliches Familienleben und liebt seine kluge Frau (Cécile de France), Shauna ist mit ihrem Dasein zufrieden, mit Beziehungsdramen hat sie längst abgeschlossen. Und dann wäre da noch der kleine Altersunterschied von 25 Jahren. Heutzutage ist das jenseits der 40 gesellschaftlich akzeptabel, aber meist nur in die eine Richtung. Ältere Frau mit jüngerem Mann hat immer noch Seltenheitswert.

IM HERZEN JUNG basiert auf einem Drehbuch von Solveig Anspach, ihr letztes vor ihrem frühen Tod, das vom Leben ihrer eigenen Mutter inspiriert wurde. Mit Feingefühl und Menschenkenntnis hat Regisseurin Carine Tardieu diese Geschichte einer besonderen Liebe sechs Jahre nach dem Tod der Autorin verfilmt. Das Melodram ist bis in die Nebenrollen außergewöhnlich gut besetzt. Neben Fanny Ardant und Melvil Poupaud sind es vor allem Cécil de France, Florence Loiret-Caille und Sharif Andoura, die IM HERZEN JUNG sehenswert machen. Ein leiser, schöner Film, der alle Klischees elegant umschifft.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Les jeunes amants“
Frankreich / Belgien 2021
112 min
Regie Carine Tardieu

alle Bilder © Alamode Film

L’IMMENSITÀ – MEINE FANTASTISCHE MUTTER

L’IMMENSITÀ – MEINE FANTASTISCHE MUTTER

Ab 27. Juli 2023 im Kino

Ja, Penélope Cruz könnte auch das viel zitierte Telefonbuch vorlesen - es wäre trotzdem unmöglich, die Augen von ihr zu nehmen. In L’IMMENSITÀ spielt sie eine liebende Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs. Kombiniert mit aufregendem 70er-Jahre Style wird es dabei fast so gut wie bei Almodóvar.

Rom in den 1970er-Jahren: Im Mittelpunkt des Films steht eine ganz normale Familie. Clara und Felice sind in eine neue Wohnung gezogen, doch ihre Ehe wird nur noch von den drei Kindern zusammengehalten. Er hat Affären, sie ist unglücklich, aber sie kommen (noch) nicht voneinander los. Die zwölfjährige Tochter Adriana ringt mit ihrer Identität. Sie ist als Mädchen geboren, will aber lieber ein Junge sein. Andere Zeiten, moderne Probleme: Das fragile Familiengebilde droht an Adrianas Genderfindung zu zerbrechen.

Nicht alles hat ein Happy End

L’IMMENSITÀ – MEINE FANTASTISCHE MUTTER ist großes Erinnerungskino. Und das nicht nur, weil Regisseur Emanuele Crialese seine eigene Biografie verarbeitet. Wer selbst in den 1970er-Jahren aufgewachsen ist, fühlt sich immer wieder an die eigene Kindheit erinnert. Das Entdecken neuer, verbotener Orte, das gemeinsame Spielen, die heißen Sommertage, die streitenden Eltern, die sich oft um sich selbst und nicht um die Kinder drehen. Regisseur Crialese hat neben der wie immer tollen Penélope Cruz eine aufregende Neuentdeckung vor die Kamera geholt: Luana Giuliani spielt die geschlechtsverwirrte Tochter so glaubwürdig und intensiv – man mag kaum glauben, dass das Mädchen hier sein Leinwanddebüt gibt.

Selten war Traurigkeit so farbenfroh und poppig bunt. Die Musik von Raffaella Carrà, Patty Pravo und Adriano Celentano tut ihr Übriges. Trotzdem ist L’IMMENSITÀ – MEINE FANTASTISCHE MUTTER niemals kitschig oder melodramatisch. Vielleicht sogar ein bisschen zu ernst. Die episodenhafte Erzählweise spiegelt das wahre Leben wieder: Auch da bleibt vieles ungelöst, nicht alles hat ein Happy End.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „L’Immensità“
Italien / Frankreich 2022
94 min
Regie Emanuele Crialese

alle Bilder © STUDIOCANAL

OPPENHEIMER

OPPENHEIMER

Ab 20. Juli 2023 im Kino

Mehr Vielfalt geht nicht: Heute starten OPPENHEIMER und BARBIE parallel in den Kinos. Die US-Presse tauft den Boxoffice-Showdown der ungleichen Großproduktionen passenderweise „Barbenheimer“. Die Wetten stehen im Moment eher zugunsten BARBIE - Ist OPPENHEIMER wirklich zu intellektuell und anspruchsvoll für die breite Masse?

Ein neuer Film von Christopher Nolan: Das kann alles zwischen großartig und Kopfschmerzen bedeuten. Besonders in seinem letzten Werk TENET verzettelte sich der britische Regisseur in einer nicht nachvollziehbaren Story um den nonlinearen Ablauf von Zeit. Wer den Film verstanden hat, möge sich bitte melden. Aber natürlich steht Nolan auch für maximales Actionkino mit Hirn. INCEPTION, INTERSTELLAR oder die DARK KNIGHT-Trilogie sind moderne Klassiker. OPPENHEIMER, so viel Spoiler sei erlaubt, erzählt eine Geschichte, der man (halbwegs) folgen kann.

Größtmöglicher Schau- und Unterhaltungswert

Joseph M. Oppenheimer ist als Erfinder der Atombombe berühmt-berüchtigt. Erst nach den verheerenden Folgen von Hiroshima und Nagasaki ändert sich seine Haltung grundlegend, sodass ihn im paranoiden Amerika der 50er-Jahre bald das FBI ins Visier nimmt. „Er muss die Zerstörung der Welt riskieren, um sie zu retten“, wie das Presseheft den Kern der Story etwas reißerisch auf den Punkt bringt.

Nolan weiß genau, wie man selbst ein Biopic über einen nerdigen Wissenschaftler mit größtmöglichem Schau- und Unterhaltungswert inszeniert. Dazu hat er ein einfaches Erfolgsrezept entwickelt: Er schart die besten Leute um sich. Die in Schwarzweiß und Farbe gedrehten Bilder von Kameramann Hoyte van Hoytema sind so schön, dass man sich jedes einzelne Frame ausgedruckt an die Wand hängen möchte. Ludwig Göranssons Score erreicht Hans-Zimmer-Größe, Ausstattung, Schnitt, Sound – alles ist vom Feinsten.

Spektakulär auch die Besetzung: Cillian Murphy spielt den Vater der Atombombe mit Borderline verrückter Eleganz. Robert Downey jr. war lange nicht mehr so gut und schön aasig wie hier, Emily Blunt hat als Oppenheimers Ehefrau Kitty vor allem gegen Ende des Films eine grandiose Szene. In prominenten Nebenrollen sind unter anderem Gary Oldman, Casey Affleck, Rami Malek, Kenneth Branagh, Florence Pugh und Matt Damon dabei.

OPPENHEIMER ist ein erzählerischer und technischer Triumph in IMAX-Format gedreht. Größer und anspruchsvoller wird Kino in diesem Sommer nicht mehr. Und wer gewinnt nun den Barbenheimer-Showdown? Ganz klar, OPPENHEIMER ist der um Längen bessere Film. Aber gegen ein bisschen pinke Zuckerwatte zum Nachtisch ist auch nichts einzuwenden.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Oppenheimer“
USA 2023
180 min
Regie Christopher Nolan

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

MEIN FABELHAFTES VERBRECHEN

MEIN FABELHAFTES VERBRECHEN

Ab 06. Juli 2023 im Kino

Auch ein Meisterregisseur schwächelt mal. François Ozons hochkarätig besetzte Boulevard-Klamotte läuft ab Donnerstag im Kino.

Sie ist jung, hübsch und bitterarm. Nun steht die mäßig begabte Möchtegernschauspielerin Madeleine Verdie vor Gericht. Angeklagt für einen Mord, den sie nicht begangen hat. Ein einflussreicher Filmproduzent wurde erschossen aufgefunden, kurz nachdem Madeleine dessen Villa überstürzt verlassen hat. Auf der Anklagebank gesteht sie überraschend – aus Notwehr habe sie gehandelt. Der Freispruch bringt ihr Rollenangebote, Ruhm und Reichtum. Da taucht der ehemalige Stummfilmstar Odette Chaumette auf und behauptet, sie sei die wahre Mörderin.

Erstaunlich durchschnittliche Boulevardkomödie

Das sieht zwar alles gut aus: Kostüme, Sets und Ausstattung sind vom Feinsten. Aber die erstaunlich durchschnittliche und vor allem in der ersten Hälfte gepflegt langweilige Boulevardkomödie wird nur durch seinen erlesenen Cast am Leben gehalten. Mit weniger prominenten Schauspielern besetzt wäre MEIN FABELHAFTES VERBRECHEN auch als Ohnsorg-Theaterstück im deutschen Fernsehen der 1970er-Jahre durchgegangen.

François Ozon wäre nicht François Ozon, hielte er nicht auch hier ein flammendes Plädoyer für die Stärke der Frauen. Immerhin. Ansonsten fragt man sich, was den Starregisseur geritten hat, diese schnell zu vergessende Komödie mit Hang zum Melodramatischen als sein neues Projekt zu wählen. Besonders nach dem sehr gelungenen SOMMER 85 eine überraschende Entscheidung. Es muss wohl der Spaß an ein paar theaterhaften Effekten, den (zu) vielen Plot-Twists und einem hochkarätigen Ensemble gewesen sein. Neben Isabelle Huppert als alternde Diva glänzt das who is who des französischen Films – unter anderem Danny Boone, Nadia Tereszkiewicz, Rebecca Marder, Fabrice Luchini und André Dussollie.

Als launige Fingerübung geht MEIN FABELHAFTES VERBRECHEN durch, von Ozon darf man sonst deutlich mehr erwarten.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Mon Crime“
Frankreich 2023
102 min
Regie François Ozon

alle Bilder © WELTKINO

DIVERTIMENTO – EIN ORCHESTER FÜR ALLE

DIVERTIMENTO – EIN ORCHESTER FÜR ALLE

Ab 15. Juni 2023 im Kino

Eine junge Frau mit Migrationshintergrund will gegen alle Widrigkeiten die Dirigentin eines Symphonie-Orchesters werden. Der bessere TÁR kommt am Donnerstag in die Kinos.

Wer kennt das nicht? Der Abend war lang, der Schlaf köstlich und dann klingelt der Wecker zu früher Stund um kurz nach acht. Das Plumeau wiegt noch herrlich schwer und der Gedanke, sich ins Kino zu schleppen, scheint ungut. Zumal es im angekündigten Film um klassische Musik und eine Dirigentin geht. Zu frisch ist die quälende Erinnerung an TÁR, das cineastische Äquivalent zu einem sonnigen Tag, an dem die Freunde draußen spielen und man selbst in der stickigen Wohnung einer todeslangweiligen Erwachsenenunterhaltung zuhören muss.

Ein vom ersten bis zum letzten Takt bewegender Film

Damit wäre der größte Unterschied zwischen TÁR und DIVERTIMENTO – EIN ORCHESTER FÜR ALLE zusammengefasst. Zwar handeln beide Filme von der Ausnahmeerscheinung „Dirigentinnen“ – weltweit sind es nur 6 % Frauen, die ein Sinfonieorchester leiten – doch das wars mit den Gemeinsamkeiten. Während Cate Blanchetts schauspielerische Tour de Force den Zuschauer in monochromer Erstarrung zurücklässt, ist Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar ein vom ersten bis zum letzten Takt bewegender Film gelungen.

Sie ist 17 und hat einen Traum: Zahia Ziouani will Dirigentin des Schulorchesters an einem Pariser Konservatorium werden. Doch das Mädchen aus der Vorstadt wird von den meisten ihrer elitären Mitschülerinnen und Mitschüler nicht ernst genommen. Falsche Herkunft, falsches Geschlecht, zu jung! “Dirigent sein ist kein Beruf für eine Frau“ bescheinigt ihr auch Sergiu Celibidache, bevor der berühmte Orchesterleiter sie doch unter seine Fittiche nimmt.

DIVERTIMENTO ist inspiriert von der wahren Geschichte Zahia Ziouanis, eine der wenigen Dirigentinnen weltweit. Die Besetzung (wunderbar: Oulaya Amamra und Lina El Arabi als musikalische Schwestern und Niels Arestrup als beinharter Mentor) überzeugt – kein Wunder, besteht sie doch größtenteils aus echten Musikern. Kleine Kritik: Die vielen unterschiedlichen Vignetten aus dem Alltag der jungen Zahia und ihrer Familie fügen sich nicht ganz rund zu einer flüssig erzählten Geschichte zusammen. Da hätte das ein oder andere weggelassen oder ein wenig ausführlicher erzählt werden können. Doch durch seine positive Botschaft und seine Herzenswärme schafft es DIVERTIMENTO, selbst klassischer Musik nicht sonderlich zugeneigten Zuschauern abwechselnd ein Tränchen ins Auge und ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Ein unkitschiges Feel-Good-Movie.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Divertimento“
Frankreich 2022
114 min
Regie Marie-Castille Mention-Schaar

alle Bilder © Prokino

THE ADULTS

THE ADULTS

Ab 08. Juni 2023 im Kino

Nicht immer stinken Besuch und Fisch nach drei Tagen, manchmal kommt ein Familientreffen dann erst richtig in Schwung. Wie in THE ADULTS, einem Erwachsenenfilm frei ab 12.

„Alle glücklichen Familien ähneln einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“, wissen wir bereits seit Anna Karenina. Irgendwo dazwischen dürften die drei Geschwister anzusiedeln sein, deren muntere Mittelmäßigkeit die Dramedy THE ADULTS thematisiert.

Ein Film übers Erwachsen-geworden-sein

Als Pokerspieler Eric (Michael Cera) nach längerer Abwesenheit auf Stippvisite in seine Heimatstadt zurückkehrt, sind die Reaktionen gemischt. Seine mittlerweile geschiedene Schwester Rachel (Hannah Gross) wohnt wieder im Elternhaus und spart nicht mit Vorwürfen. Maggie (Sophia Lillis), die Jüngste, die sich durch Uni und Nebenjobs mäandert, charmiert und schmollt im Wechsel. Selbst die alte Zockerrunde lässt sich nicht ohne weiteres wieder zusammentrommeln.

Dass aus Kindern Leute werden, ist so banal wie anstrengend und selten so beiläufig und angenehm unaufgeregt im Kino dargestellt worden wie in THE ADULTS. Ein Film übers Erwachsen-geworden-sein, über Geschwisterliebe und verlorene Söhne.

Unter der Regie von Dustin Guy Defa entstand ein Psychogramm, das vor allem von seinen drei Hauptdarstellern getragen wird. Einzig die nachgeahmten TV-Dialoge, Teenietänzchen und Insiderspäßchen sind überdosiert und nervtötend. Der fremde Familienknatsch – insbesondere für Einzelkinder – durchaus interessantes Anschauungsmaterial.

Text: Anja Besch

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Adults“
USA 2023
91 min
Regie Dustin Guy Defa

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

FUCKING BORNHOLM

FUCKING BORNHOLM

Ab 01. Juni 2023 im Kino

„Spürt den feinen Sand unter den Füssen, während Ihr die frische Meeresluft einatmet und die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut merkt – das ist Sommer auf Bornholm“ wirbt die besonders bei polnischen Urlaubern beliebte Ostseeinsel auf ihrer Homepage. Maja, Nina, Dawid und Hubert sehen das anders. Sie sind zum Streiten nach Bornholm gekommen.

Jede Beziehung hat ein Verfallsdatum. So die schlecht gelaunte Maja (großartig: Agnieszka Grochowska) zu ihrem Mann. Während die einen noch frisch verliebt sind, schmoren die anderen schon lange im Krisenmodus. Keine guten Voraussetzungen für einen Pärchenurlaub. Und dann auch noch in seiner maximal deprimierendsten Form: Camping. Auf Bornholm. Fucking indeed.

Das erinnert stark an Reuben Östlund

Die vier versuchen trotz Gruppen-Midlife-Crisis erst mal das Beste aus ihrer Situation zu machen und mit den Kindern eine entspannte Zeit zu verbringen. Doch nach einem unschönen Zwischenfall mit dem jüngsten Sohn ist es mit der Harmonie schlagartig vorbei. Zähneknirschend unterdrückte Konflikte brechen auf.

Die polnische Regisseurin Anna Kazejak wirft einen sehr weiblichen Blick auf die campenden Streithähne und insbesondere auf das Versagen der Männer. Form, Tonfall, Musik – das erinnert ansonsten stark an Reuben Östlund, ohne dessen schneidende Schärfe zu entwickeln. Kazejak entwickelt aus gut beobachteten Alltagssituationen eine stimmungsvolle, aber nie wirklich mitreißende Gesellschaftssatire.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Fucking Bornholm“
Polen 2022
96 min
Regie Anna Kazejak

alle Bilder © Arsenalfilm

LIVING – EINMAL WIRKLICH LEBEN

LIVING – EINMAL WIRKLICH LEBEN

Ab 18. Mai 2023 im Kino

Bowler Hat und Nadelstreifenanzug: Britischer geht's nicht.

Jeder Berliner, der schon mal einen Antrag, eine Verlängerung oder gar Neuausstellung von oder für irgendwas gestellt hat, kennt das: Bürgerämter, egal unter welchem Senat, sind genauso schlecht wie ihr Ruf. Dass das im London der 1950er-Jahre kein Stück besser war, zeigt Oliver Hermanus in seiner gelungenen Dramödie LIVING – EINMAL WIRKLICH LEBEN.

Ein 5 o’clock-tea ist keine Technoparty

Bowler Hat, Nadelstreifenanzug, vornehme Zurückhaltung: Der Beamte Williams hat schon als Kind davon geträumt, ein echter Gentleman zu werden. Nun ist er alt, steht kurz vor der Pensionierung und erhält von seinem Arzt eine niederschmetternde Diagnose: 6 bis maximal 9 Monate bleiben ihm noch. Sein Job als ohnmächtiges Rädchen im Bürokratie-Getriebe erscheint ihm plötzlich sinnlos. Williams macht sich auf die Suche nach ein bisschen Lebensfreude.

Britischer geht’s nicht. Von den Eröffnungsbildern aus einem längst vergangenen London bis zum Abspann punktet LIVING mit exquisitem 1950er-Jahre-Look. Mindestens so gut wie Set-Design, Kostüm und Schnitt ist die Besetzung: Bill Nighy ist perfekt als trauriger „Mr. Zombie“, genau wie Amy Lou Wood als seine lebenslustige, Spitznamen verteilende Kollegin Margaret.

Ignoranten könnten die Nase über den langsamen Erzählfluss rümpfen – aber ein 5 o’clock-tea ist nun mal keine Technoparty. LIVING bietet viele schöne Szenen, und obwohl die Handlung eher traurig ist, bleibt der Zuschauer mit einem positiven Gefühl zurück. Charmanter Witz vereint mit starken Emotionen – das Ganze in einem unaufdringlichen, nicht belehrenden Ton erzählt. Marvelous indeed.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Living“
GB / Japan / Schweden 2022
102
Regie Oliver Hermanus

alle Bilder © Sony Pictures

BEAU IS AFRAID

BEAU IS AFRAID

Ab 11. Mai 2023 im Kino

Joaquin Phoenix auf dem Weg zur nächsten Oscarnominierung

Wie? Warum? Was? Herzlich willkommen in der Welt von Ari Aster. Einem Regisseur, der mit HEREDITARY und MIDSOMMAR zwei Klassiker des modernen Horrorfilms geschaffen hat. Filme, die den Zuschauer gefangen nehmen und zutiefst verstört zurücklassen. BEAU IS AFRAID hat den gleichen Effekt hoch 10. Und das sind ein paar Potenzen zu viel.

Geniestreich oder Katastrophe?

Beau leidet. Vor allem unter seiner monströsen Mutter. Seinen Vater hat er nie kennengelernt, denn der ist im Moment der Zeugung gestorben. Nun ist Beau erwachsen und lebt in einer höllischen Nachbarschaft. Halbverweste Leichen liegen auf der Straße, ein nackter Messermörder treibt sein Unwesen, die Polizei schaut tatenlos zu. Oben in Beaus Wohnung krabbelt eine Giftspinne über den Boden, der Nachbar spielt dröhnend laute Musik. Und dann verschläft Beau auch noch seinen Flug. Als er endlich zu seiner Mutter aufbricht, beginnt eine Odyssee, auf der er mit all seinen Ängsten konfrontiert wird.

BEAU IS AFRAID fängt schräg an, wird absurd und dann grotesk. Ein dreistündiges (!) Delirium durch die Seelenhölle eines Mannes, genial (wie immer) von Joaquin Phoenix verkörpert. Zwischendurch irrt der Held durch Zeichentricksequenzen und schaut sich ein im Wald aufgeführtes Theaterstück über sein eigenes Leben an, während er von einem Ex-Soldaten gejagt wird. Klingt verrückt? Ist es auch. Von einem riesigen, bissigen Penis, der auf einem Dachboden haust, ganz zu schweigen. Als Zuschauer ist man hin- und hergerissen. Zwischen ein paar ausgesprochen lustigen Szenen fragt man sich immer wieder, ob man schlicht zu dumm für Asters Visionen ist. Statt sich also in halbgaren Interpretationen zu verstolpern, soll der Regisseur selbst erklären:

„Wenn Sie einen Zehnjährigen mit (dem Antidepressivum) Zoloft vollpumpen und ihn Ihre Lebensmittel einkaufen lassen, dann ist das wie dieser Film.“

Aha. Noch präziser ist Asters Antwort auf die Frage, worum es in BEAU IS AFRAID eigentlich geht: „I don’t know. His dad’s a dick.“

Selten war es so schwer, einen Film zu bewerten. BEAU IS AFRAID kann man hassen oder lieben oder beides. Das ist zuletzt Darren Aronofsky mit MOTHER! gelungen. Ob die Geschichte vom paranoiden, angstzerfressenen Seelenkrüppel Geniestreich oder Katastrophe ist, kann jeder für sich selbst entscheiden.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Beau is afraid“
USA 2023
179 min
Regie Ari Aster

alle Bilder © Leonine

DAS LEHRERZIMMER

DAS LEHRERZIMMER

Ab 04. Mai 2023 im Kino

Zum Schreien: Horrorberuf Lehrer

Bundeskanzler Scholz warnt: „Das Land muss sich auf einen zunehmenden Lehrermangel vorbereiten. Das wird uns in den nächsten zehn Jahren umtreiben.“

Der gerade auf der Berlinale gezeigte Film DAS LEHRERZIMMER wird an diesem Missstand wenig ändern. Im Gegenteil. Schule und besonders der Beruf des Lehrers scheinen der pure Horror zu sein. İlker Çataks Film ist näher an einem Psychothriller als einer munteren Sozialstudie.

Jeder gegen jeden

„Was im Lehrerzimmer passiert, bleibt im Lehrerzimmer“, sagt Carla Nowak (Leonie Benesch) in einem Interview mit der Schülerzeitung. Auch wenn das für die junge Pädagogin zu diesem Zeitpunkt schon nur noch reine Wunschvorstellung ist. Einige ihrer Kollegen schauen mit Argusaugen auf ihre alternativen Unterrichtsmethoden und geben ihr zu verstehen, dass sie noch zu unerfahren für die Arbeit mit pubertierenden Kindern ist. Als es in der Schule zu einer Reihe von Diebstählen kommt und einer ihrer Schüler verdächtigt wird, ist Carla empört und beschließt, der Sache selbst auf den Grund zu gehen.

Es wird düster. Und dann noch düsterer. Bald kämpft jeder gegen jeden. Schuldzuweisungen drohen Existenzen zu vernichten. Schüler werden in Verhören „freundlich“ aufgefordert, ihre Mitschüler zu denunzieren. Die empörten Eltern toben, die Situation eskaliert. Wer schon mal einen Abend mit aufgebrachten Helikoptereltern verbringen musste, weiß: Übertrieben ist das nicht. Flecki Fleckenstein kann davon ein Lied singen. Ob allerdings Schüler derart wortgewandt und clever Erwachsene vorführen können, wie hier gezeigt, sei dahingestellt. Da tut das Drehbuch vielleicht schlauer als die Realität.

Fazit: Nach dem Film ist man dankbar, dass die Schulzeit lange vorbei ist und höchstens in Albträumen wiederkommt.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
98 min
Regie İlker Çatak

alle Bilder © Alamode Film

SPOILER ALARM

SPOILER ALARM

Ab 04. Mai 2023 im Kino

Das wäre ja mal originell. Einen Film, der SPOILER ALARM heißt, ohne Spoiler zu besprechen. Warum das nicht geht? Weil die Zutaten der romantischen Tragikomödie spätestens seit LOVE STORY sowieso jeder kennt.

Im Leben wie im Filmgeschäft gibt es Doppelgänger. Als ARMAGEDDON 1998 in die Kinos kommt, war nur wenige Wochen zuvor DEEP IMPACT gelaufen. Zwei Filme mit gleichem Inhalt, der eine ein internationaler Erfolg, der andere bald vergessen. Ähnlich verhält es sich bei SPOILER ALARM. Vor kurzem lief die gay-rom-com BROS in den Kinos. Nun scheint es fast, als hätte man sich beim verantwortlichen Studio Universal Pictures gedacht: Machen wir den gleichen Film nochmal, nur in traurig.

Hoher Schnieffaktor

Wieder verlieben sich zwei Männer in einem Nachtclub. Der eine, Michael (Jim Parsons), ein Schlümpfe sammelnder Journalist, der andere, Kit (Ben Aldridge), ein attraktiver hunk. Es folgen ein paar peinliche Sexszenen. Kaum ziehen die beiden zusammen, gibt’s gesellige Abende mit  guten (Klischee)-Freunden am dinner table. Auch den Ausflug an die Küste inklusive hübschem Strandhaus hat man so ähnlich in BROS gesehen.

Ansonsten unterscheidet sich SPOILER ALARM wohltuend von seinem missglückten Doppelgänger, vor allem in Sachen Herzenswärme und Sympathie der Figuren. Michael ist ein Nerd, der sein Leben von Kindheit an als Comedy-TV-Show (inklusive Laugh Track) fantasiert. Das ist originell und hübsch meta, denn Hauptdarsteller Jim Parsons verdankt eben solch einem Format seinen Ruhm: THE BIG BANG THEORY.

SPOILER ALARM basiert auf dem Bestseller „Spoiler Alert: The Hero Dies“ von Michael Ausiello. In seinen Memoiren verarbeitet der Journalist den Krebstod seines Ehemannes. Dass die Geschichte schlecht ausgeht, verrät der Film schon in der ersten Einstellung. Nach dem Schnieffaktor während der Pressevorführung zu urteilen, sollte SPOILER ALARM unbedingt mit ausreichendem Taschentuchvorrat geschaut werden.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Spoiler Alert“
USA 2022
112 min
Regie Michael Showalter

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

THE WHALE

THE WHALE

Ab 27. April 2023 im Kino

Brendan Fraser spielt die Rolle seines Lebens

Der zurückgezogen lebende Englischlehrer Charlie (Brendan Fraser) ist so fett wie ein Wal. Todkrank versucht er, sich mit seiner bockigen Teenager-Tochter zu versöhnen. Es ist seine letzte Chance auf Wiedergutmachung, nachdem er acht Jahre zuvor seine Familie wegen eines Mannes verlassen hat.

Oscar für Brendan Fraser als Bester Hauptdarsteller

Es gibt tatsächlich nur einen Grund, THE WHALE anzuschauen – und der heißt Brendan Fraser. In eine groteske Fatsuit gesteckt, spielt er die Rolle seines Lebens. Ihm gelingt das Kunststück, Charlie nicht als Freak der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern als einen warmherzigen Menschen darzustellen, der Respekt verdient. Fraser reanimiert mit einer schauspielerischen Tour de Force seine seit Jahren dümpelnde Kinokarriere und macht THE WHALE im Alleingang zu einem besseren Film.

THE WHALE von Samuel D. Hunter gehört in die Kategorie der verfilmten Theaterstücke wie WER HAT ANGST VOR VIRGINIA WOLF? oder DEATH OF A SALESMAN, die in erster Linie durch ihre Schauspieler beeindrucken. Ansonsten muss man sich fragen, was die Botschaft von THE WHALE sein soll. Dass sehr, sehr dicke Menschen neben Bluthochdruck auch ein Herz haben? Rein cineastisch gesehen ist das Kammerspiel mit seinen gestelzten Dialogen und eindimensionalen Nebenfiguren keine große Kunst.

Personen treten auf, halten dramatische Monologe und gehen wieder ab. Bei der Adaption von Bühne zu Film hätte ein bisschen mehr Kreativität nicht geschadet. Fehlt nur noch der rote Vorhang am Ende. Gemessen an BLACK-SWAN-Regisseur Darren Aronofskys letztem Fiasko MOTHER!, ist es aber immerhin ein Schritt zurück zu alter Form.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Whale“
USA 2022
117 min
Regie Darren Aronofsky

alle Bilder © PLAION PICTURES

4 TAGE BIS ZUR EWIGKEIT

4 TAGE BIS ZUR EWIGKEIT

Ab 27. April 2023 im Kino

Der Sage nach verschwand das junge Fräulein Idilia Dubb während eines Ausflugs spurlos. Erst 12 Jahre später fand man ihre sterblichen Überreste.

4 TAGE BIS ZUR EWIGKEIT – klingt nach US-Melodram, ist aber eine urdeutsche Sagengeschichte. Im Mittelrheintal des 19. Jahrhunderts: Die junge Idilia Dubb erwacht in einer Burgruine mit blutender Kopfwunde. Sie kann sich an nichts erinnern. Nur ihr Tagebuch gibt Hinweise auf ihre Vergangenheit. Es scheint, als verbinde sie eine heimliche Romanze mit dem abessinischen Schausteller Caven, der in der Völkerschau ihres Verlobten arbeitet. Während sich Idilias Erinnerungstrümmer langsam zusammenfügen, verschwimmen Realität und Fantasie immer mehr. Von hohen Mauern umschlossen, scheint ihre Situation ausweglos. Ein viertägiger Kampf ums Überleben beginnt.

Pappmaché-Kulissen und düsterer Elektrosound. Das Kinodebüt von Simon Pilarski und Konstantin Korenchuk bewegt sich irgendwo zwischen tschechischem Märchenfilm und der Mystery-Serie DARK. Bei Ausstattung und Inszenierung gibt es noch Luft nach oben, aber die Geschichte vom verschollenen Fräulein ist durchaus stimmungsvoll umgesetzt. Ein Genrefilm aus Deutschland, das hat immer noch Seltenheitswert. Allein schon deshalb sind die 4 TAGE BIS ZUR EWIGKEIT mit Lea van Acken und Eric Kabongo sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
102 min
Regie Simon Pilarski und Konstantin Korenchuk
Kinostart 27. April 2023

alle Bilder © Sternenberg Films

INFINITY POOL

Brandon Cronenbergs neuer Horrorfilm - Papa David wäre stolz

Ist ein Konditorensohn, der das Geschäft seines Vaters übernimmt und weiter dessen Rezepte verwendet, ein Kopist? Oder ist er ein Traditionalist? Und was ist Brandon Cronenberg, dessen neuer Film voller Anleihen an die Werke seines Vaters steckt? Sperma, Urin, Blut, Kotze, Muttermilch – das Best of Körperflüssigkeiten kennt man bereits aus David Cronenbergs Werken, inklusive destruktiver Veränderungen der Physis und surreal bunt gefilterter Traumsequenzen. Kopie als höchste Form der Anerkennung?

THE WHITE LOTUS, aber für Kranke

Strand, Sonne, diensteifriges Personal: James (Alexander Skarsgård) und Em (Cleopatra Coleman) genießen den perfekten Urlaub. Doch als die beiden mit dem befreundeten Paar Gabi (Mia Goth) und Alban (Jalil Lespert) das Areal des Luxusresorts verlassen, kommt es zu einem tragischen Unfall. Schnell eskaliert die Situation. Die Null-Toleranz-Politik, mit der die Insel gegen Kriminalität vorgeht, stellt James vor die Alternative: hingerichtet werden oder – sofern er bezahlt – seinem Doppelgänger beim Sterben zusehen.

Der Ferientrip in die Hölle ist zumindest gut besetzt. Auf Horror versteht sich Mia Goth spätestens seit X und PEARL. Zusammen mit Alexander Skarsgård trippt sie sich durch den irrwitzigen INFINITY POOL und macht dabei eine ausgezeichnete Figur. Leider geht dem rich-people-bashing gegen Ende in psychedelischem Ballaballa die Luft aus. Was anfangs noch schockt, wirkt auf Dauer nur noch ermüdend. Ein tieferer Sinn lässt sich ohnehin nicht ausmachen.

Empfehlenswert für alle, denen TRIANGLE OF SADNESS zu laff war. INFINITY POOL bedient sich aus demselben Genpool, verzichtet aber weitestgehend auf den beißenden Humor Ruben Östlunds zugunsten übelkeitserregendem Body-Horror. Und weil man es nicht besser zusammenfassen kann, hier ein Zitat aus der US-Presse: „Brandon Cronenberg’s THE WHITE LOTUS for sickos“

Originaltitel „Infinity Pool“
Kanada / Kroatien / Ungarn 2022
118 min
Regie Brandon Cronenberg 

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

ROTER HIMMEL

ROTER HIMMEL

Ab 20. April 2023 im Kino

Der neue Petzold - nur auf den ersten Blick eine leichte Komödie

Die Berlinale 2023 war mal wieder ein durchwachsenes Vergnügen. Doch Christian Petzold sei Dank, gab es mit ROTER HIMMEL einen deutschen Beitrag, der mehr als nur okay war. Im extra trüben Wettbewerb leuchtete sein Film besonders hell. 

Bei der Berlinale gewann Petzolds Film den Großen Preis der Jury

Zwei Freunde, der eine Fotograf, der andere Schriftsteller, machen ein paar Tage Urlaub an der Ostsee. In ihrem Ferienhaus treffen sie Nadja, die sich nachts mit Devid (im Osten gab es nicht nur Maiks), dem örtlichen Rettungsschwimmer vergnügt. Vier junge Menschen, von denen drei Spaß haben, nur Leon, der Schriftsteller, quält sich. Die gute Laune der anderen lässt ihn immer mürrischer werden, zumal ihm sein Verleger im Nacken sitzt. Es ist Sommer, um das Haus herum brennt der Wald, der Himmel färbt sich rot, bald regnet es Asche.

ROTER HIMMEL ist der zweite Teil einer Trilogie. Wie schon in UNDINE platziert Petzold moderne Charaktere in ein märchenhaftes Setting. Diesmal ins deutscheste aller deutschen Märchensettings: den Wald. Die Symbolik des alles verschlingenden Feuers für die lodernden Gefühle der vier jungen Menschen erdrückt dabei nicht. Das vielschichtige Drama wechselt meisterhaft von leichter Komödie zu tiefgründiger Tragödie. Dazu eine ausgezeichnete Besetzung, vor allem Paula Beer als lebensfrohe Nadja und Thomas Schubert als miesepetriger Leon. Bei der Berlinale gewann Petzolds Film den Großen Preis der Jury.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
102 min
Regie Christian Petzold

alle Bilder © Piffl Medien

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN

Ab 13. April 2023 im Kino

Emily Atefs Berlinale-Beitrag: Es gibt ihn noch, den typisch deutschen Problemfilm.

Sommer 1990. Ein Bauernhof an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Johannes hat für seine Freundin Maria und sich den Dachboden bei seinen Eltern zum kleinen Idyll gemacht. Maria liest Dostojewski, streift durch die Wiesen und widmet sich auch sonst dem süßen Nichtstun. Ihre Begegnung mit Henner, dem um einiges älteren Nachbarn, macht der Beschaulichkeit ein Ende. Eine tragische Liebe nimmt ihren Lauf.

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN gehört in die Kategorie Filme, bei denen schon nach wenigen Minuten klar ist, dass man sich weder für die Figuren noch ihre deprimierenden Probleme interessiert. Das hölzern gespielte Drama von der verbotenen Liebe verläuft ereignislos und zieht sich über 129 Minuten wie Kaugummi. Von der Dramatik des Trailers ist im Film wenig zu spüren. Sehenswert sind in diesem deutschen Berlinale-Wettbewerbsbeitrag einzig die sommerlichen Landschaften Ostdeutschlands. Ernüchterndes Fazit: Es gibt ihn noch, den typisch deutschen Problemfilm.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
129 min
Regie Emily Atef

alle Bilder © Pandora Film

DER FUCHS

DER FUCHS

Ab 13. April 2023 im Kino

Die wahre Geschichte einer Freundschaft zwischen Mann und Fuchs

Westfront, Schützengraben, Wassersuppe. Wenn Opa mal wieder vom Krieg erzählt, verdreht der Enkel die Augen. Nicht so Adrian Goiginger. Der hat genau zugehört und aus den Kindheits- und Jugenderinnerungen seines Urgroßvaters einen Film gemacht. Vielleicht weil dessen Geschichte einen hohen Niedlichkeitsfaktor hat. Während des zweiten Weltkriegs war ein Fuchs der treue Weggefährte des jungen Soldaten.

Die Geschichten der Alten sterben mit ihnen

Die Geschichten der Alten sterben mit ihnen, und wenn die nachfolgenden Generationen sie nicht aufschreiben (oder verfilmen), sind sie für immer verloren. Wer weiß heute zum Beispiel noch, dass im Türnich der 30er-Jahre Verstorbene manchmal mit Klingelschnüren an den Händen im Gebüsch versteckt wurden, um dem nächsten Besucher, der am Tor schellte, kalt und steif in die Arme zu fallen? Eine wahre Geschichte. Wahrscheinlich.

Zurück zum Film. Österreich, Mitte der 1920er-Jahre: Die Bergbauernfamilie Streitberger gibt ihren jüngsten Sohn zu einem Großbauern weg. Das Einkommen reicht nicht, die vielen Kindermäuler zu stopfen. Als Knecht darf Franz zwar Lesen und Schreiben lernen, erfährt aber sonst keine Zuneigung. Kaum volljährig, verpflichtet er sich bei der Armee und zieht wenige Jahre später in den Krieg an die Westfront nach Frankreich. Dort findet die schicksalhafte Begegnung mit dem ausgesprochen hübschen Fuchswelpen statt. Wie Hund und Herrchen bleiben die beiden für die nächsten Monate unzertrennlich.

Ganz wie das echte Leben folgt auch DER FUCHS keiner klassischen Dramaturgie. Drehbuchautor und Regisseur Goiginger erzählt die Parabel vom verstoßenen Kind, das erst durch die Freundschaft zu einem Tier wieder den Glauben an die Liebe zurückgewinnt. Am stärksten sind dabei die Anfangsszenen auf der Alm. Die Entbehrungen, der Hunger, das gemeinsame Schweigen am abendlichen Feuerofen – alles sehr authentisch, das hat fast dokumentarischen Charakter. Allein deshalb ist DER FUCHS sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Österreich 2021
117 min
Regie Adrian Goiginger 

alle Bilder © Alamode Film

DIE KAIRO VERSCHWÖRUNG

DIE KAIRO VERSCHWÖRUNG

Kinostart 06. April 2023

Während unsereins in jungen Jahren vielleicht davon träumt, mal in Oxford oder Cambridge zu studieren, ist für einen echten Muslim die Azhar-Universität in Kairo das höchste der Gefühle. Adam (Tawfeek Barhom), Sohn eines einfachen Fischers, hat es geschafft: Er erhält ein Stipendium für das renommierte Institut. Kaum ist er dort eingetroffen, stirbt das Oberhaupt der Universität, der Großimam. Es beginnt ein Kampf um seine Nachfolge. Der dubiose Regierungsbeamte Ibrahim (Fares Fares) rekrutiert Adam als Informanten für die ägyptische Stasi, denn der Geheimdienst will seinen Wunschkandidaten zum neuen Großimam wählen lassen. Adam gerät nicht nur zwischen die Fronten der religiösen und politischen Eliten des Landes, sondern bald auch in Lebensgefahr.

Mehr Arthouse- als Actionkino

Verrat! Intrige! Mord! Alle Zutaten für einen handfesten Thriller sind vorhanden. Und doch ist „Boy from Heaven“ (so der Originaltitel) ganz anders als die übliche Krimikost. Die Geschichte erinnert an eine nahöstliche Interpretation von Ecos „Der Name der Rose“: Ein junger, naiver Lehrling und sein Ziehvater versuchen einen mysteriösen Kriminalfall zu lösen.

Tarik Salehs spannender Politthriller hat einen reißerischen deutschen Titel, gibt aber einen ruhigen, fast dokumentarischen Einblick in eine dem westlichen Auge verschlossene Welt. Das ist mehr Arthouse- als Actionkino. Im Wettbewerb des Festivals de Cannes 2022 gewann „Die Kairo Verschwörung“ den Preis für das „Beste Drehbuch“.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Boy from Heaven“
Schweden /  Frankreich / Finnland 2022
125 min
Regie Tarik Saleh

alle Bilder © X Verleih

DER GYMNASIAST

DER GYMNASIAST

Kinostart 30. März 2023

„Mein Leben ist zu einem wilden Tier geworden, das mich beißt, wenn ich ihm zu nahe komme.“
Internatsschüler Lucas (niedlich: Paul Kircher) ist traumatisiert. Seit dem tödlichen Autounfall seines Vaters ist seine Familie von Trauer überwältigt. Als ihn sein Bruder Quentin einlädt, ein paar Tage nach Paris zu kommen, ändert sich für den 17-Jährigen alles. DER GYMNASIAST ist eine sehr persönliche Erzählung des Regisseurs Christophe Honoré, in dem er den frühen Tod seines eigenen Vaters verarbeitet.

L'art pour l'art

Erst mal das Positive: die Schauspieler! Allein Juliette Binoche (immer toll), Vincent Lacoste und Erwan Kepoa Falé sind Grund genug, sich die über zweistündige Trauerarbeit der Familie Ronis anzuschauen. Vor allem aber der junge Paul Kircher ist eine Entdeckung. Er trägt den Film, spielt authentisch und glaubwürdig den schwulen Teenager, dem der Boden unter den Füßen wegbricht. Beim Filmfestival von San Sebastian gab es dafür bereits einen Preis als bester Hauptdarsteller.

Und sonst? Großaufnahmen, Zeitraffer, wackelige Kamera: L’art pour l’art – der Film ist voller Kunstgriffe ohne tieferen Sinn. Mehr irritierend als erhellend ist eine Art gefilmtes Voiceover, in dem Lucas redundant in die Kamera spricht, was sich auch so durch die Handlung erschließt. Das lenkt vom Wesentlichen ab und erzeugt unnötige Längen. LE LYCÉEN – ein französisches Drama, vor allem wegen der Besetzung sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Le Lycéen“
Frankreich 2022
122 min
Regie Christophe Honoré

alle Bilder © Salzgeber

THE ORDINARIES

THE ORDINARIES

Kinostart 30. März 2023

Das ganze Leben ist ein Film: Menschen sind entweder Hauptfiguren, Nebenfiguren oder – geächtete – Outtakes. In diesem bizarren Paralleluniversum hat Paula die wichtigste Prüfung ihres Lebens vor sich: Sie muss beweisen, dass auch sie das Zeug zur Hauptfigur hat. Als Klassenbeste in Cliffhanger, Zeitlupe und panischem Schreien bringt sie eigentlich beste Voraussetzungen mit. Um noch emotionaler spielen zu können, sucht sie nach „Flashbacks“ von ihrem Vater, der vor vielen Jahren bei einem Massaker ermordet wurde. Doch sein Name ist aus allen Datenbanken gelöscht. War ihr Vater wirklich eine strahlende Hauptfigur, die den Heldentod starb?

Science-Fiction-Comedy-Musical-Drama

Eine verwöhnte, ignorante Oberschicht und das einfache Volk, das in eingezäunten DDR-Gettos haust – das Setting erinnert an Terry Gilliams Dystopieklassiker BRAZIL, wild gemixt mit der künstlichen 50er-Jahre-Welt der TRUMAN SHOW. Nur dass die Ordinaries-Protagonisten nicht irgendwann aus der Kulisse treten und sich in der Realität wiederfinden.

Mehr Mut zum Schnitt! Denn die etwas dünne Story ermüdet auf Dauer mit Wiederholungen. Regisseurin Sophie Linnenbaum hat eine Kurzfilmidee auf 120 Minuten gestreckt. Dafür punktet das Science-Fiction-Comedy-Musical-Drama mit Ausstattung, skurrilen visuellen Einfällen und originellen Details. So gibt es zum Beispiel „Fehlbesetzungen“ wie das Hausmädchen, dass von einem verlebten Mann gespielt wird. Oder Paulas Mutter, die als Nebenfigur nur über einen begrenzten Wortschatz verfügt: „Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich bin stolz auf dich“ lauten ihre monoton heruntergebeteten Drehbuchphrasen.

THE ORDINARIES ist (über)-ambitioniertes, teils clever gemachtes Genrekino aus Deutschland. Auszeichnungen gab es bereits reichlich: unter anderem den First Steps Award und diverse Publikumspreise. Ein nicht durchweg überzeugendes Spielfilmdebüt, das trotz Längen neugierig auf die nächsten Arbeiten der Regisseurin macht.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
120 min
Regie Sophie Linnenbaum

alle Bilder © notsold und Port au Prince Pictures

SISI UND ICH

SISI UND ICH

Kinostart 30. März 2023

Sisi hier, Sisi da, Sisi wo man hinschaut. Ihre kaiserliche Omnipräsenz gibt sich schon wieder die Ehre. Neben diversen Netflix- und RTL-Serien war zum Thema zuletzt der österreichische Oscarbeitrag CORSAGE im Kino zu sehen.

Wilde Neuinterpretation des vielerzählten Mythos

Irma Gräfin von Sztáray bewirbt sich als Hofdame von Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Doch das Casting ist nicht ohne: Erst schlägt ihr die gestrenge Mutter die Nase blutig, dann wird sie wie ein Stück Vieh untersucht und verhört. Endlich auserwählt, kommen sich die Gräfin und die Kaiserin auf Sisis Sommersitz auf Korfu schnell nah.

SISI UND ICH ist all das, was CORSAGE gerne gewesen wäre. Eine wilde Neuinterpretation des vielerzählten Mythos. Grotesk und sehr komisch. Susanne Wolff und Sandra Hüller sind schlichtweg grandios, Locations und Kostüme erlesen, und das Ganze wird von einem überraschend modernen Soundtrack zwischen Nico und Portishead begleitet. Sehr gelungen.

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Deutschland / Schweiz / Österreich 2023
132 min
Regie Frauke Finsterwalder

alle Bilder © DCM

DIE FABELMANS

DIE FABELMANS

Kinostart 09. März 2023

Steven Spielberg ist in Hochform und keiner will es sehen. Wie schon zuletzt seine Neuverfilmung der WEST SIDE STORY ist auch DIE FABELMANS an den amerikanischen Kinokassen gefloppt. Filme für Erwachsene funktionieren nicht mehr, unkt die US-Presse. Dabei sollte man gerade Filme wie DIE FABELMANS im Kino auf der großen Leinwand sehen. Nicht nur wegen Janusz Kamińskis magischen Bildern, sondern weil die 151 Minuten lange Kindheits- und Jugenderinnerung Spielbergs einen Sog entfaltet, dem man sich ohne Ablenkung hingeben muss.

Michelle Williams wird als Kandidatin für den Oscar gehandelt

Cecil B. DeMilles THE GREATEST SHOW ON EARTH öffnet dem kleinen Sam die Augen, besonders eine Kollisionsszene mit zwei Zügen und einem Auto. Zu Hause stellt er das Unglück mit Spielzeug nach. Seine Mutter bringt ihn auf die Idee, das Ganze zu filmen, damit er es sich so oft ansehen kann, wie er will. Voilà. Das erste Werk des Jungregisseurs ist fertig. In immer aufwändigeren Produktionen setzt er bald seine Schwestern und Freunde in Szene. Während sich seine Eltern mehr und mehr auseinanderleben, hat Sam Fabelman seine Bestimmung gefunden: das Filmemachen.

Großartig: Gabriel LaBelle als junger Sammy Fabelman aka Steven Spielberg und Judd Hirsch in einer Gastrolle als schräger Onkel Boris. Michelle Williams, die die Mutter spielt, wird als Kandidatin für den Oscar gehandelt. Für ihre Gesamtleistung hätte sie es verdient, obwohl sie in manchen Szenen dermaßen überdreht spielt, dass man sich fragt: Ist das noch Schauspielkunst oder schon Overacting?

Im Januar diesen Jahres gewann THE FABELMANS den Golden Globe als bestes Drama. Er habe sich lange nicht getraut, so eine persönliche Geschichte zu erzählen, sagt der Regisseur bei der Preisverleihung. Quatsch, denn den viel persönlicheren Film über die Ängste seiner Kindheit hat er schon vor 40 Jahren gedreht: ET.

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Originaltitel „The Fabelmans“
USA 2022
151 min
Regie Steven Spielberg

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN

ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN

Kinostart 08. März 2023

Pünktlich zum internationalen Frauentag gibt es einen Film aus der Kategorie: Was hätten wohl die Franzosen aus diesem Stoff gemacht? Wahrscheinlich eine federleichte Sommer-Komödie mit viel Herz und Charme. Wir Deutschen gehen da anders ran – problembewusster.

Kinder nerven und Eltern sowieso

Ein langer Tag im Leben der Psychotherapeutin Ina. Ihre egozentrische Mutter feiert 70sten Geburtstag, ihre Tochter hat pubertierend dauerschlechte Laune und ihr Freund will unbedingt nach Norwegen auswandern. Mittendrin Ina, die es allen recht machen will. Bei dem ganzen Stress kein Wunder, dass sie sich in letzter Zeit so schlecht fühlt.

Katharina Wolls Kinodebüt ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN beschäftigt sich mit dem Druck, der auf modernen Frauen lastet. Einerseits Haushalt führen und fürsorgliche Mutter sein, andererseits Karriere machen und die Familie managen – widersprüchliche Erwartungen, die großes Konfliktpotenzial bergen. Doch Wolls Film kratzt nur an der Oberfläche, befriedigt weder als Komödie noch als Drama.

Auch Bildungsbürger mit gut bezahlten Berufen, Neuwagen und schönen Wohnungen haben es nicht leicht, ja ja. Am Ende steht kein Erkenntnisgewinn, außer, dass Kinder nerven und Eltern sowieso. Das beste Argument für ALLE WOLLEN GELIEBT WERDEN ist die tolle Hauptdarstellerin Anne Ratte-Polle, die ihre Rolle mit leiser Ironie spielt und bei all der Qual fast bis zum Ende bewundernswert die Haltung wahrt.

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Deutschland 2022
80 min
Regie Katharina Woll

alle Bilder © Camino

SONNE UND BETON

SONNE UND BETON

Kinostart 02. März 2023

Berlin, Sommer 2003: Lukas, Julius, Gino und Sanchez – vier Jungs, die jede Menge Scheiß bauen und denen jede Menge Scheiß widerfährt. Muss das sein, diese vulgäre Sprache? Ja, denn in „Gropius“ aufzuwachsen ist nichts für Weicheier. Gangster oder Opfer. Hier gilt: Der Klügere tritt nach. An Drogen und Schlägereien kommt keiner vorbei. Die Sprache ist so rau wie die vier minderjährigen Kleingangster, die dringend 500 € klar machen müssen, sonst gibts Schläge von den Arabern.

Irgendwo zwischen EIS AM STIEL und 4 BLOCKS

Digger, ich schwöre, ich zerficke dir dein Gesicht. Herzige Dialoge wie dieser werfen die interessante Frage auf: Haben Jugendliche in den Nuller-Jahren wirklich schon derart penetrant gediggert wie heute? Dass mittlerweile 10-Jährige „Diggi“ schwafelnd durch die Straßen laufen, schlimm genug. Aber vor 20 Jahren? Man kann sich bei der Gelegenheit ohnehin fragen, weshalb Regisseur David Wnendt die Geschichte nicht in die Jetztzeit verlegt hat. Altmodische Handys und ein paar Nachrichtenbilder von Kanzler Schröder sind die einzigen Hinweise auf die Anfang-Tausender und haben keinen echten Mehrwert.

Felix Lobrecht zählt zu den gefeiertsten Comedians des Landes, füllt mit seinen Shows die größten Stadien und „Gemischtes Hack“ hat sowieso jeder schon einmal gehört, der sich für Podcasts interessiert. Die massenkompatible Verfilmung seines Bestsellers SONNE UND BETON liegt irgendwo zwischen EIS AM STIEL und 4 BLOCKS für Jugendliche. Bisschen doof, bisschen nervig, trotzdem lustig und sehr kurzweilig.

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Deutschland 2023
119 min
Regie David Wnendt

alle Bilder © Constantin Film Verleih

DER ZEUGE

DER ZEUGE

Kinostart 02. März 2023

Carl Schrade, ein ehemaliger Juwelenhändler, der jahrelang in verschiedenen Konzentrationslagern gefangen gehalten wurde, sagt als Kronzeuge vor einem US-Militärgericht gegen seine Peiniger aus. Auf der Anklagebank sitzen SS-Männer, NSDAP-Funktionäre und Ilse Koch, die Frau des berüchtigten KZ-Kommandanten Karl Koch.

Fast nüchtern werden die Gräueltaten der Nazis nacherzählt

DER ZEUGE basiert auf realen Gerichtsprotokollen. Regisseur Bernd Michael Lade stellt in seinem Prozess-Drama Täter- und Opferaussagen gegenüber. Fast nüchtern werden die Gräueltaten der Nazis nacherzählt, die zum Tod von Millionen Menschen in den Konzentrationslagern führten.

Lade setzt auf Realismus und lässt die Aussagen der Protagonisten von Anfang bis Ende übersetzen. Ganz so, wie es in den Gerichtsprotokollen geschrieben steht. Spricht ein Angeklagter Deutsch, so wird seine Aussage von einer Übersetzerin auf Englisch wiederholt. Umgekehrt werden die englischen Zeugenaussagen ins Deutsche übersetzt. Wort für Wort, Satz für Satz. Das erfordert Geduld. Natürlich wäre es kein Problem gewesen, spätestens nach fünf Minuten den üblichen Crossfade zu machen und alle Figuren in einer Sprache sprechen zu lassen. Oder Untertitel. Doch solchen filmischen Tricks verweigert sich der Regisseur, um „mit einem inneren Widerhall die Aussagen fühlbar zu machen.“ Für den Zuschauer anstrengend, aber immerhin konsequent durchgezogen.

Bernd Michael Lade selbst spielt die Hauptrolle, seine Ex-Ehefrau Maria Lade gibt mit blecherner Transistorradiostimme die Übersetzerin, der gemeinsame Sohn Jonathan agiert als Statist im Hintergrund, neben ihm sein Halbbruder Ludwig Simon. Ein Kammerspiel mit Familienbesetzung, das noch viele Schülergenerationen im Geschichtsunterricht begleiten wird.

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Deutschland 2022
93 min
Regie Bernd Michael Lade

alle Bilder © Neue Visionen

TÁR

TÁR

Kinostart 02. März 2023

Dass Cate Blanchett unlängst Filmpreisverleihungen als „Pferderennen“ kritisierte, ist alles andere als Neid einer Besitzlosen. Für ihre Titelrolle in dem Musikdrama TÁR bereits bei den Golden Globes und der Biennale als beste Darstellerin ausgezeichnet, ist die 53-Jährige erneut vielversprechende Anwärterin auf den Oscar.

Aufstieg und Fall einer Diva

Das Werk erzählt die fiktive Geschichte von Lydia Tár, die als erste Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker das Vorspielen weiblicher Talente mit ihren privaten Interessen vermischt. Dieser Machtmissbrauch schadet auf Dauer sowohl ihrer ehelichen Beziehung zu Violinistin Sharon als auch ihrer einmaligen Karriere.

Die anspruchsvolle Rolle ist Cate Blanchett auf den Leib geschrieben, sie dominiert den Film. Ganze 158 Minuten lang. TÁR ist in vielerlei Hinsicht anzumerken, dass Todd Field in seiner dritten Regiearbeit nach 16-jähriger Schaffenspause ein immenses Mitteilungsbedürfnis hat: Künstlerporträt, #MeToo-Thematik, konzertantes Making-of, Selbstmord, Schulhofmobbing, Altersarmut – um nur einige Themen zu nennen. Das Ganze inszeniert in vermeintlich originalem Berliner Lokalkolorit zwischen vermülltem Neuköllner Hinterhof und stylish komponiertem Waschbeton-Refugium. Dazu Gustav Mahlers fünfte Symphonie und zeitgenössische Kompositionen von Hildur Guðnadóttir sowie eine Riege von Co-Darstellern, die das Universum der Lydia Tár bevölkern: Noémie Merlant, Julian Glover, Nina Hoss als erste Geige und vor allem viele echte Orchestermusiker.

Ein intellektuell anspruchsvoller Film, der beachtlichen Erfolg bei der Kritik, mutmaßlich weniger beim unterhaltungsaffinen Publikum haben dürfte. Dafür bietet TÁR buchstäblich zu viel des Guten.

Text: Anja Besch

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „TÁR“
USA 2022
158 min
Regie Todd Field

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO SEIN, WIE ES NIE WAR

seit 23. Februar 2023 im Kino

Eine etwas andere Kindheit: Josse wächst auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik auf. Für den jüngsten Sohn von Direktor Meyerhoff (Devid Striesow) gehören die körperlich und geistig Behinderten quasi zur Familie. Am besten schläft er, wenn er nachts die Schreie der Patienten hört. Vielleicht weil er selbst immer wieder Tobsuchtsanfälle bekommt. Dann setzen ihn die Eltern auf die Waschmaschine. Das Schleudern beruhigt den hypersensiblen Jungen.

Ergreifend und voll absurder Momente

Kann man die mittlerweile fünf autobiografischen Romane Joachim Meyerhoffs überhaupt verfilmen? Ja, man kann. Komisch, ergreifend und voll absurder Momente: Sonja Heiss hat die 70er-Jahre Stimmung des zweiten Bands der Lebenserinnerungen des Schauspielers punktgenau eingefangen. Dabei sind die Figuren nicht einmal so besetzt, wie man sich das vielleicht beim Lesen vorstellt. Aber dank der stimmigen Inszenierung und dem hervorragenden Spiel taucht man schnell in die Welt der schrägen Familie ein.

Joachim Meyerhoff erzählt in seinen Büchern keine klassisch aufgebaute Geschichte, sondern reiht Erinnerungen und Begebenheiten lose aneinander. Kleiner Wermutstropfen: Der Stoff hätte locker für eine Fernsehserie gereicht. Ganze viermal wechselt der Schauspieler des Josse: vom Kind zum Teenager bis zum jungen Mann. Das geht dann doch ein bisschen zu schnell. Trotzdem: WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR ist die gelungene Verfilmung eines unverfilmbaren Buchs, hoffentlich mit Fortsetzung.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
116 min
Regie Sonja Heiss

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

DIE AUSSPRACHE

DIE AUSSPRACHE

Kinostart 09. Februar 2023

Selten hat es ein Filmtitel so gut zusammengefasst: DIE AUSSPRACHE heißt im Original WOMEN TALKING. Und genau das tun sie. Schließlich geht es um lebenswichtige Entscheidungen. Wie spannend so ein Dialogfilm sein kann, weiß man spätestens seit DIE ZWÖLF GESCHWORENEN.

Oscarwürdiges Schauspielensemble

2010 – In einem kleinen Ort in den USA lebt eine Gruppe Mennoniten, die sich von der heutigen modernen Gesellschaft abschottet. Doch seit geraumer Zeit liegt ein Schatten über der Religionsgemeinschaft. Die Frauen werden nachts betäubt und vergewaltigt. Nun müssen sie entscheiden, wie es weitergehen soll: Nichts tun? Im Dorf bleiben und sich gegen die Männer wehren? Oder die Gemeinschaft mit den Kindern verlassen?

DIE AUSSPRACHE folgt weniger einer klassischen Handlung, ist mehr eine Anregung zum Nachdenken, ein Abwägen des Für und Wider von Rache und Vergebung. In langen Gesprächen diskutieren die Frauen die möglichen Konsequenzen ihrer Entscheidung. Regisseurin Sarah Polley vermeidet dabei jeden Voyeurismus: Die Geschichte hinter den Ereignissen mag zwar gewalttätig sein, doch der Film zeigt nie die Gewalt, die die Frauen erfahren. Nur kurze Ausschnitte des Danach sind zu sehen.

Das Schauspielensemble ist oscarwürdig, allen voran Rooney Mara und Claire Foy. Bis in die kleinste Nebenrolle ausgezeichnet besetzt, sorgen unter anderem Ben Whishaw und Frances McDormand für dramaturgisches (Schwer-)Gewicht. Fast monochrom, Gesichter im Halbschatten: Die Bilder (Kamera: Luc Montpellier) und die Farbgebung sind so düster wie die Geschichte selbst.

DIE AUSSPRACHE erinnert an eine Folge der TV-Serie THE HANDMAID’S TALE mit dem Unterschied, dass die Dystopie von Margaret Atwood Fiktion ist und DIE AUSSPRACHE auf wahren Begebenheiten beruht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Women Talking“
USA 2021
104 min
Regie Sarah Polley

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

BULLDOG

BULLDOG

Kinostart 02. Februar 2023

Neckisches Versteckspiel, lachend im Gras wälzen, zu tief in die Augen schauen: Man könnte glatt meinen, die beiden wären ein Liebespaar. Aber falsch, es sind Mutter und Sohn. Ödipus lässt grüßen: Bruno ist einundzwanzig und lebt mit seiner nur fünfzehn Jahre älteren Mutter Toni auf Ibiza. Die ungesund enge Beziehung wird gestört, als sich Toni in Hannah verliebt und diese in den gemeinsamen Bungalow einzieht. Bruno passt der unfreiwillige Dreier gar nicht und reagiert eifersüchtig.

Sommerliche Leichtigkeit trifft auf ernstes Thema

Forever Young: Die Haare pink, das Basecap mit dem Schirm nach hinten – Mutter und Sohn verweigern sich dem Erwachsenenleben, hangeln sich mit Gelegenheitsjobs durch. Die beiden haben mit ihrem launischen Teenagerverhalten großes Nervpotenzial. Da fällt es mitunter schwer, Sympathie zu entwickeln. Julius Nitschkoff, Lana Cooper und Karin Hanczewski spielen überzeugend, auch wenn die Dialoge oft klingen, als seien sie den Schauspielern beim Dreh spontan in den Sinn gekommen.

Sommerliche Leichtigkeit trifft auf ernstes Thema. Hätte man die gleiche Geschichte in einer grauen Hochhaussiedlung inszeniert, würde man als Zuschauer nach einer halben Stunde zum Strick greifen. Doch der deprimierende Kampf inmitten prekärer Lebensverhältnisse spielt hier in einer lichtdurchfluteten Ferienanlage. Palmen statt Beton machen BULLDOG zu einem interessanten Debütfilm mit guten Schauspielern, der zwischendurch ein wenig lahmt.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Spanien 2021
95 min
Regie André Szardenings

alle Bilder © missingFILMs

AUS MEINER HAUT

AUS MEINER HAUT

Kinostart 02. Februar 2023

Beliebte Frage in weinseliger Runde: Wenn Du für einen Tag mit jemandem den Körper tauschen könntest – wer wäre das? Die langweiligen Antworten reichen von „meine Frau“ über „Beyoncé“ bis „George Clooney“. Was aber wäre, wenn man wirklich in den Körper eines anderen Menschen schlüpfen könnte? Was wäre, wenn es einem da so gut gefällt, dass man gar nicht mehr zurückwill?

Interessantes Gedankenspiel um Genderfragen und Rollenmuster

Leyla (Mala Emde) und Tristan (Jonas Dassler) wirken frisch verliebt. Auf den ersten Blick. Doch Leyla wird von Selbstzweifeln und Depressionen geplagt. Auf Einladung einer Freundin (Edgar Selge – ja genau, Edgar Selge als Freundin) fährt das junge Paar auf eine Insel. Durch ein geheimnisvolles Ritual können die beiden dort ihre Körper mit einem anderen Paar (Maryam Zaree und Dimitrij Schaad) tauschen, um so die Welt aus deren Augen zu sehen.

Klingt nach Science-Fiction, ist aber eine intellektuelle Interpretation des guten alten „Freaky Friday“-Themas. Mit dem Unterschied, dass sich Alex Schaad nicht in die niederen Gefilde einer albernen Verwechslungskomödie begibt. Der Regisseur beschäftigt sich viel mehr mit den zwischenmenschlichen Konsequenzen, die so ein Körpertausch mit sich bringt. Liebt man einen Menschen wegen seines Aussehens oder wegen seines Charakters? Und spielt das Geschlecht dabei eine Rolle?

AUS MEINER HAUT (Drehbuch Alex und Dimitrij Schaad) ist ein interessantes Gedankenspiel um Genderfragen und Rollenmuster. Verpackt in eine Liebesgeschichte, bei der die Identitätsgrenzen verschwimmen und neue Persönlichkeiten entstehen. Ein Fest für Schauspieler, denn sie dürfen innerhalb einer Geschichte in verschiedene Rollen schlüpfen. Mala Emde, Dimitrij Schaad, Maryam Zaree, Thomas Wodianka und Edgar Selge bringen die nötige Ernsthaftigkeit, um der fantastischen Geschichte Bodenhaftung zu geben. Nur Jonas Dassler ist dem Regisseur von der Leine gegangen und overacted, als hätte er sich ins Ohnsorg-Theater verirrt. Positiv erwähnenswert ist neben den stimmungsvollen Bildern von Ahmed El Nagar vor allem der eindringliche Score von Richard Ruzicka.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2023
103 min
Regie Alex Schaad

alle Bilder © X-Verleih

CLOSE

CLOSE

Kinostart 26. Januar 2023

Die 13-Jährigen Léo und Rémi sind die allerbesten Freunde. Ihre Sommertage erfüllt von Wettrennen durch wogende Blumenfelder und kindlichen Ritterspielen im Schuppen hinter dem Hof. Nachts fantasieren sie sich in eine gemeinsame Zukunft, der eine als berühmter Musiker, der andere als sein Manager. Doch mit dem Ende der Sommerferien ändert sich alles.

Das Gift breitet sich in der neuen Schule durch die vermeintlich harmlose Frage einer Mitschülerin aus: „Seid ihr beiden ein Paar?“ Denn es kann nicht sein, dass zwei Jungs eine so enge Bindung haben, ohne dass sie schwul sind. Oder? Andere so zu lassen, wie sie sind, obwohl es nicht ins eigene Weltbild passt, fällt auch Kindern schwer. Es folgen die üblichen Gemeinheiten auf dem Schulhof: „Schwuchtel!“ Léo meidet den Kontakt immer mehr, denn er ist von den Gerüchten zutiefst verunsichert. Um dem klischeehaften Bild von Männlichkeit zu entsprechen, wird er Mitglied einer Hockeymannschaft. Für den sensiblen Rémi bedeutet das Ende der Freundschaft eine Katastrophe.

François Ozon, Xavier Dolan und nun Lukas Dhont. Der 31-jährige Belgier ist eines der Regie-Wunderkinder, wie sie die Filmszene nur alle paar Jahre hervorbringt. Kaum zu glauben, dass CLOSE erst sein zweiter Spielfilm ist. Dhonts Regiedebüt GIRL über einen Transgender-Teenager wurde 2018 mit Preisen überhäuft und war ein großer Erfolg bei Publikum und Kritik. Nun widmet er sich erneut den Qualen der Jugend.

Wie auch immer sich die Karriere des jungen Filmemachers entwickelt, er ist auf alle Fälle ein fantastischer Schauspielführer. Denn was er aus dem gesamten Cast und besonders den beiden Newcomern Eden Dambrine und Gustav De Waele herausholt, ist schlicht phänomenal. CLOSE – eine Geschichte von Liebe und Schuld, ohne jeden falschen Ton erzählt. Ein aufwühlender, wahrhaftiger Film. Ein kleines Meisterwerk.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Close“
Belgien / Frankreich / Niederlande 2022
105 min
Regie Lukas Dhont

alle Bilder © Pandora Film

THE SON

THE SON

Kinostart 26. Januar 2023

Depression: ein ernst zu nehmendes Thema. Gerade bei Jugendlichen. Die oft schamhaft verschwiegene Krankheit kann gar nicht genug mediale Aufmerksamkeit bekommen. Fragt sich nur, ob Regisseur Florian Zeller mit seinem durch und durch künstlich wirkenden Film den Betroffenen einen Gefallen getan hat. Denn THE SON ist das filmische Äquivalent zu einem Coffee Table Book aus der Psychiatrie.

Melodramatik statt Dramatik

Schöne Menschen in schöner Umgebung haben … Probleme. Ja, selbst sehr reiche New Yorker in perfekt eingerichteten Traumwohnungen machen sich beim Tragen frisch gebügelter Hemden Sorgen. Der geschiedene Anwalt Peter (Hugh Jackman) versteht das Verhalten seines 17-jährigen Sohns Nicholas (Zen McGrath) nicht mehr. Der schwänzt seit Wochen die Schule, hat keine Freunde und ist auch sonst ein schwieriger, verschlossener Junge. Für Peter kommen die Probleme mit dem Junior ungelegen, denn er richtet sich gerade ein neues Leben mit seiner Freundin Beth (Vanessa Kirby) und dem frisch geborenen Sohn Theo ein. Doch weil ihn das schlechte Gewissen plagt, bietet er Nicholas an, bei ihm einzuziehen. Er will beweisen, ein besserer Vater zu sein, als es sein eigener war. Der wiederum wird in einem Gastauftritt von Sir Anthony Hopkins als echtes Scheusal von Hannibal Lecterschen Ausmaßen verkörpert.

THE FATHER und THE SON. Zwei Filme über geistige Erkrankungen, die auf Theaterstücken von Florian Zeller basieren. Im Gegensatz zum künstlerisch anspruchsvollen THE FATHER ist dem französischen Regisseur mit seinem zweiten Spielfilm kein großer Wurf gelungen. Alles wirkt überinszeniert und unecht. Selbst gestandene Mimen wie Hugh Jackman spielen, als ständen sie auf einer Theaterbühne. Den papierraschelnden Dialogen kann auch er kein Leben einhauchen. Zudem greift Hans Zimmer in seinem Soundtrack auf penetrante Geigen zurück und erzeugt so Melodramatik statt Dramatik. Die Wendungen, mit denen Zeller in seinem Oscar®-Gewinner THE FATHER noch überraschen konnte, sind hier hohl und erwartbar. Der Regisseur kann sich nicht von seinen erprobten Inszenierungstricks befreien.

Nach dem grandiosen Vorgängerfilm eine echte Enttäuschung.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Son“
GB 2022
122 min
Regie Florian Zeller

alle Bilder © LEONINE

BABYLON – RAUSCH DER EKSTASE

BABYLON – RAUSCH DER EKSTASE

Kinostart 19. Januar 2023

Wer schon mal berauscht war, von welcher Droge auch immer – Adrenalin, Kokain, Serotonin – kennt dieses Gefühl. Die Zeit rast und scheint gleichzeitig stillzustehen. Eine Minute fühlt sich wie eine Stunde an, die Nacht wie ein Moment. „Babylon – Rausch der Ekstase”, der neue Film von Damien Chazelle („La La Land”, „Whiplash”) entlässt einen nach drei Stunden acht Minuten ähnlich betäubt und beschwingt. Amerikanische Zuschauer ließen sich vom Trailer täuschen – ein durchgedrehter Kostümschinken mit Elefant und Jazzmusik? Und blieben dem Epos fern. Sie wissen nicht, was ihnen entgeht.

Was Hollywood prägt: Rassismus, Sexismus, Gier

Allein die ersten dreissig Minuten sind eine Party, bei der man vor lauter Sinneseindrücken kaum Luft bekommt. Doch genau dann, wenn es zu viel der Ekstase wird, legt Chazelle den Schalter um. Der Cast ist vorzüglich, Brad Pitt als verderbt melancholischer Douglas Fairbanks Typ am Ende seiner Karriere und Margot Robbie in der Rolle des süchtigen Starlets, die in ihrer modernen Aufmachung verstört und nicht nur Träumer wie Newcomer Diego Calva magnetisiert.

Chazelle will viel: eine Choreografie wie „Apocalypse Now” und hinter die Kulissen der Industry leuchten wie einst „Boogie Nights”. Er wirft alles in den Ring, was Hollywood immer noch prägt: Rassismus, Sexismus, Gier, sogar Tobey Maguire in einer widerlichen Gastrolle und klärt nebenbei noch ein paar Mythen auf: In der Stummfilmära gab es offenbar mehr Westernfilm-Regisseurinnen als hundert Jahre später, der Mullholland Drive war wirklich nur eine Schotterstraße und Filmkritikerinnen hatten Macht! Was sollen wir sagen: Wir haben uns prächtig amüsiert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Babylon“
USA 2022
188 min
Regie Damien Chazelle

alle Bilder © Paramount Pictures Germany

RACHE AUF TEXANISCH

RACHE AUF TEXANISCH

Kinostart 19. Januar 2023

„Nicht jeder weiße Mann aus New York braucht einen Podcast“ Produzentin Eloise (Issa Rae) ist zunächst wenig begeistert von Bens (B.J. Novak) Idee, die x-te Podcast-Serie über ein ungelöstes Verbrechen zu machen. Doch die Geschichte ist vielschichtiger, als es zunächst den Anschein hat.

Das Porträt einer „typisch“ texanischen Familie

Ben Manalowitz, ein selbstverliebter Redakteur für den renommierten New Yorker, erhält mitten in der Nacht einen Anruf. Abilene ist tot. Ben muss hektisch in seinen Kontakten suchen, um sich zu erinnern, wer Abbie überhaupt war – eine zufällige Sex-Bekanntschaft unter vielen. Doch ihre Familie glaubt, dass Ben die Liebe ihres Lebens war. Von den Tränen der Angehörigen erweicht, reist er nach Texas, nimmt an der Beerdigung teil und hält sogar eine Trauerrede. Abbie ist an einer Überdosis gestorben, doch ihr Bruder Ty (ausgezeichnet: Boyd Holbrook) glaubt, seine Schwester sei ermordet worden. Beweise hat er keine, nur ein Bauchgefühl. Deshalb will er Rache üben, Texas-Style. Ben wittert seine Chance, aus der Geschichte einen True-Crime-Podcast zu machen.

„Rache auf Texanisch“ ist eine Komödie, bei der nicht jeder Gag zündet und ein Krimi, der nur mäßig spannend ist. Aber vor allem – und das ist der interessantere Teil – das Porträt einer „typisch“ texanischen Familie, inklusive Rodeo, Waffenliebe und ungesundem Essen. Gleichzeitig wirft der Film einen Blick auf ein tief gespaltenes Land. Hier die vernünftigen Liberalen an Ost- und Westküste, dazwischen die rotnackigen MAGA-Idioten – so das allgemein verbreitete Klischee.

Ganz rund tickt das Regiedebüt des vor allem aus der US-Serie „The Office“ bekannten Schauspielers B.J. Novak nicht. Hinter vermeintlichen Hobos und Verschwörungsgläubigen verbergen sich mitunter liebenswerte Menschen, bei denen der Blick hinter die Fassade lohnt – eine etwas simple Erkenntnis. Aber der Regisseur und Drehbuchautor beweist ein gutes Händchen für Dialoge und Charakterzeichnung. In Zeiten, in denen Fakten oft als lästig empfunden und gerne für das eigene Narrativ verdreht werden, ist seine Botschaft, sich gegenseitig wieder etwas besser zuzuhören, nicht die schlechteste.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Vengeance“
USA 2022
111 min
Regie B.J. Novak

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

THE BANSHEES OF INISHERIN

THE BANSHEES OF INISHERIN

Kinostart 05. Januar 2023

Frühmorgens aufstehen, die Tiere auf die Weide treiben, nachmittags zwei bis zehn Guiness trinken, abends mit dem Esel schmusen. Es ist nicht gerade viel los auf der abgelegenen Insel Inisherin vor der Westküste Irlands im Jahre 1923. Doch der einfach gestrickte Pádraic ist mit seinem Leben rundum zufrieden. Das Haus teilt er sich mit seiner unverheirateten Schwester Siobhán, seinen besten Freund Colm holt er jeden Tag pünktlich um zwei zum gemeinsamen Biertrinken ab. Bis Colm die Freundschaft urplötzlich kündigt. „Du hast mir nichts getan. Ich kann dich einfach nicht mehr leiden.“ Pádraic versteht die Welt nicht mehr und versucht, seinen Freund umzustimmen. Doch all seine Bemühungen nützen nichts, und als Colm Pádraic ein Ultimatum stellt, eskalieren die Ereignisse mit drastischen Folgen.

„The Banshees of Inisherin“ lässt sich auf vielerlei Arten interpretieren: eine simple Meditation über Männerfreundschaft? Eine Allegorie auf den Bürgerkrieg – einen Bürgerkrieg im Mikrokosmos, der für den damals tobenden irischen Bürgerkrieg im Großen steht? Oder ein Shakespeare-Drama inklusive Helden, Schurken, Hexen und Narren? Obwohl der Film zu großen Teilen aus philosophischen Gesprächen über Freundschaft und das Leben im Allgemeinen besteht, sollte man sich nicht in Sicherheit wiegen. Die vermeintlich sanfte Gleichmut hält ein paar bloody shocking Überraschungen parat.

Das Dreamteam ist zurück: Nach „Brügge sehen … und sterben?“ hat sich Regisseur McDonagh für seine neue Tragikomödie wieder Colin Farrell und Brendan Gleeson vor die Kamera geholt. Daneben sind unter anderem der immer hervorragende Barry Keoghan („Dunkirk“), sowie Kerry Condon (bekannt aus „Better Call Saul“) zu sehen.

Irisch klingt zwar oft wie Klingonisch auf Rückwärts. Trotzdem: Original mit Untertiteln ist ein Muss.
Go raibh maith agat as léamh (Vielen Dank fürs Lesen).

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Banshees of Inisherin“
Irland 2022
109 min
Regie Martin McDonagh

alle Bilder © Walt Disney Studio Motion Pictures GmbH

WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN

WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN

Kinostart 29. Dezember 2022

In einem kleinen Dorf im Westerwald tragen sich seltsame Dinge zu: Immer wenn Selma von einem Okapi träumt, stirbt jemand im Ort. Selmas Enkelin Luise lügt und im gleichen Moment fällt etwas von oben herab. Martin kann im Zug mit geschlossenen Augen sehen, wo die Bahn gerade entlangfährt. Überhaupt das Sehen. Selma sieht nicht, dass der Optiker in sie verliebt ist, obwohl das ganze Dorf Bescheid weiß. Und Luises Vater will nicht sehen, dass seine Frau nicht mehr ihn, sondern den Eisverkäufer liebt.

Das ganze Leben in seiner schleierhaften Sinnlosigkeit

So viele Figuren, so viele Details. Eine Miniserie wäre vielleicht die adäquatere Form für die filmische Umsetzung von Mariana Lekys Bestseller gewesen. Denn über mehrere Folgen erzählt, kann eine Geschichte mal hierhin, mal dorthin abschweifen, während ein Spielfilm komprimieren und notfalls auch Figuren weglassen muss. 

Doch in Lekys Buch geht es ohnehin weniger darum, was, sondern wie es erzählt wird. Regisseur Aron Lehmann hat den Ton des Romans mit der richtigen Mischung aus wunderlicher Verschrobenheit und nötiger Ernsthaftigkeit kongenial eingefangen. Wann immer die Geschichte ins zu Niedliche abzurutschen droht, zieht Lehmann verlässlich die Notbremse und kontert mit trockenem Humor.

„Was man von hier aus sehen kann“ ist ein mit Luna Wedler, Corinna Harfouch und Karl Markovics ausgezeichnet besetzter Film über Liebe, Tod und überhaupt das ganze Leben in seiner Sinnhaftigkeit und manchmal schleierhaften Sinnlosigkeit. Irgendwo zwischen französischer „Amelie“-Leichtigkeit und deutscher Märchenhaftigkeit, herzenswarm und frei von Kitsch inszeniert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
109 min
Regie Aron Lehmann

alle Bilder © STUDIOCANAL

SHE SAID

SHE SAID

Kinostart 08. Dezember 2022

Der verurteilte Sexualstraftäter und Ex-Filmproduzent Harvey Weinstein ist ein echtes Schwein. Über Jahrzehnte missbraucht er Frauen körperlich und emotional. Das Bekanntmachen seiner Vergehen löst zunächst in den USA und später weltweit die #MeToo-Bewegung aus. In ihrem Buch „She Said: Breaking the Sexual Harassment Story That Helped Ignite a Movement“ erzählen die beiden New-York-Times-Journalistinnen Megan Twohey und Jodi Kanto von der Recherche, die den einst mächtigen Miramax-Boss vor fünf Jahren zu Fall bringt. Maria Schrader gibt nun mit der Verfilmung des Sachbuchs ihr US-Regie-Debüt.

Eine fast anämische Aneinanderreihung von Begebenheiten

Hollywood, Skandal, Machtmissbrauch. Das hätte auch schnell ein reißerischer Thriller werden können. Doch „She Said“ ist eine erstaunlich nüchterne, fast anämische Aneinanderreihung von Begebenheiten. Der Film lässt vieles aus – es fehlt eine Erklärung, wer Harvey Weinstein überhaupt ist und welche unangreifbare Machtposition er jahrzehntelang in Hollywood innehat – fokussiert sich auf die beiden Journalistinnen: So leidet Megan Twohey beispielsweise nach der Geburt ihres Kindes unter postpartaler* Depression. Schlimm, aber so what, möchte man sagen – eine Information, die weder besonders geschichtsrelevant ist, noch der Figur nachhaltig Tiefe verleiht.

Ein Vergleich drängt sich auf: „She Said“ ist eine MeToo-Variante von „All the President’s Men – Die Unbestechlichen“. Investigativen Journalisten bei der Arbeit zusehen, kann auch spannend sein. Das beweist Alan J. Pakulas Film über die Watergate-Affäre noch heute, fast 50 Jahre nach seiner Veröffentlichung. Der sehr deutsche Blick von Emmy-Gewinnerin Maria Schrader auf eine US-amerikanische Geschichte ist zwar in Ansätzen erfrischend, doch die Regisseurin verweigert sich in ihrer braven Nacherzählung der Fakten zu sehr den Möglichkeiten des Kinos. Und auch wenn journalistische Recherche im wahren Leben tatsächlich aus vielen Telefonaten bestehen mag: Muss man die alle in einem Kinofilm zeigen?

Kitty Green hat mit „Die Assistentin“ vor zwei Jahren den eindringlicheren und besseren Film zum Thema gemacht.

* Mansplaining mit Framerate: Mit postnatal beschreibt man die Zeit nach der Geburt, bezogen auf das Kind. Mit postpartal hingegen meint man den Zeitraum nach dem Gebären, bezogen auf die Mutter. Somit ist hier die medizinisch korrekte Bezeichnung „Postpartale Depression“.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „She Said“
USA 2022
133 min
Regie Maria Schrader

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

CALL JANE

CALL JANE

Kinostart 01. Dezember 2022

Joy ist schwanger. Doch etwas stimmt nicht. Immer wieder wird ihr schwindlig, verliert sie das Bewusstsein. Der Arzt rät zu einem Schwangerschaftsabbruch, da sonst Lebensgefahr bestehe. Das Problem: Ende der 60er-Jahre sind Abtreibungen in den USA verboten und der rein männlich besetzte Klinikvorstand lehnt den Eingriff ab. Die Lage scheint aussichtslos, bis Joy auf eine illegale Gruppe trifft. Die „Janes“ helfen Frauen, ungewollte Schwangerschaften zu beenden und notfalls vor Gericht zu ziehen. Joy wird Teil des Untergrundkollektivs.

Ein wichtiges Thema, gerade in Zeiten, in denen das Recht auf Abtreibung in vielen Ländern wieder zur Diskussion steht (im Juni diesen Jahres wurde das generelle Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch in den USA abgeschafft). Umso bedauerlicher, dass „Call Jane“ nicht richtig packt. Phyllis Nagy, die schon das Drehbuch zu Todd Haynes „Carol“ geschrieben hat, interessiert sich in ihrem Regiedebüt überraschend wenig für die aufkommende Frauen- und Hippiebewegung in den USA. Ihr eher konventioneller, zu netter Film fokussiert sich hauptsächlich auf die Frage: Finden Joys Ehemann und Tochter heraus, dass sich Mutti mit gesetzlosen neuen Freundinnen umgibt?

„Call Jane“ ist solide, gut gespielte, aber letztendlich biedere US-Ware. Einen weitaus besseren Film zum Thema hat die Französin Audrey Diwan mit „Das Ereignis“ gemacht, der im März diesen Jahres in den Kinos lief.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Call Jane“
USA 2022
121 min
Regie Phyllis Nagy

alle Bilder © DCM

CLOUDY MOUNTAIN

CLOUDY MOUNTAIN

Kinostart 01. Dezember 2022

Eine riesige Berglandschaft im Südwesten Chinas droht zu kollabieren. Nur der clevere Sprengstoffexperte Yizhou kann gemeinsam mit seinem Vater die Menschheit vor einer Katastrophe retten.

Die Helden sind tapfer, stark und exzellente Multitasker

„Cloudy Mountain“ ist Chinas Antwort auf Dwayne-Johnson-Filme, nur ohne The Rock. Die Großmeister der Kopie haben einen Actionblockbuster produziert, der mehr physikalische Grenzen ignoriert als „San Andreas“ und „Skyscraper“ zusammen. Stürze in einem Bus in ein tiefes Erdloch? Freeclimbing an einer regennassen Felswand? Ein zehn Meter Hechtsprung durch die Luft, um an den Kufen eines vorbeifliegenden Helikopters zu landen? Alles kein Problem, denn die Helden sind tapfer, stark und exzellente Multitasker. Die Krönung ist eine Szene, in der der Hauptdarsteller einen Jeep mit Höchstgeschwindigkeit durch eine enge Serpentinenstraße steuert, während er hoch komplizierte mathematische Gleichungen in seinen Computer hämmert und es um ihn herum hausgroße Felsbrocken regnet. Auf Mensch und Technik ist eben Verlass. Internet ist immer und überall verfügbar, im Reich der Mitte scheint es flächendeckend stabiles Netz zu geben. 5 G sogar im Erdinneren – davon kann unsereins nur träumen.

„Cloudy Mountain“ ist ein Propagandafilm, in dem Sätze wie „Vertrauen Sie der Partei und der Regierung“ fast im Allgemeinlärm untergehen. Auf der Filmdatenbank IMDb hat das Katastrophenepos derart viele 10 von 10 Punkte Jubelbewertungen bekommen, dass man sich fragt, ob Xi Jinping hier persönlich nachgeholfen hat.

Wer über die teils lachhafte Handy-Videospiel-Qualität der Spezialeffekte spotten möchte – bitte schön. Unterhaltsam ist die rasante Achterbahnfahrt trotzdem. In einer Art Rudis Resterampe der Katastrophenfilme werden immer grotesker werdende Actionszenen aneinandergereiht, es bleibt kaum Zeit zum Luftholen. Überwältigungskino in Reinform.

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Originaltitel „Feng Bao“
China 2021
115 min
Regie Li Jun

alle Bilder © PLAION PICTURES GmbH

BONES AND ALL

Kinostart 24. November 2022

Das Rückgrat geknickt,
Die Knochen zerknackt,
Die Schenkel gespickt,
Die Lebern zerhackt.

Joachim Ringelnatz beschreibt in seinem Gedicht „Silvester bei den Kannibalen“ genau wie’s geht. Derlei Anleitung könnte auch Maren gut gebrauchen, denn sie ist seit Kindesbein scharf auf Menschenfleisch. Als sich pünktlich zu ihrem 18. Geburtstag ihr Vater aus dem Staub macht, begibt sie sich auf die Suche nach ihrer verschollen geglaubten Mutter – ein Roadtrip quer durch die Vereinigten Staaten der Reagan-Ära. Unterwegs trifft sie Gleichgesinnte (man kann sich gegenseitig erschnuppern) und findet im Wild Boy Lee ihre erste große Liebe. Liebe unter Kannibalen. Schön.

Regisseur Luca Guadagnino ist ein Meister der Stimmung

„Bones and All“ würde in der modernen Gastronomie wohl „Nose to Tail“ heißen. Denn in der Adaption von Camille Deangelis’ Jugendroman geht es (auf den ersten Blick) genau darum: das Verspeisen von Menschen mit Haut und Haar. Regisseur Luca Guadagnino hat sich dafür erneut Timothée Chalamet vor die Kamera geholt und der macht, was er am besten kann: mit niedlichem Hundeblick unter der Lockenfrisur hervorschauen und sexuelle Ambivalenz verströmen. Sehr putzig auch Oscarpreisträger Mark Rylance als gruselig-irrer Körperfresser mit Prinzipien: Ihm kommen nur bereits Verstorbene auf den Teller. Die Hauptrolle ist mit Taylor Russell besetzt, die schon im sträflich vom Publikum ignorierten Coming-of-Age-Drama „Waves“ begeistern konnte.

Was dem Immobilienmakler „Locatio, Location, Location“, ist für Luca Guadagnino „Mood, Mood, Mood“. Die Filme des italienischen Regisseurs sind in erster Linie perfekt eingefangene Atmosphäre, weniger klassisch erzählte Geschichte. Wer wollte nach „Call Me by Your Name“ nicht sofort die Koffer packen und einen sonnenflirrend verliebten Urlaub im Süden verbringen? Ein Meister der Stimmung also. Mit „Bones and All“ hat er nun einen – sich selbst vielleicht etwas zu ernst nehmenden – romantischen Arthousefilm mit Horrorelementen gedreht. Top besetzt, zwischendurch mit Längen, aber insgesamt sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Bones and All“
Italien / USA 2022
131 min
Regie Luca Guadagnino

alle Bilder © Warner Bros. Pictures (international)

BEAUTIFUL BEINGS

Kinostart 10. November 2022

Für den 14-jährigen Balli läuft es denkbar schlecht: Er lebt mit seiner drogenabhängigen Mutter in einem runtergekommenen Haus, ein Auge wurde ihm „versehentlich“ vom Stiefvater weggeschossen, in der Schule wird er regelmäßig gemobbt. Kein schönes Leben. Als Balli die gleichaltrigen Addi, Konni und Siggi kennenlernt, entwickelt sich langsam eine Freundschaft zwischen den vier Jungs.

Was ist wahre Freundschaft?

Der Film des isländischen Regisseurs wirkt wie eine zeitgemäße Interpretation von „Stand By Me“. Nur um einiges rougher und näher an der Wirklichkeit. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Zu Hause dominieren die Väter, durchweg Loser, vom Trinker bis zum brutalen Schläger ist alles dabei. Auf der anderen Seite steht die pubertäre Grenzen austestende Freundschaft zwischen den Jungs, die immer wieder überraschend zärtliche Momente hat.

„Beautiful Beings“ wirft interessante Fragen auf: Was ist wahre Freundschaft? Wie lässt sich der eigene Weg finden? Und können beste Freunde schlechten Einfluss nehmen? Regisseur Guðmundsson ist ein bewegendes, in stimmungsvollen Bildern gedrehtes Coming-Of-Age-Drama mit vier tollen Newcomern geglückt. „Berdreymi“ wird im kommenden Jahr von Island ins Rennen um den Oscar für den besten internationalen Film geschickt.

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Originaltitel „Berdreymi“
Island / Dänemark / Schweden / Niederlande / Tschechische Republik 2022
123 min
Regie Guðmundur Arnar Guðmundsson

alle Bilder © Salzgeber

AMSTERDAM

Kinostart 03. November 2022

Anstrengend! Überladen! Nicht so clever, wie er glaubt zu sein! Selten wurden große Stars derart verheizt! Keine Chemie! Totalausfall! Die Kritik ist sich in ihrem vernichtenden Urteil ziemlich einig: David O. Russells neuer Film ist ein kolossaler Flop.

Drama, Screwball-Komödie, Thriller

Die Geschichte von den beiden verwundeten Soldaten, die am Ende des Ersten Weltkriegs eine Krankenschwester kennenlernen, um dann mit ihr gemeinsam eine unvergessliche Jules und Jim-Zeit in Amsterdam zu verbringen, sei von Anfang an von allem zu viel. Drama, Screwball-Komödie, Thriller, Kriegsfilm: Wie soll das zusammenpassen? Erst als sich die Handlung ins New York der 1930er-Jahre verlegt und die drei Freunde einer (wahren) Verschwörung auf die Spur kommen, die das Schicksal der ganzen Welt beeinflussen könnte, finde der Film Tritt, aber dann sei es schon zu spät. So die seltsame, nicht nachvollziehbare Meinung der Kritiker.

Der Film erzählt eine Geschichte – und dass die mal lustig, mal dramatisch ist und auch einmal kurz im Krieg spielt – na und? Sicher, ein paar Kürzungen hätten nicht geschadet, denn 134 Minuten klingen nicht nur lang, sie sind es auch. Aber sich über eine abwechslungsreiche Handlung zu echauffieren, das klingt eher wie eine persönliche Abrechnung mit dem Regisseur.

„Amsterdam“ beginnt stark, schwächelt ein bisschen in der Mitte und fängt sich dann wieder zum Ende. Die Namen aller mitspielenden Stars aufzulisten, würde zu weit führen, aber Christian Bale, John David Washington, Margot Robbie und Chris Rock seien genannt. Und natürlich Robert DeNiro, Rami Malek und Anya Taylor-Joy. Und nicht zu vergessen Taylor Swift. Russel hat große Namen zusammengetrommelt und liefert einen stellenweise lustigen, fast hitchcockschen Thriller mit herausragender Ausstattung, toller Kamera und einem spielfreudigen Mega-Cast.

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Originaltitel „Amsterdam“
USA 2022
134 min
Regie David O. Russell 

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

WIR SIND DANN WOHL DIE ANGEHÖRIGEN

Kinostart 03. November 2022

Es war einer der spektakulärsten Kriminalfälle Deutschlands: Am 25. März 1996 wurde um 20.20 Uhr der Publizist und Mäzen Jan Philipp Reemtsma in Hamburg-Blankenese entführt. Erst nach 33 Tagen Gefangenschaft und einer Lösegeldzahlung von 30 Millionen D-Mark wurde er wieder freigelassen. Bis dahin hielten sich Presse, Radio und Fernsehen an eine vereinbarte Nachrichtensperre, sodass die Öffentlichkeit erst im Nachhinein von dem Verbrechen erfuhr. Die Entführer waren ausnahmsweise keine Angehörigen der RAF, sondern ganz gewöhnliche Gangster. Zwei Jahre später wurden sie gefasst, vom Großteil des Lösegelds fehlt bis heute jede Spur.

Kein Kitsch, keine billige Spannung, kein Schnickschnack

Über die Erinnerungen der unheilvollen Tage des Wartens hat Johann Scheerer 2018 ein Buch geschrieben: „Wir sind dann wohl die Angehörigen – Die Geschichte einer Entführung“. Das Drama aus der Perspektive des damals erst 13-jährigen Sohns Johann. Hans-Christian Schmid hat aus diesem autobiografischen Bestseller jetzt einen Film gemacht – und was für einen! Kein Kitsch, keine billige Spannung, kein Schnickschnack. Mit Hans Löw, Justus von Dohnányi, Adina Vetter und Newcomer Claude Heinrich inszeniert der Regisseur eine Art Kammerspiel (ein Großteil der Handlung spielt im Haus der Familie Reemtsma/Scheerer), das die nervenzerreißende Anspannung, das bange Hoffen, das stümperhafte Vorgehen der Polizei und die gescheiterten Lösegeldübergaben auf nüchterne, sachliche Art zeigt, ohne dabei emotionslos zu sein.

„Wir sind dann wohl die Angehörigen“ fokussiert sich – der Titel legt es nah – auf Reemtsmas Frau Ann-Kathrin Scheerer und den gemeinsamen Sohn Johann. Von einer Sekunde auf die andere wird der Familienalltag auf den Kopf gestellt, Polizisten ziehen ins Haus ein, Post und Telefon werden dauerüberwacht. Zwischen gescheiterten Geldübergaben erreichen die Angehörigen die verzweifelten Briefe des Entführten. In all dem Chaos muss sich der pubertierende Junge zurechtfinden, während seine Mutter langsam zu zerbrechen droht.

Der beste Tatort, der kein Tatort ist

Sparsamer Musikeinsatz (hervorragend: The Notwist), punktgenaue Ausstattung und in ruhigen, unaufdringlichen Bildern erzählt – wenn man einen Kriminalfilm macht, dann bitteschön so! Obwohl der (gute) Ausgang der Geschichte bekannt ist, bleibt „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ fesselnd von der ersten bis zur letzten Minute. Wer sich über die Opferperspektive informieren will, dem sei Jan Philipp Reemtsmas Buch „Im Keller“ empfohlen.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
118 min
Regie Hans-Christian Schmid

alle Bilder © Pandora Film, 23/5

WAS DEIN HERZ DIR SAGT – ADIEU IHR IDIOTEN!

Kinostart 20. Oktober 2022

Endlich mal wieder ein Film mit ellenlangem deutschen Verleihtitel. „Was Dein Herz Dir sagt – Adieu Ihr Idioten!“. Kann man machen, ist aber umständlich und kostet Zeit.

Ein knackiges „Adieu ihr Idioten!“ tut es doch auch und ist gleichzeitig der (vermeintliche) Abschiedssatz des Sicherheitsexperten JB (gespielt von Regisseur Albert Dupontel), bevor er sich mit einem Gewehr ins Jenseits befördern will. Bei seinem missglückten Selbstmordversuch ist zufälligerweise die Friseurin Claire anwesend, die „an einer Dauerwelle“ stirbt – So jedenfalls ihre Diagnose. Das Einatmen von zu viel Haarspray hat eine schwere Atemwegserkrankung ausgelöst, Claires Tage sind gezählt. Vor ihrem Tod will sie aber noch unbedingt ihren Sohn wiederfinden. Den hat sie mit fünfzehn zur Welt gebracht und im jugendlichen Wahn zur sofortigen Adoption freigegeben. Bei der gewünschten Familienzusammenführung achtundzwanzig Jahre später braucht sie die Hilfe von JB und dem blinden Archivar Monsieur Blin.

Regisseur Albert Dupontel bezeichnet seine Dramödie selbst als „burlesk“. Das klingt nach Ohnsorg-Theater. Aber die schräge Mischung aus Drama und Komödie ist näher an Terry Gilliam als an Heidi Kabel. Vor allem visuell ist der Film ambitioniert. Buntes Licht und im Studio gedrehte „Außenaufnahmen“ verstärken das leicht Surreale der Geschichte. So ganz rund tickt das dramatische Uhrwerk allerdings nicht – es gibt ein paar nicht zündende Witze zu viel – doch vor allem Virginie Efira als sterbenskranke Suze bewahrt den Film, allzu sehr ins Alberne abzudriften.

Wenn Vergleiche unbedingt sein müssen, dann ist „Was Dein Herz Dir sagt – Adieu Ihr Idioten!“ eine Mischung aus „Die wunderbare Welt der Amelie“, Godards „Breathless“ und sympathisch spinnertem Kunst-Drama mit französischem Charme. So oder so ein Film abseits der Norm, erfrischend anders und deshalb sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Adieu Les Cons“
Frankreich 2020
87 min
Regie Albert Dupontel

alle Bilder © Happy Entertainment 

DER PASSFÄLSCHER

Kinostart 13. Oktober 2022

Auf der Berlinale 2022 lief im Wettbewerb viel mediokre Kost und quälende Kunst, die besseren Filme (so wie dieser) wurden in den Nebenprogrammen versteckt. Ein Trend in Fortsetzung. Schon im vergangenen Jahr folgte das Wettbewerbsprogramm zu sehr dem Kopf und weniger dem Herzen.

Das wiederum kann man von Cioma Schönhaus nicht behaupten: Der junge Mann ist ein wahrer Herzensmensch und läuft mit bester Laune durchs Leben. Obwohl er als Jude in Nazideutschland allen Grund zur Verzweiflung hätte. Vom sogenannten 3. Reich lässt er sich die Laune aber nicht verderben.

„Der Passfälscher“ erzählt die wahre Geschichte vom begnadeten Grafiker Cioma, der dank seiner Fähigkeiten wiederholt der Gestapo entkommen und gerade noch rechtzeitig in die Schweiz entfliehen kann. Mit ausgezeichneter Besetzung (Luna Wedler, Louis Hofmann – der ausnahmsweise mal nicht blank zieht – und Jonathan Berlin) hat Regisseurin Maggie Peren einen oft vergnüglichen, im besten Sinne leichten Film über Chuzpe und Hoffnung in düsteren Zeiten gedreht. Nicht die Neuerfindung des Kinos, aber doch sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Luxemburg 2022
116 min
Regie Maggie Peren

alle Bilder © X Verleih

HORIZONT

Kinostart 06. Oktober 2022

Die Jugend von heute lässt sich leicht in zwei Kategorien unterteilen: Zum einen die spaßbesessenen TikTok-Junkies, deren Leben ein einziges LIKE ist, zum anderen die betroffenen Gretas und Lisas, bei denen die Welt kurz vor dem Untergang steht. Dumme Oberflächlichkeit vs. politisches Engagement. Oder geht doch beides zusammen? Diese tiefschürfende Frage stellt Emilie Carpentiers Film „Horizont“.

Die 18-jährige Adja (das Beste am ganzen Film: Tracy Gotoas) wohnt in einem Hochhausgetto am Rande der Stadt, direkt dahinter beginnt das weite Land mit Feldern und Ackerbau. Ausgerechnet dort soll nun ein kapitalistisches Albtraumprojekt entstehen. Die Regierung plant, die Bauern zu enteignen, um den größten Freizeitkomplex Europas zu bauen. Eine Gruppe von Aktivisten hat das Ackerland besetzt und es in eine „Zone zum Schutz vor umweltschädlicher Nutzung“ verwandelt. Unter den Aktivisten ist auch Arthur, den Adja zunächst als Hippie verspottet, um sich dann natürlich doch in ihn zu verlieben…ein hübscher junger Mann mit Werten: Wer kann da schon widerstehen?

Emilie Carpentiers Film ist von guter Absicht durchdrungen, aber die aufbegehrende junge Fridays for Future-Generation wird man mit so einer Schmonzette nicht erreichen. Gut gemeint ist eben nicht gleich gut gemacht. „Horizont“ fühlt sich wie eine französische Episode von „GZSZ“ an: zu platt, zu unglaubwürdig und vor allem mit jeder Menge skizzenhaft gezeichneter Klischeecharaktere bevölkert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „L’Horizon“
Frankreich 2021
84 min
Regie Emilie Carpentier

alle Bilder © Arsenal Filmverleih 

RIMINI

Kinostart 06. Oktober 2022

Werner Böhm und Rex Gildo können davon kein Lied mehr singen: Wenn sich Schlagerstars nicht gerade durch übermäßigen Alkoholkonsum zugrunde richten oder aus dem Badezimmerfenster springen, dann enden sie entweder im Möbelmarkt oder am Ballermann. Nicht viel besser ist das Schicksal von Richie Bravo, der muss sein Geld als Sänger in Rimini verdienen.

Die besten Jahre liegen schon lange hinter ihm, das Jackett passt nur noch mit Mieder und sein Repertoire gibt er mittlerweile in Hotelhallen zum Besten. Doch Richie weiß, was Fans (und Frauen) wünschen: viel öligen Charme und reichlich körperliche Zuwendung. So könnte das noch ewig weitergehen. Doch eines Tages steht seine erwachsene Tochter vor ihm und verlangt Geld, denn Papa hat sich seit 18 Jahren nicht gemeldet, geschweige denn Unterhalt gezahlt.

Was ist der Superlativ von deprimierend? Rimini im Winter. Eine Stimmung, die der österreichische Film von Ulrich Seidl perfekt einfängt. Trauriger Ort, trauriger Typ: Richie Bravo ist ein Wrack, er säuft und raucht Kette. Bemitleidenswerte Auftritte vor greisem Publikum wechseln sich mit wenig erbaulichen Sexszenen ab, in denen Richie ältere Damen beglückt: Fanservice der besonderen Art. Daneben erzählt „Rimini“ die wie ein Fremdkörper wirkende Nebengeschichte von Richies dementem Vater, der in einem Pflegeheim dahinvegetiert und alte Nazilieder singt. Dank grandiosem Hauptdarsteller tragisch und lustig zugleich.

INFOS ZUM FILM

Österreich / Frankreich / Deutschland 2022
114 min
Regie Ulrich Seidl

alle Bilder © Neue Visionen Filmverleih

PETER VON KANT

Kinostart 22. September 2022

François ❤️ Rainer Werner. Nach der kongenialen Verfilmung des Fassbinder-Theaterstücks „Tropfen auf heiße Steine“ (2000) feierte in diesem Jahr Ozons Interpretation des 1972 entstandenen Films „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ Premiere bei der Berlinale.

Peter von Kant ist ein erfolgreicher Filmregisseur und ein echtes Scheusal. Seinen stummen Diener und Assistenten Karl behandelt er wie Dreck. Eines Tages lernt er den jungen Amir kennen. Peter verliebt sich unsterblich in den sexy 24-Jährigen. Er will Amir eine Karriere im Filmgeschäft ermöglichen, lädt ihn ein, bei sich zu wohnen. Neun Monate später ist aus dem schüchternen Jungen ein manipulativer, launischer Star geworden, der sich bald darauf von Peter trennt. Der Regisseur leidet.

„Peter von Kant“ ist ein echter Ozon – stilsicher, artifiziell und ungewöhnlich. Anders als in Fassbinders Film ist hier die Titelrolle männlich besetzt. Das beschert der Geschichte vom cholerischen Filmregisseur eine neue Ebene, denn Peter von Kant ist ganz offensichtlich dem echten Fassbinder nachempfunden. Hanna Schygulla, die auch im Original mitspielt, hat hier einen Gastauftritt als Mutter des Regisseurs. Die Titelrolle ist mit Denis Ménochet besetzt, der bereits zweimal für Ozon vor der Kamera stand.

Dramatisches Theater: François Ozon hat ein etwas zu wortreiches (weniger euphemistisch: geschwätziges), aber ausgezeichnet gespieltes Kammerspiel inszeniert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Peter von Kant“
Frankreich 2021
84 min
Regie François Ozon

alle Bilder © MFA+ FilmDistribution

ATLANTIDE

Kinostart 08. September 2022

Bunt beleuchtete Motorboote fahren mit lauter Musikbeschallung durch nächtliche venezianische Kanäle. Das sieht zwar hübsch aus, ist für die Anwohner aber wahrscheinlich genauso enervierend wie die monströsen Kreuzfahrtschiffe, die bis vor Kurzem viel zu dicht an der Lagunenstadt vorbeiziehen durften. Regisseur Yuri Ancarani hat sich der eigenwilligen Szene aus jungen Männern und ihren Speedbooten drei Jahre lang angeschlossen und einen semi-dokumentarischen Film über sie gedreht.

„Atlantide“ könnte auch als Videoinstallation in einer Galerie oder als visuelle Begleitung einer Trance/Technoparty laufen. Dieser Stil kommt nicht von ungefähr, Yuri Ancarani ist ein italienischer Künstler, der sich komplett einer klassischen  Dramatik verweigert. Damit erinnert sein Film an Arbeiten des US-Regisseurs Larry Clark. Auch hier ist die Handlung eher eine dahingestreute Skizze von Liebe, Sehnsucht und Tod. Weil man es kaum besser beschreiben könnte, hier ein Auszug aus dem Pressetext:

„Dies ist kein Film über Venedig (…), sondern über seine „Backstreets“, die weiten Wasserwege der Lagune. Ancarani findet dort die seltene Schönheit einer kristallklaren Landschaft, die von einer Gruppe junger Leute bewohnt wird, deren Lebensinhalt es ist, Speedboote aufzumotzen und in einem Rhythmus aus Adrenalin und Chill-out zu leben.“

„Im Rhythmus aus Adrenalin und Chill-out leben“! Wer will das nicht? Weniger lyrisch ausgedrückt: „Atlantide“ ist ein audio-visuelles Erlebnis, ein softer LSD-Trip, untermalt von einem treibenden elektronischen Soundtrack, Hip-Hop und symphonischer Orchestermusik. Die stärkste Szene des Films (siehe Trailer unten) zeigt ein junges Mädchen, das im Drogenrausch auf einem Schnellboot durch das nächtliche Venedig gefahren wird und sich dazu ekstatisch bewegt. Aufregender wird es auch in den restlichen 100 Minuten nicht, darauf muss man sich einlassen wollen.
Jetzt noch mal in poetisch: „Atlantide“ ist ein kunstvoller Fiebertraum aus Musik, Licht und Farben.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Atlantide“
Italien / Frankreich / USA / Qatar 2021
104 min
Regie Yuri Ancarani

alle Bilder © Rapid Eye Movies

MIT 20 WIRST DU STERBEN

Kinostart 25. August 2022

Muzamils Uhr tickt, denn „Gottes Befehl ist unausweichlich“. Kurz nach der Geburt prophezeit ein Imam Muzamils Mutter, der Junge werde mit 20 sterben. Vor Schreck verabschiedet sich der Vater auf Nimmerwiedersehen und die Mutter trägt fortan schwarz.

Im Dorf ist Muzamil der Todgeweihte, die Mitschüler reiben ihn mit Asche ein und „beerdigen“ ihn schon mal probehalber in einer Metallkiste. Nur Naima ist sich schon früh sicher, dass Muzamil ihr Mann fürs Leben wird.

Die Freundschaft mit dem weit gereisten Sulaiman öffnet Muzamil ein Jahr vor seinem 20. Geburtstag neue Perspektiven, sein bisheriges Weltbild gerät ins Wanken: Es gibt eine Alternative zum Aberglauben, er hat es selbst in der Hand. Regisseur Amjad Abu Alala sieht sein Regiedebüt als eine Einladung für die Freiheit: „Nichts und niemand kann dir jemals sagen: Das ist dein Schicksal. Du musst selber entscheiden, wie dein Leben sein wird.“

Die lakonische Coming-of-Age-Story ist erst der achte im Sudan produzierte Film überhaupt. Zwischendurch etwas schwerfällig, punktet das fast dokumentarische Drama mit magischen Bildern und gibt einen ungewohnten Einblick in ein vom Bürgerkrieg zerrissenes Land. Bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig gewann „Mit 20 wirst Du sterben“ den Preis als bester Debütfilm.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „You Will Die at Twenty“
Sudan / Ägypten / Deutschland / Frankreich / Katar / Norwegen 2019
103 min
Regie Amjad Abu Alala

alle Bilder © missingFILMs

DER ENGLÄNDER, DER IN DEN BUS STIEG UND BIS ANS ENDE DER WELT FUHR

Kinostart 11. August 2022

Pensionär Tom begibt sich auf eine lange Fahrt vom äußersten Norden Schottlands zum südlichsten Punkt Englands, Land’s End. Es ist eine finale Reise in die Vergangenheit, kürzlich verwitwet und nun selbst dem Tode nahe, hat der 90-Jährige noch eine letzte Angelegenheit zu erledigen. Als alter Sparfuchs benutzt er ausschließlich Öffis, denn mit denen dürfen Rentner in Großbritannien dank eines „Freifahrtausweises“ umsonst fahren. Wie das bei einem Roadmovie so ist, lernt Grumpy Cat Tom unterwegs allerhand Menschen kennen.

Klingt dröge, ist es über weite Strecken auch. Ein alter Herr, der von einem Bus in den nächsten steigt. Auch die Begegnungen unterwegs sind ausgesprochen vorhersehbar und wenig aufregend. Die Welt besteht nur aus hundsgemeinen Fieslingen und zuckersüßen Engeln. Ganz normale Menschen haben zugegebenermaßen deutlich weniger Unterhaltungswert, eine Fahrt mit der BVG ist der beste Beweis dafür.

DER ALTE MANN UND DER BUS

DER HUNDERTJÄHRIGE, DER IN DEN BUS STIEG UND EINSCHLIEF

9 € TICKET - DER FILM

Es hätte viele bessere Titel für „The Last Bus“ gegeben. Deshalb schon mal Punktabzug für den dämlichen, an Jonas Jonassons Bestseller anbiedernden deutschen Verleihtitel. „Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr“ ist zwar inhaltlich richtig, aber schon gefährlich nah am Spoiler, denn viel mehr passiert in den 86 Minuten nicht. In der plumpen Metapher vom „Leben als Reise“ bleibt der brillante Hauptdarsteller Timothy Spall das einzig Sehenswerte.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Last Bus“
GB 2021
86 min
Regie Gillies MacKinnon

alle Bilder © Capelight Pictures

WARTEN AUF BOJANGLES

Kinostart 04. August 2022

Vom Song „Mr. Bojangles“ existieren etliche Cover-Versionen, das Original stammt von Jerry Jeff Walker aus dem Jahr 1968. In Régis Roinsards Film wird der Welthit nun von Marlon Williams neu interpretiert. Framerate kann auch Formatradio, deshalb hier die Top Four aus vier Jahrzehnten:

Camille – oder Antoinette, wer nimmt das schon so genau, denn „ein Name für ein ganzes Leben ist zu langweilig“ – und Georges verlieben sich Ende der 1950er-Jahre Hals über Kopf ineinander. Neun Monate später kommt ihr Sohn Gary zur Welt. Die unkonventionelle Kleinfamilie lebt zwischen Realitätsverweigerung (Briefpost bleibt grundsätzlich ungeöffnet) und einer Welt voller Fantasie und Poesie. Bei den allabendlichen Cocktailpartys mit Dutzenden von Gästen führt der mittlerweile 10-jährige Gary Erwachsenengespräche und seine Eltern tanzen zu „Mr. Bojangles“. Ein Tanz am Abgrund, denn während George einen Rest Bodenhaftung behält (er geht jeden Tag zur Arbeit in seine Autowerkstatt), entgleitet Camille zusehends in manische Depressionen und wird bald eine Gefahr für sich und andere. Eine Einweisung in die psychiatrische Klinik scheint unausweichlich.

Dass es „Warten auf Bojangles“ in dieser Version gibt, ist der Frau des Regisseurs zu verdanken, denn die sagte, nachdem sie das Buch gelesen hatte: „Wenn Du daraus keinen Film machst, verlasse ich Dich.“ Ihr Wunsch war ihm Befehl. Mit der Verfilmung des Romans von Olivier Bourdeaut knüpft Régis Roinsard an den leicht slapstickartigen Retro-Ton seines Erfolgsfilms „Mademoiselle Populaire“ an (ebenfalls mit Romain Duris in der Hauptrolle). 

Vor allem zu Beginn ist der Geist von „Die fabelhafte Welt der Amélie“ zu spüren. Farbenfroh, leicht versponnen und sehr französisch – eine idealisierte Welt mit imposanter Ausstattung am Rande des Kitsches. Doch im Gegensatz zu Jean-Pierre Jeunets Klassiker kippt „Warten auf Bojangles“ in der zweiten Hälfte in ein handfestes Drama, in dem vor allem Virginie Efira als Camille ihre schauspielerischen Fähigkeiten entfalten kann. „Warten auf Bojangles“ ist eine etwas zuckrige Dramödie, tonal irgendwo zwischen „Amélie“ und „Betty Blue“, die sich gegen Ende ein wenig zieht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „En attendant Bojangles“
Frankreich / Belgien 2021
124 min
Regie Régis Roinsard

alle Bilder © STUDIOCANAL

DIE MAGNETISCHEN

Kinostart 28. Juli 2022

Eine Provinzstadt in der Bretagne 1981: Zwei Brüder betreiben einen Piratensender – der selbstbewusste Jérôme moderiert, der jüngere Philippe besorgt die Technik im Hintergrund. Zum Geld verdienen arbeiten die Beiden in der Autowerkstatt ihres Vaters. Mit dem Alten liegt Jérôme allerdings im Dauerstreit. Philippe quälen ganz andere Sorgen – ihm droht der Militärdienst in Berlin. Und dann ist er auch noch unsterblich in die Freundin seines Bruders verliebt.

Die (fast schon vergessenen) gelben Autoscheinwerfer, ein paar unvorteilhafte Frisuren und viel analoge Radiotechnik – Regisseur Vincent Maël Cardona lässt die frühen 80er in Frankreich wieder lebendig werden. „Die Magnetischen“ spricht nicht nur das Auge, sondern besonders das Gehör an. Philippe ist viel mehr als einer, der nur die neusten Platten von Joy Division und Iggy Pop auflegt und das Mischpult bedient. Klänge und Musik sind für den schüchternen 20-Jährigen ein Sprachersatz.

Der Höhepunkt des Films spielt in einem Berliner Radiostudio – von dort will Philippe ein Grußwort an seine Freundin senden. Doch ihm versagt die Stimme. Stattdessen kreiert er in einer wilden Spontan-Performance mit an Kabeln schwingenden Mikrofonen, Kaffeetassen auf Plattentellern und handgemachten Samples eine grandiose Live-Sound-Installation.

„Die Magnetischen“ ist eine Liebeserklärung an die Jugend und das Leben. Die Botschaft: Halte dein inneres Feuer am Brennen, höre auf dein Herz und lass dich nicht von gesellschaftlichen Normen erdrücken. Wie wahr. Regisseur Cardona ist mit seinem ersten Film ein kleines Wunder gelungen. Melancholisch schön und mit drei aufregenden Jungschauspielern besetzt. „Les Magnétiques“ gewann den César als bester Debütfilm, Hauptdarsteller Thimotée Robart wurde als bester Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Les Magnétiques“
Frankreich / Deutschland 2021
98 min
Regie Vincent Maël Cardona

alle Bilder © Port au Prince Pictures

MEINE STUNDEN MIT LEO

Kinostart 14. Juli 2022

Peter Rühmkorf dichtete 1971 auf der legendären Kinderplatte Warum ist die Banane krumm?: „Licht aus, Licht aus, Mutter zieht sich nackend aus, Vater holt den Dicken raus, einmal rein, einmal raus, fertig ist der kleine Klaus.“ Das dürfte Nancy Stokes unangenehm bekannt vorkommen. Die Lehrerin im Ruhestand hatte mit ihrem mittlerweile verstorbenen Ehemann nur stinklangweiligen Blümchensex. Einen Orgasmus hatte sie dabei nie. Beziehungsweise hatte sie überhaupt noch nie einen. Das soll sich jetzt mithilfe des jungen Sexarbeiters Leo Grande ändern.

Sophie Hydes Film schafft mit Leichtigkeit, was Karoline Herfurth kürzlich mit ihrem Klischeefest „Wunderschön“ versucht hat: eine lockere und gleichzeitig ernste Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit und missverstandenem Beautywahn.

Applaus für die Darsteller: Daryl McCormack spielt den niedlichen Stricher mit viel lässigem Charme und die sowieso immer grandiose Emma Thompson präsentiert sich am Ende des Films selbstbewusst ganz ohne Filter full frontal. Lustig, sexy und erfrischend unverkrampft: Ein durchweg befriedigender Film.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Good luck to you, Leo Grande“
GB 2022
97 min
Regie Sophie Hyde

alle Bilder © Wild Bunch Germany

CORSAGE

Kinostart 07. Juli 2022

Bald 70 Jahre post Romy Schneiders Darstellung für die Ewigkeit feiert die österreichische Kaiserin Sisi mediale Wiederauferstehung. Nach der RTL-Serie, deren zweite Staffel gerade produziert wird, kommt nun Marie Kreutzers ungewöhnlicher Cannesbeitrag in die Kinos.

Elisabeth („Sisi“) begeht bald ihren 40. Geburtstag. Damit gehört sie offiziell zum alten Eisen, denn in dem Alter hatten Frauen Ende des 19. Jahrhunderts ihre Lebenserwartung erreicht. Noch wird sie vergöttert, für ihr strahlendes Aussehen angehimmelt, doch die Uhr tickt. Sisi ist eine lebenshungrige Frau, die es Leid ist, jeden Tag ihre Taille zu schnüren und sich allen Genüssen zu verweigern. Ihr Widerstand gegen ihr öffentliches Bild wird immer größer – sie beginnt, sich aus dem höfischen Korsett zu befreien.

Die Luxemburgerin Vicky Krieps spielt Kaiserin Elisabeth schön spröde und geheimnisvoll. Und die wie immer herausragende Kameraarbeit Judith Kaufmanns ist ein weiterer großer Pluspunkt des Films. Die Marotte, historische Stoffe bewusst mit modernen Elementen zu vermischen, wirkt dagegen angestrengt. Abends singt der Hofstaat britische Popsongs zur Harfe und der Schlossplatz sieht aus, als sei der Reisebus gerade aus dem Bild gefahren. Ist natürlich Absicht, genauso wie die sichtlich angeklebten Backenbärte. Die Übersetzung in die Popkultur wirkt hier allerdings unentschieden, das hat die Netflix-Soap „Bridgerton“ oder Sofia Coppola mit „Marie Antoinette“ besser und mutiger durchgezogen.

Das Gekünstelte kann man natürlich auch als „märchenhaft“ schönreden, womit sich dann der Kreis zu Romys Sisi wieder schließt. Denn auch die war in ihrer Heimatfilm-Kitschwelt meilenweit von der Realität entfernt.

INFOS ZUM FILM

Österreich / Luxemburg / Deutschland / Frankreich 2022
113 min
Regie Marie Kreutzer

alle Bilder © Alamode Film

WIE IM ECHTEN LEBEN

Kinostart 30. Juni 2022

Juliette Binoche macht den Günter Wallraff und mischt sich inkognito unter die sozial Benachteiligten Frankreichs. Klos schrubben, Betten beziehen, Böden wischen. Und das bitte im Akkord, denn Zeit ist Geld. Marianne muss sich an das harte Arbeitsleben gewöhnen, denn bisher war sie „nur“ Hausfrau und Mutter, hat für ihren vermögenden Mann die Buchhaltung gemacht. Doch der hat sie betrogen und nun muss sie bei null anfangen. So wenigstens ihre gut erfundene Biografie.

Tatsächlich ist Marianne eine erfolgreiche Autorin, die ein Buch über den Alltag der Geringverdiener schreiben will. Und weil Erlebnisse aus erster Hand immer am besten sind, taucht sie mit falscher Identität in die Welt der Hilfsarbeiterjobs ein. Besonders mit Christele, einer toughen jungen Frau, die sich mit drei Kindern durchs Leben schlägt, verbindet sie bald eine enge Freundschaft.

In unkundiger Hand wäre die Geschichte von der sensiblen Autorin und ihren neuen Freundinnen aus dem Prekariat wahlweise ultradeprimierend oder vor Kitsch triefend geraten. Doch der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller und Regisseur Emmanuel Carrère weiß genau, wie es geht: kein falscher Ton, keine forcierte Gefühlsduselei. Bei seinem zweiten Spielfilm kann er sich auf ein ausgezeichnetes Ensemble verlassen, mit einer wunderbaren Juliette Binoche in der Hauptrolle und einer ganzen Reihe umwerfender Laiendarstellerinnen an deren Seite. Guter Film.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Ouistreham“
Frankreich 2021
106 min
Regie Emmanuel Carrère

alle Bilder © Neue Visionen Filmverleih

DER BESTE FILM ALLER ZEITEN

Kinostart 30. Juni 2022

Die Frage aller Fragen am Ende: Was bleibt von mir? Da Geld keine Rolle spielt, könnte der 80-jährige Milliardär Humberto Suarez eine Brücke bauen lassen, die seinen Namen trägt. Oder vielleicht einen Film produzieren? Aber nicht irgendeinen, sondern den besten Film aller Zeiten. Dazu heuert er die berühmte Regisseurin Lola Cuevas (Penélope Cruz) und zwei noch berühmtere Schauspieler an. Ein Clash der Egos: Hollywood-Star Félix Rivero (Antonio Banderas) trifft auf Theatermimen Iván Torres (Oscar Martínez). Um ihre beiden Hauptdarsteller auf den Dreh vorzubereiten, hat sich die Regisseurin eine Reihe von exzentrischen Übungen ausgedacht: unter anderem lässt sie Iván und Félix ihre Texte lesen, während über ihren Köpfen ein fünf Tonnen schwerer Felsbrocken baumelt.

Die im Original ganz unbescheiden „Competencia oficial“ (Offizieller Wettbewerb) genannte Satire des Regieduos Duprat & Cohn macht den Zuschauern ebenso großen Spaß wie den Schauspielern, die sich selbst und ihre Eitelkeiten gehörig auf die Schippe nehmen. Der wahre Superstar ist (neben Antonio und der für immer schönen Penélope) das Anwesen, in dem gedreht wurde. In seiner strengen Sachlichkeit erinnert es an ein Lovechild von Frank Gehry und Mies-van-der-Rohe – Architekturstudenten werden feuchte Augen bekommen. Schöne Menschen, schöne Location, schöne Bilder: Kameramann Arnau Valls Colomer setzt den bissigen Inhalt in perfekt kadrierte, fabelhafte Bildkompositionen um.

Selbstgespräche mit einem Staubsaugerrohr. „Der beste Film aller Zeiten“ ist ein cleveres Spiel mit falschen Fährten. Was im Moment noch nebensächlich erscheint, bekommt erst später eine tiefere Bedeutung. Die Regisseure wissen genau, wie sie den Gedankenfluss der Zuschauer manipulieren können. Einziger Wermutstropfen: Emotional bleibt der Film unterkühlt. Das liegt an seiner Struktur: Statt einer Handlung reihen sich amüsante Sketche aneinander, die oft genial, aber manchmal ein bisschen zu vorhersehbar sind.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Competencia oficial“
Spanien 2021
114 min
Regie Gaston Duprat und Mariano Cohn

alle Bilder © STUDIOCANAL

ELVIS

Kinostart 23. Juni 2022

Er war Superstar
Er war populär
Er war so exaltiert
Because er hatte Flair
Er war der wahre King, der größte Rock’n Roll Star aller Zeiten.
Bis heute hat kein Solokünstler mehr Musikträger verkauft als Elvis Presley.

Baz Luhrmann ist einer der Regisseure, deren Handschrift man schon nach wenigen Einstellungen erkennt. Diesmal dauert es nicht einmal eine Sekunde, denn schon das diamantenfunkelnde 3D-Logo von Warner Brothers zeigt, wohin die Reise geht. Getreu dem Liberace-Motto „Too much of a good thing is wonderful“ schöpft der Regisseur aus dem Vollen. Alles ist überinszeniert, gefiltert und auf maximale Wirkung inszeniert. Wer Luhrmanns Arbeiten kennt, weiß, dass bei ihm Form vor Inhalt geht. Das sieht alles erwartungsgemäß toll aus, Catherine Martins Kostüme und das Produktionsdesign sind eine Hommage an Presleys Blütezeit von den 1950er bis zu den 1970er-Jahren.

Doch unter all dem Glamour und Glitter verbirgt sich eine komplexe Geschichte. Der Film beleuchtet das Leben und die Musik des Superstars durch das Prisma seiner schwierigen Beziehung zu seinem berüchtigten Manager Colonel Tom Parker, mit reichlich Fettprothesen schön ölig von Tom Hanks gespielt.

Egal, ob man Luhrmanns trailerartiges Schnittgewitter nun mag oder nicht, sein opulentes Biopic ist vor allem eins: A superstar in the making. Austin Butler gibt mit sexueller Dynamik alles, shakes, rattles and rolls mit so viel Hingabe, dass er nach Ende der Dreharbeiten für zwei Wochen mit Erschöpfungssymptomen ins Krankenhaus musste. All die Mühe hat sich gelohnt, denn sogar Elvis-Witwe Priscilla ist begeistert: Kein anderer Film habe „Elvis jemals besser dargestellt“ als dieser.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Elvis“
USA 2022
159 min
Regie Baz Luhrmann

alle Bilder © Warner Bros. Entertainment Inc.

PRESS PLAY AND LOVE AGAIN

Kinostart 16. Juni 2022

Eine berühmte Anekdote: Billy Wilder erzählte einmal, er habe im Schlaf immer die besten Drehbuchideen. Eines Nachts machte er sich nach einem besonders lebhaften Traum Notizen. Als er am nächsten Morgen den Zettel las, stand da: Boy meets girl.
So ähnlich muss auch das Drehbuch zu „Press Play and Love again“ entstanden sein.

Laura verliebt sich in Harrison. Harrison macht Laura ein Mixtape. Harrison stirbt (sorry, SPOILER). Laura hört sich ein paar Jahre später die Musikkassette an und wird wie durch Zauberhand in die Vergangenheit zurückgeschleudert. Zukunfts-Laura versucht Vergangenheits-Harrison zu retten.

Multiversum ist gerade das neue Schwarz. Warum nicht eine banale Lovestory mit Zeitreise und verschiedenen Schicksalsvarianten kreuzen? Kann man machen, sollte nur abgedrehter umgesetzt werden. „Everything Everywhere All at Once“ und „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ zeigen gerade, wie es richtig geht. Greg Björkmans Film ist seichte Konfektionsware, erinnert in seinen besten Momenten an eine laue Black-Mirror-Episode. Zu vorhersehbar spult sich die Geschichte ab, die beiden Hauptdarsteller Clara Rugaard und Lewis Pullman sind blass und langweilig. Dass der Film von der ersten bis zur letzten Minute mit klimpriger Musik zugekleistert ist, macht das Ganze auch nicht besser. Einzig die Location entschädigt: Die hawaiianische Insel Oahu sieht gut aus, da könnte man auch mal hin.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Press Play“
USA 2022
85 min
Regie Greg Björkman

alle Bilder © splendid film

A E I O U – DAS SCHNELLE ALPHABET DER LIEBE

Kinostart 16. Juni 2022

Age is just a number: Die 60-jährige Schauspielerin Anna und ihr 17-jähriger Schüler Adrian verlieben sich ineinander. 

Niemand kann rational beweisen, dass ein bestimmtes Geschmacksempfinden das richtige ist: Dem einen gefällt Helene Fischer, der andere mag Toast Hawaii. Auf die Qualität des deutschen Berlinale-Wettbewerbsbeitrags „A E I O U“ kann man sich hingegen problemlos einigen: Der ist einfach schlecht, oder?

Abgesehen von einem wirren Drehbuch, das nur eine halbe Handvoll guter Momente hat, war wohl selten ein talentfreierer Jungmime als Milan Herms in einer Hauptrolle zu sehen. Niedliches Aussehen allein reicht eben nicht. Wenigstens befindet er sich in guter Gesellschaft, denn auch Udo Kier war immer schon mehr „Typ“ als begnadeter Schauspieler. Nö, das kann nicht mal Sophie Rois retten. Nach der Premiere gabs trotzdem tosenden Applaus. Vielleicht kann man sich über Geschmack ja doch streiten?

INFOS ZUM FILM

Deutschland / Frankreich 2022
104 min
Regie Nicolette Krebitz

alle Bilder © Port au Prince Pictures

ZWISCHEN UNS

Kinostart 16. Juni 2022

Mundwinkel hoch heißt Freude.
Mundwinkel runter heißt Trauer.
Eva und ihr Sohn Felix üben das vor dem Spiegel.
Ist ja nicht so schwer normalerweise. Für den autistischen Jungen hingegen schon, denn Emotionen zu lesen ist für ihn ein Ratespiel.

In Max Feys Drama „Zwischen uns“ geht es um einen 13-jährigen Jungen mit Asperger-Syndrom. Dessen Mutter Eva versucht alles Menschenmögliche, ihren Sohn zu integrieren, doch immer wieder kommt es zu Problemen in der Schule. Nur beim Nachbarn, dem Fischhändler Pelle, blüht Felix auf.

Wenn es um das sehr begrenzte Genre „gestörte Terrorkinder“ geht, hat „Systemsprenger“ die Latte vor drei Jahren sehr hoch gehängt. Nicht zu Unrecht durfte die geniale Hauptdarstellerin Helena Zengel anschließend sogar mit Tom Hanks drehen.

Neben einer wunderbaren Liv Lisa Fries, die hier endlich mal ihr 20er-Jahre Berlingören-Image ablegen darf und dem grundsympathischen Thure Linhardt spielt Jona Eisenblätter die Hauptrolle. Vielleicht fehlt Regisseur Fey bei seinem Debütfilm noch die nötige Erfahrung, Kinder richtig zu inszenieren. Vielleicht gibt es aber auch wenige Jungschauspieler, die eine so schwierige Rolle meistern können. Richtig glaubwürdig ist die Darstellung des autistischen Kindes zwischen schmollendem Starren und Schreianfällen jedenfalls nicht. So bleibt „Zwischen uns“ nur dank seiner zurückhaltend spröden Inszenierung und der erwachsenen Darsteller sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2022
86 min
Regie Max Fey

alle Bilder © Wild Bunch Germany

MIT HERZ UND HUND

Kinostart 09. Juni 2022

Es ist mehr als nur eine urbane Legende, dass so manche Zweibeiner-Liebe beim Gassigehen ihren schnuppernden Anfang nahm. Selbst im Zeitalter von Tinder und Parship werden immer noch – alte Hundeschule – schwanzwedelnd die besten Kontakte geknüpft. Wie bei Dave und Fern, zwei Londoner Ü60-Rentnern, deren Romanze ab dem 9. Juni in dreiundzwanzig Spaziergängen ihren Lauf mit Hindernissen nimmt. „23 Walks“ – Auf Deutsch wie üblich verniedlicht „Mit Herz und Hund“.

Der naturliebende, freimütige Pensionär Dave mit seiner ebenso unangeleinten Schäferhündin erregt zunächst eher den Unmut der resoluten Fern und ihres Yorkshire-Terriers. Bei zwangsläufigen Wiederbegegnungen in den örtlichen Auslaufgebieten bemerkt die Scheidungsgeschädigte jedoch bald, dass der Ex-Krankenpfleger über viel Herz und andere Qualitäten verfügt. Anders als die gewohnt treue Zuneigung des tierischen Ersatzpartners verursacht menschliches Begehren jenseits der Lebensmitte ein unverhofftes Gefühlschaos von mopsfidel bis hundeelend.

Bevor es zum finalen Walk kommt, durchlebt der Zuschauer mit Herrchen und Frauchen, ihrem menschlichen Anhang und den beiden Wuffkes eine universelle Liebesgeschichte, die überall in der ersten Welt spielen könnte. Von Regisseur Paul Morrison launig-liebenswert inszeniert und dank der harmonierenden Performance von Alison Steadman und Dave Johns eine empfehlenswerte Coming-of-Best-Age Tragikomödie, die Lust macht, den inneren Schweinehund zu überwinden.

Anja Besch

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „23 Walks“
Großbritannien 2020
97 min
Regie Paul Morrison

alle Bilder © Weltkino Filmverleih

EIN GROSSES VERSPRECHEN

Kinostart 09. Juni 2022

Juditha und Erik planen ihren erfüllten gemeinsamen Lebensabend, denn mit der Pensionierung des engagierten Universitätsprofessors soll endlich Zeit für die schönen Dinge sein. Tanzen im Garten, Vögel füttern und mit dem Segelboot fahren – so was halt. Doch Juditha leidet unter MS, und gerade jetzt macht die tückische Nervenkrankheit einen heftigen Schub. Ungut auch, dass sie die sturste Frau auf Gottes Erden ist. Hilfe, egal von wem, lehnt sie rigoros ab. Das macht das Zusammenleben nicht gerade einfach. Erik bedrückt die häusliche Enge zusehends, und dass die beiden sich immer noch lieben, macht es nur noch schlimmer. Denn wer will seine Liebe schon leiden sehen?

Dazu muss man in Stimmung sein: Wendla Nölles Drama macht wenig Hoffnung, von schlimm wird es nur noch schlimmer. Stellt sich zwischen den Depressionsschüben, die man als Zuschauer erleidet, die Frage: Warum soll man sich das anschauen? Nichts gegen schicksalshafte Geschichten über andere Menschen, aber der immer bockiger werdenden Juditha und ihrem hilflos leidenden Erik beim gemeinsamen Untergang zuzuschauen ist quälend.

Sehenswert machen den offensichtlich für das Fernsehen gedrehte Film – die klassische 90-Minuten Laufzeit und der NDR als Produzent lassen keinen Zweifel, dass „Ein großes Versprechen“ schon bald am FilmMittwoch um 20.15 Uhr im Ersten laufen wird – die fabelhaften Schauspieler. Der bei uns vor allem als Kurt Wallander bekannte Rolf Lassgård überzeugt als sensibler, aber gänzlich überforderter Ehemann und die ohnehin immer famose Dagmar Manzel rührt und nervt gleichermaßen als an ihrer Krankheit zugrunde gehende Juditha.

Harte Kost, aber der Film hütet sich vor Rührseligkeiten und bietet eine ehrliche, beeindruckend gespielte Auseinandersetzung mit der Angst vor Krankheit und Vereinsamung im Alter, getragen von zwei hervorragenden Schauspielern.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2021
90 min
Regie Wendla Nölle

alle Bilder © Filmperlen

DIE TÄUSCHUNG

Kinostart 26. Mai 2022

„Die Täuschung“ hat im Original den schön schrulligen Titel „Operation Mincemeat“. Mincemeat? Klingt widerlich, ist es auch. Wikipedia weiß: „Mincemeat ist eine Mischung aus klein gehacktem Trockenobst, Weinbrand und Gewürzen, die manchmal auch Rindernierenfett, Rindfleisch und Wildbret enthält.“ Ja, das hört sich nicht besonders lecker an. Aber warum sollte eine Aktion, bei der eine verweste Wasserleiche die Hauptrolle spielt, auch einen appetitlichen Namen haben?

Während des Zweiten Weltkriegs entwickeln die beiden Geheimdienstoffiziere Ewen Montagu und Charles Cholmondeley einen raffinierten Plan:  Ein an der spanischen Küste angeschwemmter Toter soll „geheime“ Dokumente bei sich tragen, in denen ein bevorstehender Angriff der Alliierten über Griechenland erwähnt wird. Die Papiere sollen den Nazis in die Hände gelangen, um vom tatsächlichen Angriffsort Sizilien abzulenken und so die Deutschen auf die falsche Fährte zu locken.

Der Spaß an diesem wahnwitzigen Täuschungsmanöver ist die Vorbereitung: Der Tote wird aufwendig mit einer erfundenen Biografie ausgestattet, Fotos und Briefe von seiner nicht existenten Freundin stecken in der Innentasche seines Jacketts. Wenn die schon sehr mitgenommene Leiche in Uniform für ein Passfotoshooting in Pose gesetzt wird, dann hat das „Weekend with Bernie“-Qualität. Die Top Secret Unterlagen, die unbedingt in die Hände der Deutschen gelangen sollen, werden wasserdicht in einer Aktentasche verstaut, die dem Toten ans faulige Handgelenk gekettet wird. Dass der in Wahrheit ein depressiver Selbstmörder war, der sich Wochen zuvor mit Rattengift umgebracht hatte, muss natürlich unter allen Umständen geheim bleiben.

Was soll da schon schief gehen? Ein feist produzierter britischer Spionagethriller, based on a true story – und dann noch mit Colin Firth in der Hauptrolle. „Die Täuschung“ ist angenehm altmodische, perfekt gemachte Kino-Unterhaltung.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Operation Mincemeat“
GB 2021
128 min
Regie John Madden

alle Bilder © Warner Bros.

ONE OF THESE DAYS

Kinostart 19. Mai 2022

Nichts Geringeres als das in der US-amerikanischen Verfassung verankerte Streben nach Glück („Pursuit Of Happiness“) steht im Mittelpunkt einer Produktion, die – Corona sei schuld – erst zwei Jahre nach ihrem Berlinale-Erfolg ins reguläre Kino kommt: „One Of These Days“ – ein eindringliches Filmdrama um eine kuriose Kompetition, das auf wahren Begebenheiten basiert.

Alle Jahre wieder veranstaltet ein Autohaus in der texanischen Provinz seinen beliebten Ausdauerwettbewerb, bei dem zwanzig Menschen buchstäblich Händchen halten müssen – mit einem Pick-up. Der Gewinn ist zum Greifen nah, denn eben dieser Truck gebührt dem Ausdauerndsten, was dubiose Glücksritter anzieht, Späthippies oder verzweifelte Underdogs wie den jungen Familienvater Kyle (Joe Cole). Ein klassischer Antiheld, der im Durchhalten um jeden Preis seine einzige Chance auf ein vermeintlich besseres Leben sieht.

Die deutsch-amerikanische Ko-Produktion ist spätestens dann mehr als nur statisches Kammerspiel auf einem Parkplatz, wenn die Kamera die Protagonisten auch in ihre Pinkelpausen begleitet oder ins traute Heim. Wie das von Mittfünfzigerin Joan Riley (Carrie Preston), die als unermüdliches Missing Link zwischen Teilnehmern und Publikum des PR-Rummels fungiert – und in jeglicher Hinsicht als rechte Hand ihres verheirateten Chefs.

Mit einem hervorragend besetzten Ensemblefilm zeigt Wahlamerikaner Bastian Günther in Realityformat menschliche Tragödien von grenzenloser Gier und Sozialdarwinismus im Stil von „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“. Zunächst chronologisch erzählt, springt die Handlung zuletzt in die jüngere Vorvergangenheit zurück, was dem Unhappy Ending des Films eine bitter-süße Note verleiht und die abgedroschene Weisheit, der Weg sei das Ziel, unwiderruflich ad absurdum führt.

Anja Besch

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „One Of These Days“
Deutschland / USA 2022
120 min
Regie Bastian Günther

alle Bilder © Weltkino Filmverleih

DOG

Kinostart 19. Mai 2022

Channing Tatum legt mit „Dog“ seine erste Regiearbeit vor. Besonders mutig ist er dabei nicht, denn sein Film ist ein simpel gestricktes Roadmovie.

Ex-Army Ranger Jackson Briggs (Tatum) und Lulu (ein belgischer Schäferhund) haben es eilig, sie müssen es rechtzeitig zur Beerdigung eines Kameraden und Lulus Herrchen schaffen. Die beiden haben ohnehin nichts Besseres vor: Briggs ist arbeitslos, leidet unter den Folgen einer Kriegsverletzung und Lulu steht kurz davor, eingeschläfert zu werden. Die für Kriegseinsätze trainierte Hündin hat sich seit dem Tod ihres Herrchens in ein beißwütiges Ungeheuer verwandelt, das am besten mit Maulkorb in einen Käfig gesperrt bleibt. Briggs und Lulu gehen sich – wie es sich für eine klassische Romcom gehört – zunächst gehörig auf die Nerven. Während ihrer Reise treffen die beiden dann auf allerlei skurrile Mitmenschen, die einer nach dem anderen dazu beitragen, dass sich Hündin und Herrchen näher kommen. SPOILER: Am Ende des Roadtrips sind die beiden zu unzertrennlichen best buddies geworden.

„Dog“ erzählt die Geschichte zweier vom Krieg traumatisierter Lebewesen. Doch das unausgewogene Drehbuch wird dem Thema nicht gerecht. Besonders störend ist der oft unangebrachte Humor. Channing Tatum überzeugt zwar mit jeder Menge Charme, doch die Story bleibt zu oberflächlich und zu allem Übel hat Hund Lulu trotz des Namens keinerlei Lobi-Qualitäten.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Dog“
USA 2021
97 min
Regie Channing Tatum & Reid Carolin

alle Bilder © Leonine

SUN CHILDREN

Kinostart 05. Mai 2022

Ali und seine Freunde schuften den lieben langen Tag, um sich und ihre Familien zu ernähren. Der Alltag ist von Gelegenheitsjobs und kleinen Gaunereien bestimmt – Hauptsache, schnelles Geld verdient. Eines Tages wird Ali vom lokalen Drogenbaron mit einer eher ungewöhnlichen Mission beauftragt: Unter der Sun School soll sich ein Schatz verbergen, den es zu finden und zu heben gilt. Der 12-Jährige rekrutiert seine Jungs (in dem Fall wörtlich zu nehmen: Die drei sind echte Milchbubis), schreibt sich in der Schule ein und beginnt, in den Unterrichtspausen im Kellergewölbe unter dem Gebäude zu buddeln. Doch die illegalen Aktivitäten bleiben nicht unbemerkt.

Das Interessanteste an Filmen wie „Sun Children“, ist der Einblick, den sie in fremde Kulturen gewähren. Diesmal erfährt der Zuschauer einiges über Kinderarbeit und das iranische Schulsystem. Wieder was gelernt. Regisseur Majid Majidi widmet seinen Film den Millionen Kindern, die weltweit als illegale Arbeitskräfte eingesetzt werden. Lobenswert, dass er das nicht mit erhobenem Zeigefinger macht: die Geschichte erinnert an den Coming-of-Age-Klassiker „Goonies“ aus den 80er-Jahren. Majidi verbindet die Abenteuerstory mit einem ernsten Thema und schafft so eine überraschend unterhaltsame Erzählung mit Anspruch für Kinder und Erwachsene.

„Sun Children“ plädiert für das Recht auf Bildung, unabhängig von Herkunft und finanziellem Background. Da dies keine Hollywoodproduktion ist, lösen sich die vielfältigen angedeuteten Sozialprobleme nicht in Wohlgefallen auf. Jeder Funken Hoffnung verglimmt, der Film beginnt genauso düster wie er endet. Kein Happy End.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Khorshid“
Iran 2020
99 min
Regie Majid Majidi

alle Bilder © MFA+ FilmDistribution

DOWNTON ABBEY II

EINE NEUE ÄRA

Kinostart 28. April 2022

Mal ehrlich, kann sich noch irgendwer erinnern, was genau in Downton Abbey passiert ist? Um wieder in die komplizierten Verstrickungen der adligen Familienbande samt ihrer Dienerschaft einzusteigen, empfiehlt sich dieses zehnminütige Video auf youtube:

Einen großen Teil des eskapistischen Charmes der Serie macht aus, dass Menschen viel Zeit mit Gesprächen über Nichtigkeiten verbringen und dabei frisch gebügelte Kostüme in unrealistisch gutem Wetter durch britische Szenerien spazieren führen. Doch TV und Kino funktionieren nicht nach den gleichen Regeln. So enttäuschte die erste Fortsetzung des britischen Serienphänomens 2019 mit ihrer auf zwei Stunden gedehnten belanglosen Langeweile. Die Lieblingsfiguren upstairs und downstairs waren zwar alle dabei, doch es plätscherte so nichtig wie ein 5 o’clock tea vor sich hin. Die Freude über ein weiteres Kinoabenteuer des Crawley-Clans hält sich also in Grenzen. Und die erste halbe Stunde des neuen Films lässt das Schlimmste befürchten, denn es passiert wieder so gut wie nichts, untermalt von übertrieben jubilierendem Geigenschmalz.

Höchste Zeit für Drama: Eine Hollywood-Filmcrew bringt den gediegenen Tagesablauf auf Downton Abbey durcheinander. Die adlige Familie ist zunächst not amused, doch mit der üppigen Gage ließe sich das marode Dach des Anwesens reparieren. Während Lady Mary die Dreharbeiten überwacht, reist der Rest der Familie an die französische Côte d’Azur. Grandma Violet hat dort eine Traumvilla von einem längst verflossenen Verehrer geerbt. Dessen Witwe ist über die neuen Hausherren alles andere als begeistert.

„Downton Abbey II“ ist eine Soap-Opera mit Stil. Uneingeweihte werden vielleicht nicht jeden Handlungsstrang verstehen, doch das tut dem Vergnügen keinen Abbruch. Mit einer Laufzeit von über zwei Stunden und einer abwechslungsreichen Handlung fühlt sich der Film fast wie eine komplette neue Staffel an – Binge Watching im Kino sozusagen. Ist die neue Ära eine Empfehlung? I’d rather not say, Milord, aber es ist nette Unterhaltung und tut keinem weh – gegen ein weiteres Kinokapitel ist also nichts einzuwenden. Noch besser wäre allerdings eine Fortsetzung der Serie.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Downton Abbey: A New Era“
GB 2022
125 min
Regie Simon Curtis

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

IN DEN BESTEN HÄNDEN

Kinostart 21. April 2022

„Julie! JULIE!“ Raphaela fällt vor Wut aus ihrem Krankenhausbett. Die Comiczeichnerin hat sich bei einem Sturz den Ellbogen gebrochen, liegt nun in einer Pariser Notaufnahme und brüllt nach ihrer Freundin. Die beiden sind seit zehn Jahren ein Paar, doch in den letzten Monaten gab es viel Streit, ihre Beziehung scheint am Ende. Derweil tobt draußen auf den Straßen das Chaos. Bei einer Demonstration der Gelbwesten geht die Polizei mit äußerster Brutalität vor. Die diensthabenden Ärzte und Schwestern sind am Limit. Unterbesetzt, zu wenig Material und dann auch noch ein nicht abreißender Strom an Verletzten. Als der angeschossene LKW-Fahrer Yann zu Raphaela ins Zimmer verlegt wird, prallen Vorurteile und Wutbürgertum aufeinander.

Catherine Corsini legt den Finger in die Wunde und das soll bekanntermaßen wehtun. „In den besten Händen“, im Original passender La Fracture – erzählt nicht nur vom gebrochenen Ellbogen, sondern vom Bruch, der die Gesellschaft spaltet. Pflegenotstand, soziale Ungerechtigkeit, Klassen-Ressentiments –  Corsini packt brennende Themen in ihre Geschichte und scheut sich nicht, ihre Figuren ganz lebensecht, auch mal enervierend und unsympathisch sein zu lassen. Dabei wechselt sie gekonnt zwischen komödiantischem und dramatischem Ton.

Mit Valeria Bruni Tedeschi und Marina Foïs, sowie Aissatou Diallo Sagna, die auch im wirklichen Leben als Krankenschwester arbeitet, ist „In den besten Händen“ ein anstrengendes, aber berührendes Drama geworden. Der französische Film ist für 6 Césars nominiert und gewann bei den Filmfestspielen in Cannes 2021 die „Queer Palm“.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „La Fracture“
Frankreich 2021
98 min
Regie Catherine Corsini

alle Bilder © Alamode Film

HAUTE COUTURE

DIE SCHÖNHEIT DER GESTE

Kinostart 21. April 2022

Ein französischer Film mit der großartigen Nathalie Baye in der Hauptrolle, der hinter die Kulissen der Pariser Modewelt blickt – was kann da schon schief gehen, fragen Sie? Leider einiges. Drehbuchautoren aufgepasst, so konstruiert man zum Beispiel keine gute Geschichte: Esther leitet im Modehaus Dior ein Atelier für die Haute-Couture-Kollektion. Durch ihre Hände gleiten die erlesensten Stoffe, sie sorgt dafür, dass die Entwürfe der Designer als perfekt genähte Unikate auf dem Laufsteg gezeigt werden können. So weit, so interessant. Eines schönen Tages wird ihr in der Metro die Handtasche geklaut. Die Diebin ist Jade, ein Mädchen mit Migrationshintergrund. Da die junge Araberin ihre Tat zwar nicht bereut, aber von ihrer Komplizin auf einen guilt trip geschickt wird (Geld klauen ist ok, aber eine goldene Kette mit Davidstern – das geht gar nicht!), bringt sie die Tasche samt Inhalt der Bestohlenen zurück. Die ist darüber so empört, dass sie die Diebin in ein Restaurant einlädt (?) und ihr ein Praktikum in ihrer erlauchten Nähstube anbietet (??). Dort wird Jade von den Kolleginnen teils herzlich, teils mit Verachtung in Empfang genommen.

Muss noch erwähnt werden, dass sich Jade, obwohl sie nicht einmal weiß, was eine Stecknadel ist („Sind das die mit den Köpfen?“) als Wunderkind entpuppt, deren Hände wie geschaffen sind zum Nähen? Mal vom komplett unrealistischen Verhalten der Figuren abgesehen, benimmt sich die junge Frau in ihrer Ausbildungszeit dermaßen zickig und unverschämt, dass sie in der wahren Welt schon nach 2 Minuten des Hauses verwiesen worden wäre. Hier allerdings folgt eine neue Chance auf die nächste, bald versteht man gar nicht mehr, warum sich nach dem letzten großen Streit plötzlich alle schon wieder lieb haben.

Wie es der Drehbuchzufall so will, hat Esther ein gestörtes Verhältnis zu ihrer eigenen Tochter, während Jades Mutter seit Jahren depressiv zu Hause rumsitzt. Neben der Glucke-Küken-Annäherung geht es in erster Linie wieder mal um einen gebildeten (weißen) Mentor, der einen ungeschliffenen Rohdiamanten unter seine Fittiche nimmt.

Mit einem besseren Autoren und einem Regisseur mit einer klareren Vision hätte „Haute Couture“ ein wunderbarer Film werden können. Denn die Story und das Setting haben Potenzial, die Charaktere sind interessant, die Szenen, die die Herstellung der Edelroben zeigen, sind toll. Aber es gelingt nicht, den Figuren trotz der grandiosen Besetzung echtes Leben einzuhauchen. Dem Film mangelt es an Struktur, einzelne Handlungsfragmente wirken verloren, fügen sich nie zu einer harmonischen Geschichte zusammen. Und so schaffte es „Haute Couture“ über weite Strecken nicht, emotional zu berühren. Da nützt auch der wahllose Einsatz von Popsongs nichts. Schade drum.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Haute Couture – La Beauté du geste“
Frankreich 2021
101 min
Regie Sylvie Ohayon

alle Bilder © Happy Entertainment

DIE WUNDERSAME WELT DES LOUIS WAIN

DIE WUNDERSAME WELT DES LOUIS WAIN

Kinostart 21. April 2022

Choupette wäre entsetzt. Unvorstellbar für Lagerfelds elegante Weggefährtin, doch es gab eine Zeit in der Menschheitsgeschichte – lange nach dem alten Ägypten, nicht so lange vor den süßesten YouTube-Katzenvideos – da waren Miezen Nutztiere, in Haus und Hof bestenfalls zur Mäuse- und Rattenjagd geduldet.

Heutzutage können Katzen selbstverständlich Whiskas kaufen, und dass es so weit kam, haben sie einem eigenwilligen Künstler aus Großbritannien zu verdanken: Louis Wain fabrizierte unzählige Gemälde, in denen er die schnurrenden Samtpfoten in menschlicher Pose darstellte. Seinerzeit ein echter Verkaufshit. Die faszinierenden Bilder tragen Ende des 19. Jahrhunderts dazu bei, die Wahrnehmung von Katzen in der Öffentlichkeit zu verändern. Doch typisch Künstler: Louis ist als Maler begnadet, aber ein lausiger Geschäftsmann. Er vergisst, sich das Copyright seiner Bilder zu sichern – so werden viele Menschen reich mit seiner Kunst, nur er selbst nicht. Und das trifft die Familie hart. Denn im viktorianischen England kann nur der Mann im Haus das Geld verdienen – Louis hat aber noch eine Mutter und fünf Schwestern – und die wollen versorgt werden.

„The Electrical Life of Louis Wain“ erzählt die wahre Geschichte eines neurotischen und äußerst talentierten Künstlers, wunderbar exzentrisch von Benedict Cumberbatch gespielt. Auch visuell ist die elektrisierende Lebensgeschichte ungewöhnlich umgesetzt: immer wieder verwandeln sich die Sets in wie gemalt aussehende Kunstwerke, die an die Arbeiten Wains erinnern.

Die ersten 30 Minuten sind schrullig nette Unterhaltung, aber bald wandelt sich die Geschichte von niedlich zu ziemlich düster. Einziger Lichtblick ist die Liebe Wains zu Emily (Claire Foy), der Gouvernante seiner Schwestern. Doch das Glück ist von kurzer Dauer. Kein Happy End: Wain verliert zusehends den Verstand – die Bildsprache wird dem verfallenden Geist entsprechend immer psychedelischer – das Leben des Künstlers endet in einer Anstalt.

„Die wundersame Welt des Louis Wain“ ist ein Film über einen außergewöhnlichen Mann, von dem die meisten wahrscheinlich noch nie gehört haben, der aber nachhaltig Eindruck hinterlassen hat. Der Schriftsteller H.G. Wells sagte 1927 in einer Radiosendung: „Katzen, die nicht so aussehen wie Katzen von Louis Wain, sollten sich was schämen.“ Miau.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Electrical Life of Louis Wain“
GB 2021
111 min
Regie Will Sharpe

alle Bilder © STUDIOCANAL

RED ROCKET

RED ROCKET

Kinostart 14. April 2022

Man sollte einen Film nie nach seinem Plakat beurteilen. Trotz des dümmlichen Motivs (siehe unten) ist „Red Rocket“ keinesfalls Popcornkino für Menstrip-Groupies und Fans neckischer Beziehungskomödien – auch mit Waschbrettbäuchen lassen sich durchaus andere Geschichten erzählen.

Mikey Saber (Simon Rex) ist ein Mann im besten Alter, was in der Erwachsenenfilmbranche so viel bedeutet wie Frührentner. Pleite und perspektivlos kehrt er nach Jahrzehnten in seine texanische Heimatstadt zu Noch-Ehefrau Lexi (Suzanne Son) zurück. Dort übernimmt er flugs die örtliche Drogenversorgung und kommt mithilfe kleiner blauer Pillen seinen ehelichen Pflichten nach. Auch bei der minderjährigen Donut-Verkäuferin „Strawberry“ (Bree Elrod) macht der Mittvierziger einen auf dicke Hose und träumt langfristig von einem Film-Comeback als Agent des frühreifen Naturtalents.

Nach dem oscarnominierten Werk „The Florida Project“ kehrt Indie-Regisseur Sean Baker auch mit seinem neuesten Film wieder an den Rand der Gesellschaft zurück. In 16-mm-Aufnahmen im Stil der 70er kommt die fast schon dokumentarische Inszenierung größtenteils ohne Sozialromantik aus. Poppig untermalt mit Musik von *NSYNC, dazu aufschlauende Fakten aus der Pornoindustrie und Wissenswertes über Donut-Toppings.

Absoluter Besetzungscoup ist Hauptdarsteller Simon Rex, dessen eigene Karriere Pate für die Story gestanden haben könnte. Nicht zuletzt dank seiner chronisch gut gelaunten Unbekümmertheit ist „Red Rocket“ keine der üblichen Milieustudien des White Trashs, vielmehr eine post-pornografische Tragikomödie ohne sittliche Ansprüche. Denn die Moral von der Geschicht? Es gibt sie nicht.

Anja Besch

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Red Rocket“
USA 2021
130 min
Regie Sean Baker

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT

WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT

Kinostart 07. April 2022

Oh lala, Paris – Stadt der Liebe: Eiffelturm, Champs-Élysées, Baguette und Rotwein. Dass Jacques Audiards Drama-Komödie mit diesen ausgelutschten Frankreich-Klischees nichts gemein hat, wird schon in der ersten Einstellung klar: Ein Flug über triste Fassaden – Paris kann auch anders: grau und anonym. „Les Olympiades“, so der Originaltitel, ist nach den im 13. Arrondissement erbauten Hochhäusern benannt.

Mittendrin: Vier Millennials und ihre Probleme mit der Liebe. Émilie ist zu schnell für diese Welt. Ihren Job im Callcenter verliert sie, weil sie ihre Zunge nicht im Zaum halten kann. Also braucht sie anderswoher Geld: Der Lehrer Camille zieht als Untermieter bei ihr ein. Jung, attraktiv und single, keine Überraschung, dass die beiden umgehend im Bett landen. Doch die kurze, stürmische Affäre ist nach ein paar Tagen schon wieder vorbei. Und dann ist da noch Nora: Die Jurastudentin hat das große Pech, dem Pornostar Amber Sweet zum Verwechseln ähnlich zu sehen. Das verleitet ihre Kommilitonen dazu, ihr obszöne Anträge zu machen. Nora findet ihre Doppelgängerin im Netz und verliebt sich in das selbstbewusste Cam-Girl.

Der in atmosphärischem Schwarz-Weiß gedrehte Film erinnert an eine zeitgemäße, sehr französische Version von Woody Allens „Manhattan“. Fast unglaublich, dass Regisseur Audiard schon 69 Jahre alt ist, so modern und frisch wirkt sein Film (was unter anderem an dem hervorragenden Elektroscore von Rone liegt).

„Wo in Paris die Sonne aufgeht“ ist eine raue, lebensnahe, großartige Komödie über die Liebes-Irrungen und Wirrungen junger Großstädter in all seinen Schattierungen. Cinquante nuances de Grey. Wer das fröhlich-bunte Paris aus den Reiseführern bevorzugt, sollte sich besser das Netflix-Klischeefest „Emily in Paris“ anschauen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Les Olympiades“
Frankreich 2021
106 min
Regie Jacques Audiard

alle Bilder © Neue Visionen Filmverleih

A HERO – DIE VERLORENE EHRE DES HERRN SOLTANI

A HERO – DIE VERLORENE EHRE DES HERRN SOLTANI

Kinostart 31. März 2022

Gleich mal zwei Phrasen zum Einstieg: Lügen haben kurze Beine. Und: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Dabei ist das, was Rahim erzählt, eher eine harmlose Notlüge. Doch die verselbstständigt sich und hat bittere Konsequenzen.

Rahim hat zwei Tage Freigang aus dem Gefängnis. Er sitzt schon eine Weile, weil er Braham Geld schuldet. Doch es besteht Hoffnung: Rahims Freundin hat eine Tasche mit Goldmünzen gefunden. Der Verkauf soll die Schuld begleichen, doch Rahim plagt das schlechte Gewissen. Er will die Münzen der rechtmäßigen Besitzerin zurückgegeben. Die Gefängnisleitung erfährt von der guten Tat und schaltet die Presse ein – positive Nachrichten über edle Gefangene sollen von den eigenen Problemen im Gefängnis ablenken. Plötzlich ist der freundliche Rahim ein Held. Doch seine Geschichte ist nicht rund. Es tauchen Kurznachrichten auf, die ihn wie einen Betrüger dastehen lassen. Die öffentliche Meinung wendet sich gegen ihn. Nicht nur er, auch seine Familie geraten in eine sich immer schneller drehende Spirale der Verdächtigungen.

Oscarpreisträger Asghar Farhadi („Nader und Simin – Eine Trennung“) erzählt in seinem neuen Film ein modernes Märchen. Im Gegensatz zu den Gebrüdern Grimm gibt es bei ihm kein Schwarz und Weiß, die Rollen von Gut und Böse sind nur auf den ersten Blick klar verteilt. „A Hero“ ist ein komplexes Moralstück, ein Drama um Wahrheit und Lüge. Ist Rahim ein Opfer der Umstände? Und ist sein Schuldner Bahram wirklich der Böse? Als Zuschauer muss man die Situation ständig neu einordnen. Je weiter sich die Geschichte entwickelt, desto schwieriger wird es, sich für eine Seite zu entscheiden.

Nach „Ballad of a white Cow“ ein weiterer hervorragender Film aus dem Iran. „A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani“ ist eine intelligente Bestandsaufnahme unserer Gesellschaft: Die Menschen sind überall gleich – wenn es um das spontane Erschaffen eines Heldenbildes und die genauso schnelle Verurteilung geht, spielt die Nationalität keine Rolle.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Ghahreman“
Iran / Frankreich 2021
127 min
Regie Asghar Farhadi

alle Bilder © Neue Visionen Filmverleih

DAS EREIGNIS

DAS EREIGNIS

Kinostart 31. März 2022

„Sind Sie krank?“, fragt der Uniprofessor seine Lieblingsstudentin. „Ich habe die Krankheit, von der nur Frauen betroffen sind und die uns zu Hausfrauen macht“, antwortet Anne. Die Literaturstudentin ist ungewollt schwanger. Und das ist im Frankreich der frühen 1960er-Jahre ein Problem. Die Ärzte raten ihr, die Situation zu akzeptieren. Ihren Eltern will sie sich nicht anvertrauen. Hilfe gibt es keine, denn selbst ihre engsten Freundinnen wollen von dem Thema nichts hören: Abtreibung ist streng verboten und wird mit Gefängnis bestraft. Je mehr Zeit verstreicht, desto verlassener fühlt sich Anne. Sie lässt nichts unversucht, die Schwangerschaft zu beenden, denn als alleinerziehende Mutter fürchtet sie um ihre Zukunft.

Audrey Diwan schafft das schier Unmögliche: Sie erzählt eine dramatische Geschichte, ohne dabei polemisch oder belehrend zu werden. Ein Drama ohne Dramatisierung, schnörkellos und direkt. Ihr Plädoyer für die weibliche Selbstbestimmung spielt zu einer Zeit, als es völlig normal war, dass Schwangere heiraten und ihre beruflichen Träume begraben. Doch die Diskussion über Recht und Unrecht am eigenen Körper ist auch heute noch aktuell und vielerorts noch nicht zu Ende geführt.

Vor allem die unsentimentale und gerade deshalb großartige Anamaria Vartolomei in der Hauptrolle macht „Das Ereignis“ zu einem kleinen Meisterwerk. Der Film gewann beim Filmfestival von Venedig den Goldenen Löwen als „Bester Film“ und setzte sich sogar gegen den Oscarfavoriten „Parallele Mütter“ durch.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „L’évènement“
Frankreich 2021
100 min
Regie Audrey Diwan

alle Bilder © Prokino

COME ON COME ON

COME ON COME ON

Kinostart 24. März 2022

Joaquin Phoenix spielt den Radiojournalisten Johnny, der quer durch die USA reist, um junge Menschen nach ihrer Meinung zum Leben im Allgemeinen zu befragen. Auch ein Job. Als seine Schwester (Gaby Hoffmann) Probleme mit ihrem psychisch kranken Mann hat, bittet sie ihren Bruder, sich um ihren 9-jährigen Sohn (Woody Norman) zu kümmern. Johnny nimmt den Jungen mit zu sich nach New York. Es ist das erste Mal, dass er für ein Kind verantwortlich ist – und das erste Mal, dass Jesse längere Zeit von seiner Mutter getrennt ist. Nach und nach entwickelt sich eine tiefe emotionale Verbindung zwischen Onkel und Neffe.

Kritiker und Arthousefans werden begeistert sein:  „Come on Come on“ ist eine Familienaufstellung in atmosphärischem schwarz-weiß, die Raum für eigene Coloration lässt. Joaquin Phoenix spielt menschlicher und subtiler als sonst, und obwohl er einen Großteil seiner Dialoge unverständlich in den Bart nuschelt, ist ihm der nächste Oscar gewiss. Woody Norman hat eine beeindruckende natürliche Präsenz vor der Kamera, verbirgt eine alte Seele in kindlichem Körper – eine echte Entdeckung! Hinter der wundervollen Musik findet das hektische Großstadtleben Amerikas einen neuen Rhythmus. Der Film erzählt eine ergreifende symbiotische Beziehungsgeschichte zwischen jung und alt.

Weniger euphemistisch könnte man auch sagen, „Come on Come on“ bietet neben einem altklugen Kleinkind einen ganzen Strauß deprimierender Themen: Alzheimer, bipolare Störungen, Geschwisterstreit, Einsamkeit – unterbrochen durch tiefgründige Statements von Teenagern. Not the feelgood-movie of the year, aber Kunst. Wer als kinderloser Erwachsener bisweilen zweifelt, ob es nicht doch besser gewesen wäre, Nachwuchs in die Welt zu setzen, dem sei dieser Film als mahnende Erinnerung empfohlen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „C’mon C’mon“
USA 2021
108 min
Regie Mike Mills

alle Bilder © DCM

BLUE BAYOU

BLUE BAYOU

Kinostart 10. März 2022

Antonio LeBlanc (Justin Chon) ist gebürtiger Koreaner, als 3-Jähriger wird er von einer weißen Familie in Louisiana adoptiert. 30 Jahre später ist er mit Kathy (Alicia Vikander) verheiratet und der Stiefvater von Jessie. Er kämpft um ein glückliches Leben für seine Familie, doch die Geister der Vergangenheit holen ihn immer wieder ein. Als er in eine Schlägerei mit einem Polizisten gerät, droht ihm die Abschiebung nach Korea.

Die Intention, auf die teils schreiend ungerechte Einwanderungspolitik der USA aufmerksam zu machen, ist löblich. Doch Jusin Chons Film ist weder Fisch noch Fleisch. Die Geschichte hat durchaus berührende Momente. Einerseits. Andererseits ist das Drama um Antonio, dem wegen eines Formfehlers bei seiner Adoption die Abschiebung droht, dermaßen konstruiert, dass man als Zuschauer bald genervt geistig abschaltet. Immer wieder gibt es schier unglaubliche Zufälle, die ausschließlich den Unglücksfaktor der Geschichte erhöhen sollen. Dazu heulen die Streicher oder klimpert die lieblich-sanfte Singer-Songwriter-Musik. Wenigstens sind die Bilder im erlesenen Arthouse-16-mm-Look wunderschön. L’art pour l’art.

„Blue Bayou“ balanciert auf einem schmalen Grat zwischen zu viel Inhalt (Abschiebung, Verbrechen, Familienstreit, Krankheit, Kindheitstrauma) und sentimentaler Manipulation. Blame it on the Drehbuch. An den Schauspielern liegt es nicht: Alicia Vikander ist hervorragend, Justin Chon zeigt eine starke Präsenz, nur seine Entscheidungen als Regisseur bleiben unklar. Sollte „Blue Bayou“ eine melodramatische Liebesschmonzette werden? Oder lieber ein künstlerisch wertvoller Film mit Anspruch? Beides zusammen verträgt sich nicht. Und so bleibt am Ende der Eindruck, dass sich irgendwo in all dem Drehbuchkitsch ein besserer Film versteckt.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Blue Bayou“
USA 2021
118 min
Regie Justin Chon

alle Bilder © Universal Pictures International Germa

PARALLELE MÜTTER

PARALLELE MÜTTER

Kinostart 03. März 2022

Die hyperrealen Farben! Die großartigen Schauspielerinnen! Die Musik von Alberto Iglesias! Was sich hier in begeisterten Ausrufen Bahn bricht, ist die Liebe zu Pedro Almodóvars Kinouniversum. Keiner kann so gut Telenovela für Intellektuelle wie der spanische Regisseur.

Mütter, Töchter, Freundinnen, Liebhaberinnen: „Parallele Mütter“ ist ein Frauenfilm durch und durch. Männer spielen nur kraftlose Nebenrollen oder sind schon direkt tot. Bei ihrer achten Zusammenarbeit mit Almodóvar spielt Penélope Cruz die erfolgreiche Werbefotografin Janis aus Madrid. Gemeinsam mit dem forensischen Archäologen Arturo will sie ein Massengrab in ihrem Heimatdorf untersuchen. Dort vermutet sie die sterblichen Überreste von Verwandten und Freunden, die während Francos Terrorherrschaft getötet wurden. Janis und der verheiratete Arturo beginnen eine kurze leidenschaftliche Affäre, sie wird schwanger. Auf der Entbindungsstation lernt sie die junge Ana kennen – eine folgenschwere Begegnung für die beiden werdenden Mütter. 

Ein Mann und eine Frau haben Sex – Schnitt – die Frau ist hochschwanger. Der ganze Beziehungskram und die Trennung dazwischen bleiben unerwähnt oder werden höchstens in elegant eingefügten Rückblenden erzählt. Pedro Almodóvar ist der König der Reduktion aufs Wesentliche. In den 1980er und 1990er-Jahren noch auf quietschbunte, überdrehte Komödien abonniert, ist er mittlerweile zum anspruchsvollen, klugen Autorenfilmer gereift.

Zwei Frauen, zwei Schwangerschaften, zwei Leben. Wie Almodóvar hier die Handlungsstränge von den starken Müttern und der faschistischen Vergangenheit seines Landes miteinander verwebt, ist meisterhaft. „Parallele Mütter“ erzählt eine politische und zutiefst menschliche Geschichte. Penélope Cruz wurde bei den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig für Ihre Leistung ausgezeichnet und ist für den Oscar als beste Hauptdarstellerin nominiert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Madres Paralelas“
Spanien 2020
126 min
Regie Pedro Almodóvar

alle Bilder © STUDIOCANAL

KING RICHARD

KING RICHARD

Kinostart 24. Februar 2022

„Das gefährlichste Lebewesen auf Erden ist eine Frau, die ihren Verstand einsetzt.“
Richard Williams weiß, dass seine Töchter kluge Mädchen sind und er hat einen Plan: Mit viel Liebe, hartem Training und unkonventionellen Methoden will er Venus und Serena zu Weltklasse-Tennisspielerinnen aufbauen.

Doch die nicht nur kleidungstechnisch sehr weiße Sportart empfängt den Vater aus dem Getto lange Zeit mit verschränkten Armen. Immer wieder weisen ihn potenzielle Trainer und Förderer ab: eine Karriere im Tennis braucht den richtigen Background – also Geld, Herkunft und Verbindungen.

Venus und Serena Williams: Beide belegten Platz 1 der Weltrangliste, beide gewannen unzählige Titel im Einzel und Doppel. Der interessante Twist: „King Richard“ rückt den (un)-berühmten Vater der übererfolgreichen Tennisspielerinnen in den Mittelpunkt seiner Geschichte. Statt einer naheliegenden, klassischen Biografie, die die Karriere-Stationen der Schwestern artig abhandelt, erzählt Regisseur Green das Heldenepos vom Vater, der trotz aller Widrigkeiten niemals aufgibt. Unklar, ob das in Wirklichkeit so glorreich abgelaufen ist oder Richard Williams nicht auch seine eigenen Eitelkeiten bedient hat. Venus und Serena Williams sind Mit-Produzentinnen – könnte schon sein, dass da ein paar Kanten glatt geschliffen wurden und einiges idealisiert dargestellt wird.

Wie bei einem Film über den Aufstieg zweier Tennisstars nicht anders zu erwarten, gibt es jede Menge Szenen auf dem Platz. Auch wenn das für sich genommen spannend ist (wenigstens für Tennisfans) sind ausgerechnet dies die uninteressantesten Momente des Films. „King Richard“ ist ein Schauspielerfilm: Will Smith ist in Bestform, spielt auf dem Niveau seiner oscarnominierten Leistungen in „Das Streben nach Glück“ und „Ali“. Neben ihm eine Reihe ausgezeichneter Newcomer, allen voran Saniyya Sidney als Venus und Demi Singleton als Serena.

„King Richard“ ist ein fesselndes, gut gemachtes Drama mit erstklassiger Besetzung. Sehenswert, auch wenn man Tennis nichts abgewinnen kann.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „King Richard“
USA 2022
140 min
Regie Reinaldo Marcus Green

alle Bilder © Telepool

BELFAST

BELFAST

Kinostart 24. Februar 2022

Es gab Zeiten, da galt es als erstrebenswert, von der Hollywood Foreign Press Association (kurz: HFPA) einen Golden Globe verliehen zu bekommen. Damit ist es vorbei. Vor gut einem Jahr deckte ein Artikel der LA-Times das bis ins Mark korrupte System hinter der Organisation auf. Am schwersten wiegt der Vorwurf, unter den 87 Mitgliedern gebe es keine einzige Person of Color. Huch. Das war bis dahin niemandem aufgefallen.

Die HFPA vergibt ihre Awards vorzugsweise an Studios, die sich die Gunst der Journalisten mit luxuriösen Reisen zu Filmsets oder anderen großzügigen Geschenken erworben haben. Die verdeckte Bestechung war zwar allgemein bekannt, scherte aber bislang keinen. Absurditäten wie die Auszeichnung „Bester Film“ für das Florian Henckel von Donnersmarck-Debakel „The Tourist“ oder der „Beste Comedy“-Preis für das Ridley-Scott-Drama „Der Marsianer“ wurden als Schrulligkeit belächelt. Erst die Veröffentlichung des LA-Times-Artikels machten die Golden Globes igitt, plötzlich wollte keiner mehr mit dem korrupten Haufen in Verbindung gebracht werden. Superstar Tom Cruise gab seine Preise sogar empört zurück.

Und was hat das nun alles mit Kenneth Branaghs fabelhaftem, autobiografisch inspiriertem Film „Belfast“ zu tun? Nichts. Außer dass, gerade als man dachte, die Golden Globes seien auf immer gebrandmarkt, das produzierende Studio damit wirbt, „Belfast“ habe den Golden Globe für das beste Drehbuch gewonnen. So viel zur Halbwertszeit von Skandalen.

Damit niemand sagen kann, Framerate sei zu geschwätzig, hier eine kurze, knappe Lobhudelei: Die Geschichte vom neunjährigen Buddy und seiner Familie im nordirischen Bürgerkrieg ist spannend, berührend, humorvoll, wunderschön fotografiert und hervorragend besetzt. Besonders Newcomer Jude Hill ist ein echtes Naturtalent. Ganz ausgezeichnet auch der Rest des Ensembles: Judi Dench wurde gerade für den Oscar nominiert, eine Ehre, die auch Caitríona Balfe für ihre Darstellung verdient hätte. Jamie Dornan kann charmanter Familienvater, Serienmörder (The Fall) und Sado-Maso-Lover (50 Shades of Grey) – warum nicht auch 007?

Man könnte „Belfast“ als Wohlfühlfilm abstempeln, und es gibt Momente, in denen hätte ein wenig mehr dramatische Tiefe nicht geschadet. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau: Branagh ist mit der richtigen Mischung aus Nostalgie, Wärme und Komik eine sehr persönliche Liebeserklärung an seine Heimatstadt gelungen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Belfast“
GB 2021
98 min
Regie Kenneth Branagh

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

NOCH EINMAL, JUNE

NOCH EINMAL, JUNE

Kinostart 17. Februar 2022

Merken Sie sich: Apfel, Ball, Baum.
Wenige Sekunden später hat June die drei Worte schon wieder vergessen. Ihre Familie erkennt sie seit fünf Jahren nicht mehr. Doch eines schönen Morgens geschieht ein Wunder: June wacht auf und ist ganz die Alte. Sie muss erfahren, dass sie nach einem Schlaganfall dement wurde und nun in einem Pflegeheim lebt. Die neue Klarheit ist allerdings nicht von Dauer, die Ärzte vermuten, es sei nur eine Frage von Stunden, bis June wieder ins geistige Dunkel driftet. Also keine Zeit verlieren, die resolute Frau tritt vehement zurück ins Leben und erfährt, dass die Dinge in ihrer Abwesenheit „nicht nach Plan gelaufen sind“. Sie macht sich umgehend daran, ihre verkorkste Familie in die Spur zu bringen. Doch von der Rückkehr der übergriffigen Mutter sind ihre erwachsenen Kinder Ginny und Devon alles andere als begeistert.

So könnte es sein, wenn ein Toter aufersteht. Überraschung, Freude, Frust. Gerade hatten sich alle mit dem Verlust arrangiert, da werden die alten Wunden wieder aufgerissen. Schon nach einem halben Tag fragt die Tochter: „Weißt Du, was ich in den letzten 5 Jahren am meisten genossen habe? Nicht jeden Tag daran erinnert zu werden, was für eine fucking Enttäuschung ich für Dich bin.“ Autsch.

Und noch ein Demenzfilm. Nach dem grandiosen Oscargewinner „The Father“ kommt diese australische Drama-Komödie in die Kinos. Dass „Noch einmal, June“ keine Symphonie in Kitsch wurde, ist der zurückhaltenden Regie von JJ Winlove und seinen Schauspielern zu verdanken.

Winlove vermeidet weitgehend klebrige Gefühlszuckerwatte, die Geschichte bleibt wohltuend einfach und geradlinig. Der Regisseur tut gut daran, den Film vertrauensvoll in die Hände seiner Hauptdarstellerin zu legen. Die fabelhafte Noni Hazlehurst spielt June nicht nur verletzlich und bemitleidenswert, sie lässt auch immer wieder den alten Drachen durchblitzen, der seine Familie jahrelang tyrannisiert hat.

FAZIT

„Noch einmal, June“ – ein kleiner, bewegender Film mit Herz und Humor.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „June again“
Australien 2021
99 min
Regie JJ Winlove

alle Bilder © Happy Entertainment

BALLADE VON DER WEISSEN KUH

BALLADE VON DER WEISSEN KUH

Kinostart 03. Februar 2022

Der Makler macht der jungen Mutter wenig Hoffnung: Witwen, Hundebesitzer oder Junkies haben in Teheran keine Chance auf eine Wohnung. Für ihre Notlage kann die alleinerziehende Mina nichts, denn ihr Ehemann Babak wurde zu Unrecht verurteilt und hingerichtet. Wie ein guter Geist taucht da plötzlich Reza auf, der behauptet, Schulden bei Babak gehabt zu haben, die er jetzt begleichen möchte. Mina ahnt nicht, dass Reza ein Geheimnis vor ihr verbirgt.

Arthousekino aus dem Iran? Keine Angst, „Ballade von der weißen Kuh“ ist viel unterhaltsamer, als es der Inhalt vermuten lässt. Das hervorragend gespielte und ausgezeichnet inszenierte Drama behandelt ein Thema, so alt wie die Menschheit: Schuld und Sühne. Im Iran führte „Ghasideyeh gave sefid“ zu Kontroversen, denn er klagt nicht nur das dortige Justizsystem an, sondern thematisiert noch ein paar weitere Tabus wie Frauenfeindlichkeit und staatliche Unterdrückung. Hauptdarstellerin Maryam Moghaddam führte gemeinsam mit Behtash Sanaeeha die Regie bei diesem stillen und doch wuchtigen Film.

„Ballade von der weißen Kuh“ feierte letztes Jahr seine Weltpremiere bei der Berlinale.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Ghasideyeh gave sefid“
Iran / Frankreich 2020
105 min
Regie Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha

alle Bilder © Weltkino Filmverleih GmbH

LICORICE PIZZA

LICORICE PIZZA

Kinostart 27. Januar 2022

Wäre Autokorrektur nicht so dumm, würde sie neben den Namen des US-Regisseurs Paul Thomas Anderson automatisch ein Herzemoji setzen. Aber weil Computer fast so wenig können wie Roboterfrau Gisela, muss man das eben immer noch händisch machen. Paul Thomas Anderson ❤️ hat im Laufe seiner noch gar nicht so langen Karriere schon einige Meisterwerke gedreht: „Boogie Nights“, „Magnolia“ oder „There will be Blood“. Sein neuer Film „Licorice Pizza“ wird von der US-Kritik bereits als bester Film des Jahres gefeiert. Zurecht.

Gary Valentine ist ein „Hustler“, also ein Typ, der mit ausgeprägtem Geschäftssinn und viel Arbeit schnell reich werden möchte, es dabei aber mit Gesetzen und Regeln nicht allzu genau nimmt. Das Besondere an Gary: Er ist erst 15 Jahre alt. Eines sonnigen Tages im San Fernando Valley verliebt er sich in die zehn Jahre ältere Alana und kann sie mit charmanten Worten – noch eine Begabung: Gary kann das Eckige rund quatschen – zu einem Date überreden. Aus den beiden wird zwar kein Paar, aber eine platonische Freundschaft entsteht – auch wenn Gary das gerne anders gehabt hätte.

Die Parallelen zu „Once Upon a Time…in Hollywood“ sind unübersehbar: Gleiche Ära – Anfang der 1970er-Jahre, gleicher Ort – Großraum Los Angeles, gleiches Milieu – Gary ist Jung-Schauspieler und Alana drängt es auch ins Filmgeschäft. „Licorice Pizza“ wirkt allerdings wie eine entspannte Coming-of-age-Version von Tarantinos Hollywood-Universum, ohne dessen Hang zu unerwarteten Gewaltausbrüchen.

Gelegenheitsjobs, Wasserbetten, Barbra Streisand und Trucks im Leerlauf – die 133 Minuten sind voller Überraschungen. Mit seinen genauen Beobachtungen erinnert Andersons ❤️ Film an einen der vielschichtigen Romane von Jonathan Franzen. Großartig auch die Besetzung: Sängerin Alana Haim spielt die bezaubernde Alana Kane und hat gleich ihre komplette (echte) Familie mitgebracht, um – genau – ihre Filmfamilie zu spielen. Cooper Hoffman, Sohn des verstorbenen Philip Seymour, hat nicht nur das Aussehen, sondern auch das Talent seines Vaters geerbt – zum Verlieben, wie er den jugendlichen G’schäftlemacher mit riesengroßem Charme spielt. Es sollte mit dem Teufel zugehen, wenn die Lakritzpizza in diesem Jahr nicht ein paar Oscars abräumen würde.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Licorice Pizza“
USA 2021
133 min
Regie Paul Thomas Anderson ❤️

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

SPENCER

SPENCER

Kinostart 13. Januar 2022

Blass, blass, blass sind alle meine Farben. Trüb, trüb, trüb ist alles, was ich hab. Das Leben von Diana, Princess of Wales, geborene Spencer, muss furchtbar gewesen sein, indeed. Im Dezember 1991 besteht ihre Ehe mit Charles nur noch auf dem Papier. Trotzdem verbringt sie die Weihnachtstage mit der gesamten royalen Familie auf Landgut Sandringham. Und wenn man dem bedrückenden Film von Pablo Larrain glauben darf, so befand sich Diana zu dieser Zeit am Rande des Wahnsinns.

Schnell entwickelt sich die „Fabel, die auf wahren Begebenheiten beruht“ – wie es im Vorspann heißt – zu echten Diebus Horribilis für die sensible Prinzessin. Das geht schon bei der Ankunft los: Zur Weihnachtstradition Ihrer Majestät gehört es, die Gäste nach Art der Mastgans vor und nach den Feiertagen zu wiegen. So soll sichergestellt werden, dass alle ausreichend gefuttert haben. Die Tage auf dem schlecht beheizten Landgut werden für Diana, umgeben von hinterhältigen Hofschranzen, einem untreuen Gemahl und der Ice-Queen Elisabeth (not amused), zu einer surrealen Neuauflage von „Shining“. Durch endlos lange Flure wird sie auf Schritt und Tritt von Zofen und Geistern verfolgt. Einmal landet sie sogar in einem Kühlraum – Jack Torrance gefällt das. Zwischendurch muss Diana alle fünf Minuten die Kleidung wechseln, auch das ist anstrengende Arbeit. Es sind im Laufe des Films (Achtung Spoiler!) sehr, sehr viele Kleider.

Kristen Stewart scheint für ihre Ausnahmeleistung der nächste Oscar so gut wie sicher. Weniger wohlwollend könnte man ihr Schauspiel auch als Fast-Karikatur bezeichnen. Mehr weidwunder Augenaufschlag und scheues Geflüster gehen nicht. Zum 25. Todestag der Prinzessin kommt mit „Spencer“ spröde, anspruchsvolle Kunst in die Kinos.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Spencer“
Deutschland / GB 2021
111 min
Regie Pablo Larrain

alle Bilder © DCM

DRIVE MY CAR

DRIVE MY CAR

Kinostart 23. Dezember 2021

Ein roter Saab 900 Turbo, ein betrogener Ehemann und Tschechows Onkel Wanja – Das sind die erstaunlichen Zutaten einer 40-seitigen Kurzgeschichte von Haruki Murakami.

Oto arbeitet als Drehbuchautorin beim Fernsehen, ihr Mann Yusuke Kafuku ist ein renommierter Bühnenschauspieler und Regisseur. Die beiden haben vor vielen Jahren ihre Tochter verloren – Lungenentzündung im Kindesalter – seitdem sucht Oto immer wieder Sex mit anderen Männern. Kafuku nimmt die Untreue seiner Frau stoisch hin. Eines Tages stirbt Oto an einem Hirnaneurysma, einfach so. Peloton hat nichts damit zu tun.

Ein ungewöhnlich langes Intro: Bis zum Vorspann sind schon 40 Minuten vergangen. Zwei Jahre später: Kafuku willigt ein, das Tschechow-Stück „Onkel Wanja“ in Hiroshima zu inszenieren. Aus versicherungstechnischen Gründen darf er seinen geliebten Saab während dieser Zeit nicht selbst fahren, die junge Chauffeurin Misaki wird ihm zugewiesen. Auf ihren langen gemeinsamen Autofahrten nähern sich die beiden zögerlich einander an.

„Drive my Car“ ist Kontemplation als Film. Obwohl es um schwere Themen geht, bleibt die Spannungskurve ohne größere Ausschläge nach oben oder unten in einem 3 Stunden währenden ruhigen Fluss. In einer Szene erwischt Kafuku seine Frau dabei, wie sie ihn mit einem jungen Mann in der gemeinsamen Wohnung betrügt. Es gibt keinen Streit, keine Konfrontation, keinen Bruch. Kafuku ist nicht einmal sauer. Er beobachtet das Geschehen kurz und schleicht sich dann leise aus dem Zimmer. Aus den dramatischen Geschehnissen hätte eine US-Produktion einen rührseligen Tearjerker fabriziert, auf japanisch rauscht das Unglück so sanft dahin wie ein Windstoß durch eine Teeplantage beim Sonnenaufgang.

Eine Adaption, die funktioniert: Das Übertragen von Murakamis präzisem, unaufgeregtem Schreibstil auf die Leinwand ist auf den Punkt. Regisseur Ryusuke Hamaguchi gelingt ein vielschichtiges Werk über Trauer, Liebe, Verrat und Kunst. Sein raffiniertes Spiel um Sprache und Sprachlosigkeit gewann den Preis für das beste Drehbuch in Cannes.

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Originaltitel „Doraibu mai kâ“
Japan 2021
179 min
Regie Ryusuke Hamaguchi

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ANNETTE

ANNETTE

Kinostart 16. Dezember 2021

Toxische Männlichkeit, das Musical. Das Beste kommt gleich am Anfang: Ein grandioser one-take eröffnet den Film. Regisseur Leos Carax, die Hauptdarsteller Adam Driver und Marion Cotillard laufen gemeinsam mit den Komponistenbrüdern Ron und Russell Mael („Sparks“), „So May We Start“ singend aus einem Tonstudio ins nächtliche LA. Dabei schlüpfen die Schauspieler nach und nach in ihre Rollen – die Geschichte kann beginnen.

Mit den Musicalerfolgen „A Star is Born“ und „La La Land“ hat „Annette“ nur die Grundidee gemeinsam: Zwei Künstler verlieben sich ineinander. Ann ist eine berühmte Opernsängerin, Henry ein misanthropischer Stand-Up Comedian. Als mediengefeiertes Star-Pärchen reiten sie eine Weile auf einer Erfolgswelle durchs Leben und singen „We love each other so much“ dazu. Doch nach der Geburt ihrer Tochter Annette wandelt sich die große Liebe in noch größeren Hass. Ein Bootsausflug hat verhängnisvolle Folgen, Natalie Wood und Robert Wagner können davon ein Lied singen.

Und plötzlich mutiert das Musical zum Puppenfilm: Titelfigur Baby Annette wird in den meisten Szenen von einer hölzernen Marionette gespielt. Dieser schräge Kunstgriff wird mit keiner Silbe erwähnt oder erklärt. Zu grotesk, wenn Ann und Henry ihr unheimliches Puppenkind in den Armen halten oder singend an dessen Wiege stehen. Apropos: Gesungen wird sehr viel. Der Film verzichtet fast gänzlich auf gesprochene Dialoge. Adam Driver ist zwar kein begnadeter Sänger, doch den nicht besonders liebenswerten Henry spielt er mit konsequenter fuck-you-Haltung grandios. Interessante Idee, gute Musik, tolle Schauspieler – und trotzdem macht der Film nur bedingt Freude.

Regisseur Leos Carax („Die Liebenden von Pont-Neuf“) hat den Ruf eines schwierigen Künstlers, dessen Arbeiten oft als sperrig gelten. „Annette“ ist weniger Musical, mehr experimentelle, moderne Oper, die man nicht unbedingt verstehen muss. Manche werden das für große Kunst halten, weil es so schön schräg und anders ist. Die meisten wird das seltsame, oft ermüdende Musikdrama ratlos zurücklassen.

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Originaltitel „Annette“
Frankreich / Belgien / Deutschland / USA 2021
140 min
Regie Leos Carax

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WEST SIDE STORY

WEST SIDE STORY

Überflüssig, hier nochmal die Geschichte von Tony, Maria, den Jets und den Sharks nachzuerzählen. Selbst eingefleischten Musicalhassern dürfte die Handlung von West Side Story vertraut sein: Shakespeares Romeo und Julia, nur eben im New York der späten 1950er-Jahre angesiedelt.

Im Laufe seiner sagenhaft erfolgreichen Karriere hat Steven Spielberg unzählige Blockbuster gedreht, Preise gewonnen, Klassiker für die Ewigkeit kreiert. Nun also eine Neuverfilmung des zehnfach oscargekrönten Leonard-Bernstein-Musicals. An der 2021er Version ist erstmal nichts falsch: Paul Tazewells Kostüme strahlen in allen Farben des Regenbogens, die Sets stimmen bis ins kleinste Detail und Director of Photography Janusz Kaminski konnte gewohnt viele Lampen in Richtung Kameraoptik drehen, sodass sein Markenzeichen – Flares in jeder Einstellung – gebührend zur Geltung kommen. Choreografie und Gesang sind spotless. Alle beteiligten Gewerke sind auf der Höhe ihrer Schaffenskunst. Und dennoch fragt man sich während der gesamten 155 Minuten: Warum?

Warum eine neue Version, die der alten nichts Nennenswertes hinzuzufügen hat, außer schickerer Optik und uncharismatischeren Hauptdarstellern? Vor allem der ewige Klassensprecher Ansel Elgort ist als Tony die Inkarnation von netter Langeweile. Such a pretty face: Rachel Zegler, eine echte Disney-Prinzessin mit glockenklarer Stimme, wird als Maria in jeder Szene von der temperamentvolleren Ariana DeBose (als Anita) an die Wand gespielt und gesungen. Überhaupt sind sämtliche Nebenfiguren besser besetzt als das blasse Paar im Zentrum der Geschichte. It’s alarming how uncharming they are. 

Steven Spielberg hatte wohl einfach Lust, einen seiner Lieblingsfilme neu zu inszenieren – mit feisteren Bildern und besserer Technik. Dabei vermeidet er alles Moderne. „La La Land“, „In the Heights“ oder Baz Luhrmanns „Romeo + Juliet“ sind da deutlich mutiger und verspielter. Spielbergs Film wirkt, als sei er ein perfekt restauriertes Werk aus den 1950er-Jahren. Wenigstens sind diesmal die Puertoricaner echt und werden nicht von braun geschminkten Gringos gespielt.

I feel pretty: „West Side Story“ 2021 sieht gut aus und ist ganz okay, reicht aber bei weitem nicht an die Originalversion heran. Eine Empfehlung für alle, die gerne schöne Menschen in schönen Kostümen sehen wollen, die hübsch choreografiert tanzen und dazu berühmte Lieder singen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „West Side Story“
USA 2021
155 min
Regie Steven Spielberg
Kinostart 09. Dezember 2021

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HOUSE OF GUCCI

HOUSE OF GUCCI

Der Gucci-Clan: eine Familie so glamourös und abgründig wie zehn Soap-Operas zusammen. Kein Wunder, dass Ridley Scotts Ausstattungstraum über das italienische Modeimperium näher an edlem Denver-Clan-Trash als an Hochkultur angesiedelt ist.

„House of Gucci“ ist bahnbrechend. Nicht als Film, denn nach dem Vorfreude weckenden Trailer bleibt das Gesamtprodukt ein wenig hinter den Erwartungen zurück. Trotz überdrehtem Schauspiel – vor allem Jared Leto definiert den Begriff des overactings neu – lässt das Drama um den Auftragsmord an Maurizio Gucci eher kalt. Nein, „House of Gucci“ ist bahnbrechend, da es der erste Film in der Menschheitsgeschichte ist, der in der deutschen Synchronisation wahrscheinlich besser als im Original ist. Porco dio, sind die Akzente in der US-Version schlecht. Die Schauspieler sprechen ein Miracoli-englisch, ungefähr so authentisch wie der „Isch abe gar kein Auto“-Italiener aus der Nescafé-Werbung. Auch hier schlägt der seinen Dialogtext fast jodelnde Jared Leto seine Mitstreiter um Längen. Jeremy Irons, innerhalb eines Satzes wahllos zwischen Teatime-british und Mafiosi-italiano changierend, folgt direkt auf Platz zwei. Der US-Modedesigner Tom Ford bringt es nach der Premiere auf den Punkt: „Zwischendurch war ich mir nicht sicher, ob ich da gerade einen Sketch von Saturday Night Live sehe.“

Ansonsten: Lustige 80er-Jahre-Mode mit Schulterpolstern, absurde Elnett-de-Luxe-Frisuren und das musikalisch Beste der 70er, 80er und 90er-Jahre: Das stargestopfte 3-Stunden Epos ist mit Adam Driver, Salma Hayek und Al Pacino erlesen besetzt. Die Show stiehlt allerdings Lady Gaga, die als mörderische Patrizia Reggiani neben den exquisiten Kostümen das Highlight des Films ist.

FAZIT

Beim Rennen um das beste „Erschossener-Modeschöpfer-aus-Italien-Biopic“ bleibt die Ryan Murphy-Serie um Gianni Versace Sieger.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „House of Gucci“
USA 2021
158 min
Regie Ridley Scott
Kinostart 02. Dezember 2021

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

RESPECT

RESPECT

Als Aretha Franklin 1967 komplett besoffen von der Bühne fällt, hat sie endgültig ihren persönlichen Whitney-Houston-Tiefpunkt erreicht. Der übermächtige Vater, der brutale Ehemann, die Sucht, das ewige Unglücklichsein trotz des überragenden Talents: es gibt viele Ähnlichkeiten zum Lebenslauf anderer Pop- und Souldiven. Tina Turner kann davon ein Lied singen. Wie der Rockröhre aus Nutbush/Tennessee haben die 1980er-Jahre auch Aretha Franklin ein Comeback beschert. „Respect“ lässt diesen Teil des Karriere-Herbstes aus, konzentriert sich ganz auf die Jugend- und frühen Erfolgsjahre der Queen of Soul.

Was für ein Leben: Schon als Kleinkind wird Aretha nachts vom Vater aus dem Bett gezerrt, um Onkel Duke (Ellington) und Tante Della (Reese) ein Lied vorzusingen. Bei dem prominenten Umgang kein Wunder, dass die kleine Ree professionelle Sängerin wird. Die geliebte Mutter stirbt früh, mit 12 wird Aretha das erste Mal schwanger. Mit Anfang 20 heiratet sie Ted White, die Ehe ist von Misshandlung und Brutalität geprägt. Ihr oft divenhaftes Verhalten, Suff und verpasste Termine führen schließlich zum Absturz. Rettung bringt erst der Weg (zurück) zum Herren, gekrönt von ihrem legendären Gospel-Livekonzert 1972 in Los Angeles. Halleluja!

Kein R-E-S-P-E-C-T vom Feuilleton: Das wirft dem Biopic vor, es sei zu „soapig“ geraten. Wenn das eine Umschreibung für „zu unterhaltsam“ sein soll, dann stimmt die Kritik ausnahmsweise. Die 145 Minuten sind erstaunlich kurzweilig. Natürlich gab es diese Art Künstlerbiografie schon hundert Mal, auch hier werden alle Stationen der Karriere artig abgearbeitet, da betritt der Film kein Neuland.

„Respect“ ist vor allem Jennifer Hudsons Film, mit dem sie sich nach ihrem Oscarerfolg „Dreamgirls“ und vielen mittelmäßigen Filmen wieder in schauspielerischer Bestform zeigt. Abgesehen von ihrer großartigen Singstimme spielt sie Franklins Qualen und Selbstzweifel so gekonnt, dass ein paar Drehbuch- und Inszenierungsschwächen nicht weiter ins Gewicht fallen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Respect“
USA 2021
145 min
Regie Liesl Tommy
Kinostart 25. November 2021

alle Bilder © Universal Pictures International Germany

HANNES

HANNES

Lieber Hannes,

ich schreibe Dir heute, weil sie einen Film über uns gemacht haben. Seit deinem Motorradunfall liegst Du ja im Koma und kannst dich nicht mehr wehren. Was soll ich sagen: Der Film ist richtig schlecht geworden. So schlecht, dass er für die Dozenten aller Filmhochschulen eine Offenbarung wäre. Erstsemester aufgepasst: So macht man es nicht. Die hölzernen Dialoge klingen, als hätte sie die Drehbuchautorin von „Unser Charly“ geschrieben. Musikalischer Berater war wohl Til Schweiger – an einem miesen Tag mit Kater. Kein Gefühl ist echt, alles großer Kitsch. Irgendwie haben es die Produzenten geschafft, namhafte Schauspieler zu verpflichten. Lisa Vicari aus „Dark“ zum Beispiel. Die hat aber nichts zu tun, außer grimmig zu schauen. Wahrscheinlich wurde ihr erst beim Dreh klar, worauf sie sich da eingelassen hat. Heiner Lauterbach hatte wohl auch keine Lust, der spielt, als würde er das Telefonbuch vorlesen. Und wusstest Du, dass Hannelore Elsner kurz vor ihrem Tod noch 300 Filme gedreht hat? Oder weshalb taucht sie hier schon wieder in ihrer allerallerletzten Rolle auf? Für Hannelore muss der Dreh ein Vorgeschmack auf die Hölle gewesen sein, schon wieder muss sie die immer noch attraktive, kapriziöse Irre geben. Der Film ist ihr sogar gewidmet, die Arme.
Alles sehr schade, die Geschichte unserer Freundschaft hätte einen besseren Film verdient. Die gute Nachricht: Bei den Goldenen Himbeeren werden deutsche Filme nicht berücksichtigt.

Alles Liebe, dein Moritz

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Deutschland 2019
91 min
Regie Hans Steinbichler
Kinostart 25. November 2021

alle Bilder © STUDIOCANAL

HOPE

HOPE

„Håp“, so der Originaltitel, startet mit knapp zwei Jahren Verspätung in den deutschen Kinos. Die norwegisch-schwedische Produktion gewann mehrere Preise, war unter anderem für den Oscar nominiert.

Anja und Tomas leben in einer Patchwork-Familie: drei gemeinsame Kinder, drei Kinder aus Tomas erster Ehe. Die Beziehung zwischen der jüngeren Choreografin und dem Theaterregisseur wird auf eine harte Probe gestellt, als bei Anja kurz vor Weihnachten ein lebensgefährlicher Hirntumor festgestellt wird.

Genau so fühlt es sich an, wenn plötzlich die katastrophalen Nachrichten niederprasseln und alles aus den Fugen gerät. In den ohnehin unwirklich erscheinenden Tagen „zwischen den Jahren“ begleitet der Film die Familie nach einem Todesurteil aus dem Nichts. Anja geht durch ein Wechselbad der Gefühle, lang gemiedene Aussprachen werden geführt, unterdrückte Gefühle gelangen an die Oberfläche.

Mit „Hope“ kommt ein berührender Film für Erwachsene in die Kinos. Harte Kost, und das ausgerechnet im zweitschlimmsten Monat des Jahres (the winner is January). Maria Sødahl erzählt die Geschichte ihrer eigenen Krankheit ohne jeden Schnickschnack, mit leisem Humor und großer Ehrlichkeit. Neben der souveränen Regie beeindrucken vor allem die beiden Hauptdarsteller Andrea Bræin Hovig und Stellan Skarsgård. „Hope“ lässt das Ende offen und bleibt – der Titel deutet es an – hoffnungsvoll. Grandios.

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Originaltitel „Håp“
Norwegen / Schweden 2019
125 min
Regie Maria Sødahl
Kinostart 25. November 2021

alle Bilder © Arsenal Filmverleih

RESIDENT EVIL: WELCOME TO RACCOON CITY

RESIDENT EVIL: WELCOME TO RACCOON CITY

Willkommen zu einer kleinen Zeitreise in die Waschbären-Stadt! Das Prequel zur erstaunlich erfolgreichen Resident Evil-Serie spielt 1998. Raccoon City ist zur Geisterstadt verkommen. Schuld daran ist der Wegzug des Pharmariesen Umbrella Coporation. Keine Arbeitsplätze, keine lebendige Kleinstadt. Auch Claire hat sich vor fünf Jahren aus dem Staub gemacht. Als sie zurückkehrt, um ihren Bruder Chris vor einer bevorstehenden Katastrophe zu warnen, ahnt sie nicht, dass das Unheil schon an der Tür kratzt.

1,2 Milliarden Dollar hat das Franchise bis heute eingespielt. Aus Produzentensicht naheliegend, dass es irgendwie weitergehen muss. Jetzt also ein Prequel, das der zuletzt etwas aus der Puste gekommenen Resident Evil-Serie neue Energie verleihen soll. „Welcome to Racoon City“ erfindet das Genre nicht neu – die Versatzstücke sind aus vielen Horrorfilmproduktionen bekannt – trotzdem funktioniert der Neustart. Die Geschichte vom Ursprung allen Zombieübels ist durchweg spannend erzählt und funktioniert auch ohne Postergirl Milla Jovovich hervorragend. Teil 8 kann kommen.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Resident Evil: Welcome to Racoon City“
Deutschland / Kanada 2021
107 min
Regie Johannes Roberts
Kinostart 25. November 2021

alle Bilder © Constantin Film

MEIN SOHN

MEIN SOHN

Skateboard fahren, Kiffen, Saufen, Party machen. Jason nimmt das Leben auf die leichte Schulter. Bis er eines Tages bei einem Skate-Unfall schwer verletzt wird. Seine Mutter Marlene wacht an seinem Krankenbett, kümmert sich um einen Platz in einer Schweizer Reha. Sie beschließt, ihren Sohn selbst dorthin zu fahren. Auf dem Roadtrip brechen alte Konflikte zwischen Mutter und Sohn auf.

Es muss ja nicht immer alles Soap sein, aber ein bisschen mehr Dramatik hätte Regisseurin und Drehbuchautorin Lena Stahl ihrer Geschichte ruhig verpassen können. Wenn sich über 90 Minuten die Figurenkonstellation kaum weiterentwickelt und die Geschichte der Charaktere bestenfalls angedeutet wird, dann plätschert es halt nur so dahin, bleibt oberflächlich.

Sehenswert machen „Mein Sohn“ (der ebenso gut „Meine Mutter“ heißen könnte) vor allem die Schauspieler. Als unglückliche Mutter blitzt ihr trockener Humor zwar nur selten durch, aber die wunderbare Anke Engelke kann außer Late-Night-Talkshow alles. Mittlerweile überzeugt sie in dramatischen Rollen genauso wie im komischen Fach. Sexy trotz Augenringe: Dem Mensch gewordenen Waschbären Jonas Dassler nimmt man die Rolle des „I don’t give a fuck“-Teenagers auch mit seinen 25 Jahren noch ab. Dassler gehört spätestens seit seinem Durchbruch in „Der Goldene Handschuh“ zu den aufregendsten Theater- und Filmschauspielern seiner Generation.

FAZIT

Ein entwicklungsarmes Roadmovie mit starken Schauspielern.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2021
94 min
Regie Lena Stahl
Kinostart 18. November 2021

alle Bilder © Warner Bros. Pictures Germany

EIFFEL IN LOVE

EIFFEL IN LOVE

Kleine Quizrunde für Senioren: Mit welchem Gebäude erlangte Gustave Eiffel im 19. Jahrhundert Weltruhm?

A) Kölner Dom
B) Berliner Fernsehturm
C) New Yorker Freiheitsstatue
D) Londoner Tower Bridge

Richtige Antwort: C. Neben der Erkenntnis, daß niemand Klugscheißer mag, ist das schon wieder eine geschlossene Wissenslücke. Eiffel hat Lady Liberty zwar nicht entworfen, sie aber dank ausgeklügelter Stahlkonstruktion auf Jahrhunderte standsicher gemacht.

Sein nächstes großes Ding ist der Tour Eiffel. 1889, pünktlich zur Pariser Weltausstellung, soll der 324 Meter hohe Turm fertig sein, um eigentlich zwei Jahre später wieder zurückgebaut zu werden. Streikende Bauarbeiter, Probleme mit der Finanzierung, wütende Anwohner – was wie der Bau des BER klingt, ist in Wahrheit die fast gescheiterte Geschichte eines der schönsten Architekturkunstwerke der Welt. Gustave Eiffel will die Weltbevölkerung ursprünglich mit seiner neugebauten Metro beeindrucken, erst die wiedererwachte Liebe zu einer Frau inspiriert ihn zu dem eleganten Phallus mitten in Paris. Weniger sexuell aufgeladen lässt sich in die Form des Eiffelturms auch ein großes A interpretieren, den Anfangsbuchstaben der Angebeteten Adrienne.

Regisseur Martin Bourboulon, sonst eher Spezialist für Komödien, erfindet mit „Eiffel in Love“ das Rad nicht neu: Ein bisschen erinnert das Liebesdrama an „Titanic“ – nur eben nicht zu Wasser, sondern an Land. Wirklichkeit und Fiktion decken sich auch hier nur teilweise: Als der 28-jährige Jungarchitekt in Bordeaux eine Brücke baut, haben Gustave und Adrienne tatsächlich eine leidenschaftliche Beziehung. Ob die Liebe zwischen den beiden allerdings Jahre später noch einmal erblüht und Monsieur Eiffel tatsächlich zum Turmbau inspiriert, ist eine unbewiesene Drehbuchidee.

Die Romanze ist mit Romain Duris und der aus „Sex Education“ bekannten Emma Mackey ausgezeichnet besetzt. Trotz der etwas konventionellen Erzählweise: „Eiffel in Love“ ist unterhaltsam, bildgewaltig und dazu noch romantisch, ohne in Kitsch abzudriften. Vive la France!

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Eiffel“
Frankreich 2021
109 min
Regie Martin Bourboulon
Kinostart 18. November 2021

alle Bilder © Constantin Film

LIEBER THOMAS

LIEBER THOMAS

Die Komödien „Sonnenallee“ und „Good Bye, Lenin“ erwecken den Eindruck, das Leben jenseits des antifaschistischen Schutzwalls sei bunt und fröhlich gewesen. Gut 30 Jahre nach Mauerfall zeichnen Filme wie „Gundermann“ oder der im August gestartete „Nahschuss“ ein realistischeres Bild der Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Schluss mit lustig.

Zwei, die von Anfang an nicht zueinander passen: Die DDR und Thomas Brasch. Mit seinem Vater Horst, SED-Parteifunktionär und stellvertretender Minister für Kultur, ist er in Hassliebe verbunden. Aus Thomas soll ein braver Staatsbürger werden, doch schon früh fühlt er sich zum Schriftsteller berufen. Als 1968 sowjetische Panzer den Prager Frühling niederwalzen, protestieren Thomas und seine Freunde mit einer Flugblattaktion in Berlin. Der junge Autor wird von seinem Vater verraten, kommt ins Gefängnis. Auf Bewährung entlassen, arbeitet Brasch zunächst als Fräser in einer Transformatorenfabrik. 1978 darf er mit seiner Frau in den Westen ausreisen. Dort dreht er mehrere Kinofilme, wird sogar nach Cannes eingeladen.

War „Das Leben der Anderen“ noch eine hollywoodgerechte Aufarbeitung des Stasi-Staates, so wählt Andreas Kleinert für „Lieber Thomas“ eine poetischere, künstlerisch freiere Herangehensweise. Das in strengem Schwarzweiß gedrehte Drama legt sich nicht auf Wahrheit oder Fiktion fest, wechselt fließend zwischen Traum und Wirklichkeit. Fast könnte man meinen, der Film sei zu DDR-Zeiten gedreht worden, so stimmig wirkt die Atmosphäre.

Intensivtäter Albrecht Schuch (wer sonst?) verkörpert die deutsch-deutsche Zerrissenheit des 2001 verstorbenen Autors und Regisseurs kongenial. Neben der großartigen Besetzung (Jella Haase, Jörg Schüttauf, Anja Schneider) sind vor allem die Szenen mit Brasch als Malocher in der Fabrik am stärksten. Die Bilder von Kameramann Johann Feindt erinnern hier an die gerade wiederentdeckten Aufnahmen des Fotografen Günter Krawutschke, der die Gesichter des Arbeiter- und Bauernstaats in seinen einzigartigen Bildern verewigte.

„Lieber Thomas“ ist nach „Familie Brasch“ bereits der zweite Film, der sich mit dem Leben der schillernden Persönlichkeit Braschs auseinandersetzt. Ein Mann mit vielen Facetten: Jude, Dichter, Sozialist, Frauenheld, Träumer, eine unangepasste Künstlerseele.

FAZIT

Sehr sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2021
150 min
Regie Andreas Kleinert
Kinostart 11. November 2021

alle Bilder © Wild Bunch Germany

THE MANY SAINTS OF NEWARK

THE MANY SAINTS OF NEWARK

Regisseur Alan Taylor findet offensichtlich Gefallen daran, es sich mit Hardcore-Fans zu verderben. Nach einhelliger Zuschauer- und Kritiker-Meinung hat er den schlechtesten Marvel-Film zu verantworten: „Thor: The Dark Kingdom“ (wenigstens bis „Eternals“ in die Kinos kam). Direkt danach drehte er „Terminator: Genesis“. Diese Fortsetzung fand so wenig Gefallen, dass anschließend das gesamte Franchise einem Reboot unterzogen wurde (ohne Erfolg). Nun legt sich Taylor mit einer besonders strengen Fangruppe an: „A Sopranos Story“ heißt sein neuer Film im Untertitel und ist ein Prequel zur legendären Mafiasaga.

Der unerwartete Tod von James Gandolfini vor acht Jahren machte alle Pläne, die preisgekrönte HBO-Serie jemals fortzusetzen, zunichte. Deren Abschluss (ein schlichter Schnitt auf Schwarz) wird von Fans bis heute als entweder genial oder enttäuschend empfunden. Statt das überraschend abrupte Ende aufzuklären, gibt es nun eine Reise zu den Anfängen. Die Rolle des jungen Tony Soprano spielt der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnittene Michael Gandolfini. Ein genialer Besetzungscoup, Ähnlichkeit ganz ohne Computer-Tricks.

Im Mittelpunkt des Films steht Tonys Onkel Dickie Moltisanti. Ein schlimmer Finger, dem trotzdem die Sympathien des Publikums gehören. Als Mitglied der DiMeo-Verbrecherfamilie betreibt er den örtlichen Glücksspielring in Newark. Tony Soprano, noch ein Teenager, steht am Scheideweg: bürgerliches Leben oder dem Vorbild seines Onkels folgen und Berufsverbrecher werden? Wie die Geschichte ausgeht, ist bekannt.

Alan Taylor hat sich rehabilitiert. Auch ohne jemals eine Folge der Serie gesehen zu haben, funktioniert der Film. In zwei spannenden Stunden lernt der Zuschauer den Soprano-Clan in seinen mörderischen Anfängen kennen. Mit großem Aufwand und exzellenter Besetzung erzählt „The Many Saints of Newark“ eine epische Familiensaga, in der Erpressung und Gewalt Alltag sind. Sicher bleiben für Nicht-Kenner einige Verweise auf die Serie unverständlich, das macht aber nichts. „The Many Saints of Newark“ ist auch ohne Insiderwissen sehenswert.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Many Saints of Newark“
USA 2021
120 min
Regie Alan Taylor
Kinostart 04. November 2021

alle Bilder © Warner Bros. Entertainment Inc.

DIE GESCHICHTE MEINER FRAU

DIE GESCHICHTE MEINER FRAU

Schiffskapitän Jakob Störr (der Name ist Programm) trifft in einem vornehmen Lokal seinen Freund Kodor. Aus einer Laune heraus wetten die beiden Männer, Jakob solle die nächste Frau, die den Raum betritt, heiraten. Gesagt, getan. Lizzy, jung und hübsch, lässt sich überraschend auf den spontan vorgetragenen Antrag ein. Dass Jakob überhaupt heiraten will, hat nichts mit Liebe zu tun. Er folgt nur dem Rat seines Schiffskochs, eine Ehe würde gegen seine Magenschmerzen helfen. Keine gute Ausgangslage für eine erfolgreiche Beziehung.

Ildikó Enyedis 1920er-Jahre-Epos ist ein hervorragend fotografierter, erlesen ausgestatteter Augenschmaus. Doch es passiert so wenig in den knapp drei Stunden, dass die Szenen einer lieblosen Ehe in ihrer ständigen Wiederholung bald eine einschläfernde Wirkung entfalten.

Neben den ästhetischen Bildern ist Léa Seydoux der einzige Lichtblick in diesem langatmigen Cannes-Wettbewerbs-Beitrag. Die französische Schauspielerin macht das Beste aus ihrer Rolle. Doch gegen das Hauptproblem des Films kann auch sie nichts ausrichten: „Die Geschichte meiner Frau“ fixiert sich auf die falsche Figur. Kapitän Störr ist in seiner bleiernen Antriebslosigkeit der weitaus uninteressantere Charakter in diesem Drama. Die temperamentvolle Lizzy scheint das spannendere Leben zu führen, doch darüber erfährt der Zuschauer so gut wie nichts.

FAZIT

Kunstvoll gepflegte Arthouse-Langeweile.

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Originaltitel „A feleségem története“
Ungarn / Deutschland / Frankreich / Italien 2021
169 min
Regie Ildikó Enyedi
Kinostart 04. November 2021

alle Bilder © Alamode Film

BORGA

BORGA

Borga? Was issn das? „Borga“ nennen die Ghanaer einen Mann, der es im Ausland zu Reichtum gebracht hat und so seine daheimgebliebene Familie unterstützen kann.

Ist Geiz immer noch geil? Wenn sich der Durchschnittsbürger alle paar Wochen neue Fernseher, Waschmaschinen oder Drucker kauft – was passiert dann eigentlich mit den ganzen Altgeräten? Kojo und Kofi wachsen auf einer stinkenden Müllhalde in Ghana auf. Kabel abbrennen, das freigelegte Metall verkaufen, westlichen Elektroschrott ausschlachten: So sieht der triste Alltag der Kinder aus – hoffnungsvoll ist anders. Jahre später gelangt Kojo mithilfe einer Schlepperbande nach Mannheim, der nicht ganz so schönen Schachbrettstadt am Neckar. Kein Job ist zu unwürdig oder gefährlich: Kojo setzt alles daran, seiner Familie den Traum vom Wohlstand zu erfüllen und selbst ein Borga zu werden.

Ein ungewöhnlicher deutscher Film – ungewöhnlich gut, kraftvoll und im feisten Cinemascopeformat gedreht. Perfekt ist „Borga“ nicht, manchmal irritiert die etwas sprunghafte Erzählweise, aber das schmälert den positiven Gesamteindruck nicht. Hauptdarsteller Eugene Boateng (nicht mit Jérôme verwandt) ist eine echte Entdeckung, spielt die Rolle äußerst überzeugend. Den wird man sicher bald in größeren Produktionen sehen.

Der Film gewann vier Max-Ophüls-Preise, denn er „zeigt in eindringlichen, teils beklemmenden Bildern die globalen Auswirkungen des westlichen Konsums auf Kosten des afrikanischen Kontinents“, so die Begründung der Jury. Dass der Film zuvor bei verschiedenen Festivals abgelehnt wurde, weil der Regisseur eine Kartoffel ist – das ist Political Correctness ad absurdum geführt.

INFOS ZUM FILM

Ghana / Deutschland 2021
107 min
Regie York-Fabian Raabe
Kinostart 28. Oktober 2021

alle Bilder © Across Nations Filmverleih

THE LAST DUEL

THE LAST DUEL

Ritter Jean (Matt Damon) und Junker Jacques (Adam Driver) werden zu erbitterten Feinden, nachdem Jeans Frau, Marguerite (Jodie Comer), behauptet, von Jacques brutal vergewaltigt worden zu sein. Der beteuert zwar seine Unschuld, doch Jean glaubt seiner Frau und bringt den ehemaligen Freund vor Gericht. Der Ausgang eines vom König angeordneten Duells soll über Schuld und Unschuld entscheiden.

#metoo im 14. Jahrhundert – Die Drehbuchautoren Matt Damon, Ben Affleck und Nicole Holofcener lassen die Männer im Kettenhemd ausgesprochen schlecht aussehen. Die Handlung wird aus drei Perspektiven gezeigt: der des Ehemanns, der des Vergewaltigers und zuletzt der des Opfers. Den Kunstgriff, die gleiche Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln zu erzählen, kennt man zum Beispiel von der 40 Jahre alten ZDF-Miniserie „Tod eines Schülers“.

Matt Damon, durch eine Vokuhila und einen abscheulichen Kinnbart entstellt, liefert wie immer eine solide Leistung ab – dröge kann er gut. Ganz ausgezeichnet: Jodie Comer als missbrauchte Frau, die sich zur Wehr setzt. Adam Driver bleibt im Star Wars-Modus und gibt erneut den ambivalenten Shakespeare-Schurken, dessen britischer Akzent kommt und geht wie Ebbe und Flut. Die große Überraschung ist der Auftritt des platinblond gefärbten Ben Afflecks, der sich mit seinem losen Mundwerk aus einem lustigeren Film hierher verirrt hat.

Ridley Scotts visuelles Universum bleibt seit „Gladiator“ unverändert und kennt nur zwei Farbstimmungen: stahlblau und kerzenwarm. Auch die immer gleichen Schlachten bei beständig schlechtem Matsche-Wetter kennt man aus zahllosen anderen Abenteuerfilmen. Hundertfach kopiert und zitiert, sieht aber immer noch gut aus.

FAZIT

Ja, so san’s, die alten Rittersleut’ – wenn sie sich nicht gerade die Köpfe einschlagen, gibt es außer Saufen und Schnackseln wenig Freizeitbeschäftigung. „The Last Duel“ bietet nicht viel Neues, ist aber dank seiner Erzählstruktur – wie der Engländer sagen würde – growing on you. Häufig genug, dass bei einer Laufzeit von 2,5 Stunden in der letzten Stunde das große Mopsen einsetzt. Hier aber ist das Gegenteil der Fall: Anfangs ein bisschen zäh, doch je länger es dauert, desto interessanter wird es. Also Geduld, es lohnt sich am Ende.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Last Duel“
USA 2021
153 min
Regie Ridley Scott
Kinostart 14. Oktober 2021

alle Bilder © Walt Disney Studios Motion Pictures Germany

HOCHWALD

HOCHWALD

Lost in Südtirol. Mario (Thomas Prenn) schlägt sich mit Aushilfsjobs durchs Leben, in seiner Freizeit zieht er bunte Retro-Kleidung an und tanzt alleine in der Schulaula. Für die Einwohner in seinem streng katholischen Heimatdorf ist er eine spinnerte Dancing-Queen, auf so einen hat man gerade noch gewartet. Als Mario seinen Freund Lenz in Rom besucht, werden sie Opfer eines Terroranschlags in einer Schwulenbar.

Immer wenn er überfordert ist, zieht der heroinsüchtige Mario eine Faschingsperücke auf. Diese und viele andere Drehbuchideen erinnern daran, dass es sich bei „Hochwald“ um ein Regiedebüt handelt. Evi Romen hat ein gutes Gespür für Atmosphäre und inszeniert den Kontrast zwischen Dorfgemeinschaft und feindseliger Ausgrenzung glaubhaft. Doch die Regisseurin verzettelt sich im Laufe der Handlung zu sehr: Sexuelle Orientierung, Religion, Terrorismus und Drogensucht – die vielen komplexen Themen kann der Film nur streifen, das wirkt oft angestrengt. Im Interview sagt sie: „Das Weglassen ist mir sehr schwergefallen, weil ich sehr viel an sehr tiefen persönlichen Recherchen in dieses Projekt gesteckt habe und sehr viel Material hatte.“ Weniger wäre sehr viel mehr gewesen. Preise hat es trotzdem gehagelt: „Hochwald“ wurde mit dem Goldenen Auge des Zürich Film Festivals und dem Großen Diagonale Preis ausgezeichnet. Hauptdarsteller Thomas Prenn gewann den Österreichischen Filmpreis als „Bester männlicher Hauptdarsteller“.

INFOS ZUM FILM

Österreich / Belgien 2020
107 min
Regie Evi Romen
Kinostart 07. Oktober 2021

alle Bilder © Edition Salzgeber

TITANE

TITANE

Alles einsteigen, dabei sein, die nächste Fahrt geht rückwärts! Ein Film wie eine Achterbahnfahrt. Der Versuch, den Inhalt von „Titane“ zu beschreiben: Die kleine Alexia überlebt schwerverletzt einen Autounfall. Im Krankenhaus wird ihr eine Titanplatte in den Schädel geschraubt. Daraufhin entwickelt sie eine sehr innige Beziehung zu Autos, Martin Winterkorn hätte das gefallen. Naheliegend, dass sie sich im Erwachsenenalter ihren Lebensunterhalt als Erotik-Tänzerin bei Motorshows verdient. Eines Abends verlangt ein Fan mehr als ein Autogramm, seine Zudringlichkeit muss er mit dem Leben bezahlen. Um unterzutauchen, nimmt Alexia die Identität eines vor zehn Jahren verschollenen Jungens an. Dessen Vater, Feuerwehrkommandant Vincent, akzeptiert den vermeintlich zurückgekehrten Sohn ohne Zögern. Das seltsame Paar entwickelt eine ganz besondere Eltern-Kind-Beziehung.

So weit, so weird. Vielleicht sollte noch erwähnt werden, dass Alexia eine Serienmörderin ist und nicht in sondern von einem Auto geschwängert wird. Statt Blutungen und Milcheinschuss sondert ihr Körper Motoröl ab. Ja genau, so eine Art Film ist das. Regisseurin Julia Ducournau mag David Cronenberg, Body-Horror und Brutalität. Ein selbst zugefügter Nasenbeinbruch ist nur einer von vielen „Aua, ich kann nicht hinschauen“-Momenten des Films. „Titane“ ist unsinnig, absurd, unterhaltsam, verrückt und poetisch. Der What-the-Fuck-Faktor ist ungefähr so groß wie seinerzeit bei Darren Aronofskys „Mother!“. Das könnte je nach Geschmack zwischen null und fünf Sterne bekommen. Einigen wir uns also auf die goldene Mitte. Eins ist das provokante Gender-Verwirrspiel aber mit Sicherheit nicht: langweilig.

Von der Kritik fast einhellig als Meisterwerk und sogar als „Neuerfindung des Kinos“ gefeiert, gewann der Film dieses Jahr die Goldene Palme in Cannes.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Titane“
Frankreich / Belgien 2021
108 min
Regie Julia Ducournau
Kinostart 07. Oktober 2021

alle Bilder © Koch Films

DUNE

DUNE

Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Wenn an Altkanzler Schmidts Ratschlag etwas dran ist, kann man nur hoffen, dass „Dune“ privat versichert ist. Der Film ist eine einzige Vision. Die meisten der angeteasten Zukunftsträume werden wohl erst im zweiten Teil von Denis Villeneuves Neuverfilmung des unverfilmbarsten Romans aller Zeiten eingelöst.

Wäre „Dune“ eine TV-Serie, die man guten Freunden ans Herz legen möchte, dann würde man sie wahrscheinlich mit den Worten „Du musst die ersten drei Folgen durchhalten, dann wird es gut…“ empfehlen. „Dune“ ist eine Einleitung, ein Vorspiel zu etwas Größerem. Regisseur Villeneuve lässt sich viel Zeit, seine Welten und Charaktere zu entfalten. Bis es richtig losgeht, ist schon mehr als die Hälfte des 155-Minuten-Werks vergangen.

Auch wenn es zwischendurch mal zäh wird, „Dune“ sieht wahnsinnig gut aus. Jedes Einzelbild könnte man sich ausgedruckt an die Wand hängen. Hübsch anzusehen ist auch die Besetzung: Timothée Chalamet hat nicht nur beneidenswert lange Wimpern und eine makellose Haut, er ist zum Glück auch ein ausgezeichneter Schauspieler und verleiht der Rolle des jungen Helden Paul Atreides die notwendige Tiefe und Glaubwürdigkeit. Überhaupt ist das alles schauspielerisch auf höchstem Niveau. Oscar Isaac, Rebecca Ferguson, Charlotte Rampling, Josh Brolin, Javier Bardem – was soll da schon schief gehen? Und sogar der ewige Bro Jason „Aquaman“ Momoa funktioniert hier als sympathischer Comic Relief und Han Solo-Ersatz. Von dessen Leichtigkeit hätte der Film mehr vertragen können, denn Villeneuve nimmt die epische Geschichte vom Kampf um den Spice sehr ernst. Humor hat da nichts verloren. „Dune“ ist mehr machiavellisches Shakespeare-Drama als Star-Wars-Entertainment.

Die 4 Sterne wären locker 5 geworden, ginge es allein um die handwerkliche Umsetzung. Kamera, Sound, Visual Effects, Ausstattung – das ist alles vom Feinsten. Für solche Filme wurde Kino erfunden. Also unbedingt auf der großen Leinwand anschauen! Das Spektakel ist ein visuelles Fest (und klingt auch toll), bleibt aber emotional leicht unterkühlt. So gesehen ist noch Luft nach oben. Da „Dune“ endet, als es gerade erst richtig losgeht, besteht die Hoffnung, dass der nächste Teil schneller zur Sache kommt und die Geschichte packender wird. Bei Star Wars war die Fortsetzung des Originals ja auch der bessere Film.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Dune“
USA 2021
155 min
Regie Denis Villeneuve 
Kinostart 16. September 2021

alle Bilder © Warner Bros. Entertainment Inc.

THE FATHER

THE FATHER

Es war als Höhepunkt der Oscarverleihung 2021 geplant: Ganz am Ende der Show sollte Chadwick Boseman den Preis als bester Hauptdarsteller bekommen, posthum natürlich, Boseman war im August 2020 einem Krebsleiden erlegen. Doch es kam anders: Nicht nur ging die von Steven Soderbergh produzierte Show als die stümperhafteste und langweiligste in die Annalen ein, statt Boseman gewann ein alter weißer CIS-Mann den Oscar für die beste männliche Hauptrolle: Sir Anthony Hopkins.

Nun, da es in Deutschland endlich Gelegenheit gibt, Hopkins in seiner prämierten Rolle zu sehen, wird klar: Den Oscar hat er vollkommen zu Recht bekommen. Hopkins spielt den an Demenz erkrankten Anthony, der in einem Labyrinth aus Verwirrungen, Erinnerungslücken und Halluzinationen gefangen ist. Das Besondere: Florian Zeller lässt die Zuschauer in seinem Regiedebüt die Welt mit Anthonys Augen sehen. Im Gegensatz zu Julianne Moore in „Still Alice“ erhält Anthony keine Diagnose und muss lernen, damit umzugehen – Anthony ist schon krank und hat sich größtenteils von der Realität verabschiedet.

Personen wechseln die Erscheinung, die Einrichtung der Wohnung verändert sich, Gespräche beginnen, enden und wiederholen sich. Mithilfe des raffinierten Setdesigns von Ausstatter Peter Francis gelingt Zeller die Innenansicht eines Bewusstseins in Auflösung. Der Bezug zu Orten, Personen und Zeit kommt und geht, zerrinnt.

„The Father“ ist ein clever konstruiertes, ergreifendes Drama. Ernsthaft und gleichzeitig verrückt, fast so, als habe Michael Haneke eine Twilight Zone-Episode inszeniert. Großartig (wieder mal) auch Olivia Colman als todtraurige Tochter, die ihrem Vater hilflos beim langsamen Verschwinden zusehen muss.

FAZIT

Herzzerreißend.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „The Father“
UK 2020
97 min
Regie Florian Zeller
Kinostart 26. August 2021

alle Bilder © TOBIS FILM GMBH

BEFLÜGELT – EIN VOGEL NAMENS PENGUIN BLOOM

BEFLÜGELT – EIN VOGEL NAMENS PENGUIN BLOOM

Sam Bloom (Naomi Watts) führt mit ihrem Mann Cameron (Andrew Lincoln) und ihren drei Söhnen ein beneidenswert glückliches Leben in Australien. Herrliches Haus direkt am Meer – perfekt, denn Sam ist leidenschaftliche Surferin. Alles könnte so schön sein, bis eines Tages ein Unfall das Leben der Familie erschüttert. Sam bricht sich das Rückgrat und ist danach von der Brust abwärts gelähmt. Aus ihrer Depression und Verbitterung können ihr weder Mann noch Kinder heraushelfen. Erst ein adoptierter Flötenvogel (heißt so, ist aber nur eine Krähe, die sich für was Besseres hält) verleiht der Gelähmten wieder Zuversicht und holt sie ins Leben zurück.

Okay, das klingt wirklich furchtbar: Ein Vogel, der „Flügel“ verleiht. Aber „Penguin Bloom“, wie der Film viel weniger peinlich im Original heißt, ist ein überraschend unkitschiges Drama mit herausragender Besetzung. Andrew Lincoln hat sich sichtlich von der jahrelangen Zombiejagd erholt, die drei Kinder machen ihre Sache ausgezeichnet und vor allem Naomi Watts verleiht der Geschichte mit ihrem leisen, zurückhaltenden Spiel die nötige Erdung. Mit anderer Besetzung hätte das auch gründlich schiefgehen können. Jeder Sonntagabend auf dem ZDF ist dafür Beweis.

Eine gelähmte Mutter, die sich zurück kämpft – das wäre Stoff genug für einen abendfüllenden Film gewesen. Die inspirierende Krähe hätte es da gar nicht gebraucht. Doch Sam Blooms Geschichte ist wahr. Dass ihr bei ihrem Weg aus der Depression ein Vogel zur Seite stand – das hat sich kein Drehbuchautor, sondern das Leben ausgedacht.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Penguin Bloom“
USA / Australien 2020
95 min
Regie Glendyn Ivin
Kinostart 19. August 2021

alle Bilder © Leonine

NAHSCHUSS

NAHSCHUSS

Die DDR, eine Sinfonie in Beige. Wer den Geruch von Wofasept und das Kratzen von Dederon vermisst, wer überhaupt findet, dass das Leben viel zu bunt ist, der kann jetzt im Kino eine kleine Zeitreise zurück in die Deutsche Demokratische Republik anno 1981 machen.

„Nahschuss“ – der Titel bezieht sich auf eine Hinrichtungsmethode, bei der dem Verurteilten hinterrücks direkt ins Genick geschossen wurde – lässt von der ersten Einstellung an keinen Zweifel aufkommen: Das wird schlecht enden.
Werner Teske war am 26. Juni 1981 der letzte DDR-Bürger, an dem die Todesstrafe vollstreckt wurde. „Nahschuss“ ist von seiner Geschichte inspiriert.

Der Ingenieur Franz Walter (Lars Eidinger) ist überglücklich, als ihm seine Professorin eröffnet, er sei als ihr Nachfolger im Gespräch. Im Gegenzug soll er beim Auslandsnachrichtendienst der DDR tätig werden. Zusammen mit seinem Kollegen Dirk (Devid Striesow) wird er zu Einsätzen in die feindliche BRD geschickt. Anfangs noch ganz pflichtbewusster Sozialist, erwecken die menschenverachtenden Methoden der Stasi bei Franz bald tiefsten Widerwillen und lösen eine Depression aus. Selbst seine Frau Corina (Luise Heyer) dringt kaum noch zu ihm durch. Franz will aussteigen, raus aus dem System, doch es gibt keinen Weg.

Von Ostalgie keine Spur. Franziska Stünkels Film ist eine Abrechnung mit einem Unrechtssystem, in dem die Methoden des Nationalsozialismus unter neuem politischen Deckmantel fortgesetzt wurden. Deutschlands fleißigster Schauspieler Lars Eidinger spielt Franz Walter leise und zurückhaltend. Er macht nachvollziehbar, in welchen Zwängen sich Menschen in der DDR ausgesetzt sahen, egal ob sie für oder gegen den Staat waren. Ganz hervorragend auch Devid Striesow als dubioser Stasi-Kollege, der sich zwar linientreu gibt, aber gleichzeitig den Verlockungen des Westens nicht widerstehen kann. Luise Heyer macht mit ihrer nuancierten Darstellung das herausragende Trio komplett.
„Nahschuss“ ist ein düsterer, sehr ernsthafter Film über ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte.

INFOS ZUM FILM

Deutschland 2020
116 min
Regie Franziska Stünkel
Kinostart 12. August 2021

alle Bilder © Alamode Film

MATTHIAS & MAXIME

MATTHIAS & MAXIME

Nach fünf kleinen und großen Meisterwerken wurde der frankokanadische Wunderkind-Regisseur Xavier Dolan für seine letzten beiden Filme von der Kritik geschlachtet. Dabei gehört es zur selbstverständlichen Entwicklung eines jungen Filmemachers, auch mal was verhauen zu dürfen. 2019 hat sich Dolan mit „Matthias & Maxime“ wieder seiner ursprünglichen Stärken besonnen und liefert eine Art „Best of“ ab: Viele der Versatzstücke dürften treuen Fans bekannt vorkommen.

Matthias und Maxime, beide Ende 20, sind seit ihrer Kindheit Freunde. Der selbstbewußte Matthias (Gabriel D’Almeida Freitas) stammt aus reichem Elternhaus, macht im Leben auf den ersten Blick hin alles richtig: hübsche Freundin, Karriere, Maßanzüge.
Außenseiter Maxime (Dolan, mit symbolisch dick aufgetragenem Feuermal im Gesicht) ist eher der schüchterne Typ. Bald plant er, seine Heimatstadt Montreal in Richtung Australien zu verlassen, hofft dort auf einen Neuanfang, um sich vor allem aus den Fängen seiner toxischen Mutterbeziehung zu lösen. 
Als Matthias und Maxime auf einer Party von einem Mädchen genötigt werden, in einem Kurzfilm für die Uni mitzuspielen und sich dafür vor der Kamera küssen sollen, hat das für beide unerwartete Folgen.

Wer hätte geahnt, dass ein kleiner Kuss unter Freunden solch große Auswirkungen haben kann? Dolan schafft es, aus einer nichtigen Geschichte einen abendfüllenden Spielfilm zu zaubern. „Matthias & Maxime“ berührt dabei viele Themen: das Ende der Jugend, unterdrückte Liebe und den unheilvollen Einfluss, den Mütter auf das Leben ihrer Kinder ausüben können (ein Dolan-Klassiker). Entscheidend ist wie immer die Form: Die ästhetische Bildsprache, der gekonnte Einsatz von Musik und das authentische Schauspiel überwiegen ein paar zu lange, pubertär-unlustige Partyszenen.

FAZIT

„Matthias & Maxime“ ist zwar etwas konventioneller geraten und reicht nicht ganz an die Klasse von Dolans letztem großen Erfolg „Mommy“ heran – ist aber ein vielversprechender Schritt zurück zur alten Form.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Matthias et Maxime“
Kanada / Frankreich 2019
119 min
Regie Xavier Dolan
Kinostart 29. Juli 2021

alle Bilder © CINEMIEN

MUSIC

Zwei schlechte Schauspielerinnen auf der Höhe ihres Nicht-Könnens: Kate Hudson spielt, von einem frechen Kurzhaarschnitt entstellt, die Drogendealerin Zu, die unerwartet die Vormundschaft für ihre autistische Schwester Music (Maddie Ziegler) übernehmen muss. Zunächst völlig überfordert, schafft sie es mithilfe eines freundlichen Nachbarns, die schwierige Familiensituation zum Besseren zu wenden. Die Moral von der Geschicht‘ – an seinen Aufgaben wächst man.

Das Regiedebüt des australischen Multitalents Sia Furler besteht aus zwei sehr unterschiedlichen Filmen, die weder für sich genommen und schon gar nicht als Ganzes funktionieren. Einerseits die Welt in Musics Kopf: Alberne Gesangs- und Tanznummern, als hätten die Kostüm- und Set-Abteilung gemeinsam einen LSD-Trip geschmissen. Andererseits die Welt da draußen: ein abgedroschenes Drama mit jeder Menge Anleihen an „Rain-Man“. Wie dort dient der autistische Charakter vor allem dazu, einen Egomanen zu läutern und zu einem besseren Menschen zu machen. Im Unterschied zu „Music“ konnte das Barry-Levinson-Drama von 1988 allerdings mit souveräner Regie und zwei herausragenden Darstellern punkten.

Maddie Ziegler fehlt das schauspielerische Können, dem autistischen Mädchen die nötige Authentizität zu verleihen. Die Entscheidung, Ziegler gleich in der Vorspann-Sequenz als „normale“ Person in einer Musicalnummer zu präsentieren, macht die Sache nicht besser. Danach sieht man nur noch das bemühte Schauspiel. Ein bisschen Schreien, kläffendes Lachen und mit gebleckten Zähnen in die Gegend starren genügen nicht, der Jungschauspielerin ihre Rolle abzunehmen.

„Music“ funktioniert höchstens als Vehikel für die Songs der australischen Sängerin Sia. Die sind schön catchy, den Rest hätte es nicht gebraucht.

FAZIT

Musikvideo mit eingeschobener Handlung.

INFOS ZUM FILM

Originaltitel „Music“
USA 2020
107 min
Regie Sia
ab 12. Februar 2021 als VoD
ab 05. März als DVD und Blu-ray

alle Bilder © Alamode

JOJO RABBIT

Irgendwo in einem bayerischen Phantasiedorf, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs: Die Welt des 10-jährigen Mini-Nazis Jojo wird auf den Kopf gestellt, als er entdeckt, dass seine Mutter ein jüdisches Mädchen im Haus versteckt hält. Mithilfe seines imaginären Freundes Adolf Hitler muss sich Jojo seinem blinden Nationalismus stellen.

Satire oder Drama? „Jojo Rabbit“ bleibt bis zum Schluss unentschieden. Für beides reicht es nicht so recht, der Film hat weder genug Tiefe, um wirklich zu berühren, noch ist er – bis auf ein paar Szenen – besonders lustig. Schauspielerisch gibt’s nichts auszusetzen: Sam Rockwell, Rebel Wilson und Stephen Merchant glänzen in Nebenrollen, Roman Griffin Davis als Jojo ist eine Entdeckung und Scarlett Johansson war lange nicht so gut wie in diesem Film. Regisseur Waititi in der Rolle des durchgedrehten Führers ist anfangs noch ganz spaßig, doch nach ein paar Auftritten zu viel nervt der clowneske Gröfaz. 

Hätte sich Wes Anderson des Stoffes angenommen, wäre daraus vielleicht ein richtig schräger, besserer Film geworden. So aber bleibt die Geschichte vom fanatischen Jungen, durch dessen Augen der Zuschauer den Zweiten Weltkrieg erlebt, gut gemeint, doch letztendlich enttäuschend.

FAZIT

Nach all dem Hype: ein herzliches „geht so“.

Originaltitel „Jojo Rabbit“
USA 2019
108 min
Regie Taika Waititi
Kinostart 23. Januar 2020

STAR WARS: DER AUFSTIEG SKYWALKERS

Liebgewonnene Rituale zum Jahresende: Ein neuer Star Wars-Film kommt in die Kinos und es ist Zeit für die unvermeidliche Best- und Worst-of-Liste. Selbstredend rein subjektiv. Es soll ja Zuschauer geben, die bei „Once upon a time in…Hollywood“ nach 90 Minuten das Kino verlassen, weil es ihnen zu langweilig ist. Genauso wie einige Kritiker „Der goldene Handschuh“ für eine gelungene Romanverfilmung halten. Liegt alles im Auge des Betrachters. Hier also die 2019 Top- und Flop-Liste von framerate:

Die besten 6

Parasite
Once upon a time in…Hollywood
Systemsprenger
Leid und Herrlichkeit
Capernaum – Stadt der Hoffnung
Joker

Die schlechtesten 3

Iron Sky: The Coming Race
Hellboy – Call of Darkness
Der goldene Handschuh

FAZIT

Ach ja, Star Wars. Hat man einen gesehen, hat man alle gesehen. Von den drei Sequels ist „Der Aufstieg Skywalkers“ auch nicht besser oder schlechter als die anderen Teile. Eine Mischung aus Sci-Fi, Märchen und Drama, leidlich spannend und mit zahlreichen Zitaten und Verweisen auf die immer noch weit überlegene Original-Trilogie gespickt. Ganz unterhaltsames Popcorn-Kino, alles schon mal dagewesen.

Originaltitel „Star Wars: The Rise of Skywalker“
USA 2019
144 min
Regie J.J. Abrams
Kinostart 18. Dezember 2019

MY ZOE

Das Feel-Bad-Movie of the Year kommt dieses Jahr von Schauspielerin und Regisseurin Julie Delpy.

Die Französin Isabelle (Julie Delpy) arbeitet als Genetikerin in Berlin, irgendwann in naher Zukunft.  Von ihrem Ex-Mann James lebt sie in herzlicher Abneigung getrennt. Die meiste Zeit streiten sich die beiden um das Sorgerecht für ihre Tochter Zoe. Eines Tages geschieht die Katastrophe: das Mädchen verletzt sich am Kopf, fällt ins Koma, stirbt. Isabelle bittet einen Reproduktionsmediziner um Hilfe. Eine folgenschwere Entscheidung.

Klonen mal ganz anders. Kein Science-Fiction-Actionkracher a la „The Island“ oder „Gemini Man“, sondern ein stiller, zurückhaltend inszenierter Arthouse-Film zum Thema. Regisseurin Julie Delpy versteht es, den universellen Albtraum aller Eltern – den Verlust ihres Kindes – glaubhaft und eindringlich darzustellen. Doch im Fortgang der Geschichte geht es ihr mehr um die Beantwortung der ethischen und moralischen Frage: Ist das Klonen eines geliebten Menschen nach dessen Tod richtig? Das ist zwar ein interessantes Gedankenspiel, doch die Handlung und das Handeln der Figuren wird immer abstrakter und unglaubwürdiger, die Distanz des Zuschauers wächst.

FAZIT

Aufwühlend in der ersten, zu konstruiert und der zweiten Hälfte. Zwiespältig.

Originaltitel „My Zoe
England / Deutschland / Frankreich 2019
102 min
Regie Julie Delpy
Kinostart 14. November 2019

LARA

Die Fassaden von warmem Herbstlicht beleuchtet, die Restaurants und Bars so gediegen-chic, als wären sie am Fuße des Eiffelturms gelegen und selbst der in garstigem 70er-Jahre Design erstarrte Feinkostladen Rogacki wirkt großstädtisch, wenn er von Kameramann Frank Griebe in Szene gesetzt wird. Selten sah das gute alte West-Berlin ästhetischer und schöner aus als in „Lara“. Die Liebe zum Stil setzt sich über die Kostüme und die Musik bis zur Besetzung fort. Alexander Khuon, Gudrun Ritter, Rainer Bock, Volkmar Kleinert: In Nebenrollen ist das Who is Who der deutschen Theaterszene versammelt. Passenderweise, denn der neue Film von Regisseur Jan-Ole Gerster wirkt in weiten Teilen wie ein verfilmtes Theaterstück.

Ein Tag in einem Leben: An Laras sechzigstem Geburtstag gibt ihr Sohn Viktor sein erstes Klavierkonzert mit Eigenkompositionen. Gestreng wie eine russische Eiskunstlauf-Trainerin hat Lara Viktors musikalischen Werdegang seit frühester Kindheit forciert. Corinna Harfouch spielt die emotional verhärtete Frau brillant. Sie umstrahlt eine traurig-abweisende Aura der Einsamkeit, wie sie sonst nur Isabell Huppert zu erzeugen vermag. Wer sich Lara annähert, wird kühl ignoriert oder notfalls mit messerscharfen Bemerkungen zurechtgewiesen. Mit der Zeit hat sie so nicht nur Kollegen und Freunde, sondern auch die eigene Familie ausgegrenzt.

Regisseur Gerster will erwachsen werden. Nach siebenjähriger Pause beherrscht er die Klaviatur des Filmemachens nach wie vor souverän. Doch hat er den lakonischen Humor seines kongenialen Erstlingswerks „Oh Boy“ diesmal zugunsten einer angestrengten Ernsthaftigkeit ausgetauscht. Das Mutter-Sohn-Drama ist eine in Stil erstarrte Fingerübung. „Lara“ wäre als interessanter Kurzfilm durchgegangen, wirkt aber auf Spielfilmlänge gestreckt arg manieriert.

FAZIT

Tolle Hauptdarstellerin in einem bemüht künstlerisch wertvollen Film.

Deutschland 2019
98 min
Regie Jan-Ole Gerster
Kinostart 07. November 2019

GELOBT SEI GOTT

Gequälte Kinder: François Ozons neuer Film erzählt von den Opfern des Paters Bernard Preynat, der 2016 wegen sexueller Übergriffe auf rund 70 Jungen angeklagt wurde.
Die meisten der Fälle sind mittlerweile verjährt. Stellvertretend beleuchtet „Gelobt sei Gott“ das Schicksal dreier erwachsener Männer, die es erst nach vielen Jahren schaffen, sich ihrem Dämon zu stellen. Sie leiden bis heute unter den Verletzungen, die ihnen der Pater ungehindert zufügen konnte. Und das trotz zahlreicher Hinweise und Beschwerden von Eltern.
Das nüchtern inszenierte Drama prangert nicht nur den Priester, sondern vor allem das Schweigen der Kirche insgesamt an. 

FAZIT

Souverän und unaufgeregt  – dadurch umso eindringlicher. Wichtiger Film zu einem lange verschwiegenen Thema. 

Originaltitel „Grâce à Dieu“
Frankreich 2019
137 min
Regie François Ozon
Kinostart 26. September 2019

GLORIA – DAS LEBEN WARTET NICHT

Als sich Juliane Moore und Regisseur Sebastián Leila 2015 in Paris kennenlernen, ist es berufliche Liebe auf den ersten Blick. Sie versichert ihm, wie fantastisch sie seinen Film „Gloria“ findet (Berlinale Gewinner „Beste Hauptdarstellerin“ 2013) und er beteuert seine große Bewunderung für ihre Schauspielkunst. Die beiden beschließen, gemeinsam eine Neuversion von „Gloria“ zu machen.

Die zwei erwachsenen Kinder sind aus dem Haus und haben mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, der Job ist keine große Herausforderung. Gloria Bell (Julianne Moore) ist seit 12 Jahren geschieden und führt ein etwas einsames, aber glückliches Singledasein in Los Angeles. Um ein bisschen Spaß zu haben, taucht die attraktive Mittfünfzigerin in das Nachtleben von Los Angeles ab. In den Ü-40-Clubs kann sie zu 70er und 80er Jahre-Hits ausgelassen tanzen und lernt dabei nebenbei Männer kennen. Eines Abends trifft sie auf Arnold (John Turturro), einen Ex-Marine, ebenfalls geschieden. Die beiden beginnen eine leidenschaftliche Affäre.

Die Story in einem Satz: Das Porträt einer freigeistigen Frau, die sich in den falschen Kerl verliebt. „Gloria – Das Leben wartet nicht“ ist ein Film mit langem Titel und wenig Inhalt. In 102 Minuten passiert im Grunde nichts. Gloria ist nett, zu allen freundlich und hilfsbereit, während sich die egoistischen Männer um sie herum wie ungezogene Kleinkinder benehmen. Die Erkenntnis: Frauen sind die besseren Menschen, gütig, mild und weise. Amen. 

FAZIT

Der Film ist eine Liebeserklärung an Julianne Moore; die Schauspielerin beherrscht jede Szene, alles ist vollkommen auf sie fokussiert. Für so was werden Oscars vergeben. 

Originaltitel „Gloria Bell“
USA 2018
102 min
Regie Sebastián Lelio
Kinostart 22. August 2019

Die unglaublichen Abenteuer von Bella

Lucas, der irritierenderweise wie die erwachsene Version von Heintje aussieht, lebt noch bei seiner Mutter, obwohl er schon locker Mitte 20 ist. Die ist Kriegsveteranin (Ashley Judd, selten war eine Rolle fehlbesetzter) und hat, wie ihr Sohn, ein großes Herz für Tiere. Da passt es gut, dass Lucas’ Hobby die Rettung von herrenlosen Katzen und Hunden ist. So gerät er an Bella, einen niedlichen Rottweilerwelpen. Die beiden werden ein Paar.
Wegen komplizierter (und uninteressanter) Umstände – es hat etwas mit einem städtischen Gesetz zu tun, das verbietet, Rottweiler auf die Straße zu lassen, weshalb Mutter und Sohn umziehen müssen – wird Bella für ein paar Tage zu Freunden aufs Land gegeben. Das kann sie beim besten Willen nicht verstehen und beschließt – in alter Lassie-Tradition – wieder zurück nach Hause, zu ihrem Herrchen zu laufen.
Die Reise dauert über zwei Jahre. Unterwegs durchlebt und -leidet Bella allerhand Abenteuer. So trifft sie unter anderem auf eine (offensichtlich computeranimierte) Wildkatze, mit der sie sich eine zeitlang anfreundet.
Zwischendurch wird Bella von einem schwulen Paar adoptiert, aber ihre Sehnsucht nach Heintje Lucas ist so groß, dass sie (unverständlicherweise) aus dem sehr geschmackvollen Haus der beiden Männer, in dem sie auch noch mit Liebe überschüttet wird, ausbüxt. Das verstehe, wer will – aber wer kann schon in einen Hundekopf schauen?

Die unglaublichen Abenteuer von Bella ist ein Film, der Fragen aufwirft.
War es die Idee von Regisseur Charles Martin Smith oder war es eine nach den Testscreenings gefällte Entscheidung, Bella eine Stimme zu geben? Es ist nun nicht so, dass die Hündin, wie seinerzeit Schweinchen Babe, die Lippen bewegt und wirklich spricht, aber man hört ständig ihre Gedanken. Und die sind nicht besonders tiefgründig. Dabei ist es wissenschaftlich erwiesen, dass Hunde hochintelligent sind. Bella hingegen scheint nicht die hellste Kerze auf der Torte zu sein. In der Originalversion spricht Bryce Dallas Howard erschütternd banale Sätze mit einer solch nervigen Naivität ein, dass man sich sehnlichst wünscht, diesen Teil der Tonspur stumm stellen zu können. Vielleicht rettet es ja diesmal die deutsche Synchronisation.

Unbeantwortet bleibt auch die Frage, was mit dem Gesicht von Ashley Judd passiert ist und ob sie ihren Schönheitschirurgen erfolgreich verklagt hat.

FAZIT

Kann sein, dass SEHR kleine Kinder an Die unglaublichen Abenteuer von Bella ihren Spaß haben.

USA, 2018
95 min
Regie Charles Martin Smith
Kinostart 24. Januar 2019

Boys in trouble

Diesmal drei Filme zum Thema „Jungs in Schwierigkeiten“:

Beautiful Boy

Nic steht die Welt offen. Er ist kreativ, schlau, hübsch, ein guter Schüler und könnte ein sorgloses Leben bei seinen wohlhabenden Eltern führen. Wie ein privilegierter Teenager als Crystal Meth-Junkie enden und welche verheerenden Auswirkungen das auf die ganze Familie haben kann, davon erzählt Felix Van Groenings neuer Film.
Beautiful Boy basiert auf gleich zwei Büchern: dem eines verständnisvollen Vaters und dem seines drogensüchtigen Sohns. Beide beschreiben jeweils aus ihrer Sicht den sich wiederholenden Kreislauf von Sucht, Entzug und Rückfall. Ein interessanter Ansatz, aber zugleich auch das große Problem des Films: wenn sich Nic zum x-ten Male eine Spritze in die salzstangendünnen Arme setzt, hat sich die Empathie des Zuschauers irgendwann aufgebraucht. Die Geschichte wiederholt sich wieder und wieder und dabei bleibt das Interesse am Schicksal der Figuren auf der Strecke. Auch tut dem Film seine anstrengende, in der Zeit springende Erzählweise nicht gut.
Sehenswert machen das Ganze nur die Darsteller: Steve Carell spielt den Vater angenehm zurückhaltend und Jungstar Timothée Chalamet schafft es, seine Figur gerade noch zerbrechlich liebenswert und schon in der nächsten Szene abgestumpft und unsympathisch erscheinen zu lassen.

Eine ähnliche und doch ganz andere Geschichte erzählt

Ben is back

Ben (Lucas Hedges) kehrt am Weihnachtsabend überraschend aus der Entzugsklinik zu seiner Familie zurück. Seine Mutter Holly (Julia Roberts) freut sich zwar, ist aber gleichzeitig verunsichert, denn ihr Sohn hat auf eigenen Wunsch hin die Therapie unterbrochen.
Den Schmuck und die Medikamente im Badezimmer versteckt sie vorsichtshalber, Schwester und Stiefvater bleiben skeptisch. Sie haben dem Junkie schon zu oft vertraut und sind dann doch belogen und enttäuscht worden. Holly beschließt, nicht mehr von der Seite ihres Sohns zu weichen, um so einen möglichen Rückfall zu verhindern.
Während Beautiful Boy vom Auf und Ab einer Eltern-Junkiekind-Beziehung über Jahre hinweg erzählt, konzentriert sich Ben is back auf 24 Stunden im Leben seiner Protagonisten. In diesem kurzen Zeitfenster wird die Mutter/Sohn-Beziehung auf eine harte Probe gestellt. Holly erfährt in einer schicksalshaften Nacht mehr über Ben und seine Vergangenheit, als ihr lieb ist.
Julia Roberts überzeugt mit ihrer bewegenden Performance einer  verzweifelten Mutter, die um jeden Preis ihren Sohn retten will. In der zweiten Hälfte wandelt sich Ben is back von der Charakterstudie überraschend zum düsteren Thriller. Sehenswert. 

Wieder neunzehn Jahre alt. Wieder Lucas Hedges. Diesmal nicht als Ex-Junkie, sondern als schwuler Teenager in

Der verlorene Sohn (Boy erased)

Jared (Lucas Hedges), der Sohn eines Baptistenpredigers in Arkansas – mitten im Bible Belt der USA – outet sich gegenüber seinen strenggläubigen Eltern (Nicole Kidman und Russell Crowe) als schwul. Keine gute Idee. Die drängen ihn daraufhin an einem Umerziehungsprogramm teilzunehmen, um so von seiner Homosexualität „geheilt“ zu werden. Andernfalls werde er aus der Familie und Gemeinde ausgeschlossen.

Die Geschichte vom sexuellen Exorzismus basiert auf den Memoiren von Garrard Conley, der sich in seiner Jugend in die unguten Hände der Konversionsorganisation „Love in Action“ begab. Dass es solche zweifelhaften Vereine im konservativen Amerika tatsächlich immer noch gibt, ist schlimm. Über diesen Missstand einen Film zu machen, ist ehrenwert und löblich.
Und trotzdem: obwohl Der verlorene Sohn herausragend besetzt ist und sich sehr ernsthaft mit seinem Thema auseinandersetzt, ist es leider kein empfehlenswerter Film geworden. Zu zäh, zu kühl, zu trist erzählt Regisseur Joel Edgerton die doch eigentlich ergreifende Geschichte vom gepeinigten Teenager. Die Figuren bleiben eindimensional, der Blick auf sie zu distanziert. Die erlebten Qualen in der Umerziehungshölle befremden zwar, lassen aber trotzdem kalt.
Wie bei Beautiful Boy wird auf eine lineare Erzählweise verzichtet. Der Geschichte mit ihren verschachtelten Rückblenden ist deshalb auch hier bisweilen schwer zu folgen. Vielleicht liegt die sich einstellende Langeweile aber auch an dem visuellen Grauschleier, der den ganzen Film überzieht.

FAZIT

Drei neue Filme über Jungs in Schwierigkeiten, dreimal naja. Am empfehlenswertesten ist Ben is back, wegen einer überragenden Julia Roberts.

Beautiful Boy
USA, 2018
121 min
Regie Felix Van Groeningen
Kinostart 24. Januar 2019

Ben is back
USA, 2018
102 min
Regie Peter Hedges
Kinostart 10. Januar 2019

Der verlorene Sohn (Boy erased)
USA, 2018
115 min
Regie Joel Edgerton
Kinostart 21. Februar 2019

Capernaum – Stadt der Hoffnung

⭐️⭐️⭐️⭐️

Zain ist geschätzte zwölf Jahre alt, so genau weiß das niemand, nicht einmal er selbst. Nun steht er vor Gericht, verklagt seine Eltern, weil sie ihn auf die Welt gebracht haben. In Rückblenden erzählt der Film die Kindheit des scheinbar chancenlosen Jungen in den Armenvierteln von Beirut.

Wie schwer kann man sich einen Filmdreh machen? Auf einer Skala von 1 bis 10 hat sich die libanesische Regisseurin Nadine Labaki für eine 11 entschieden: Kinder, ja sogar Babys in den Hauptrollen und das Ganze an Originalschauplätzen gedreht. Sowas könnte auch gründlich schiefgehen und mit einem wackeligen Video-Handkameralook zur Qual für den Zuschauer werden. Ganz anders hier. Die Bilder sind poetisch-schön fotografiert und die – zum großen Teil – Laienschauspieler überzeugen durchweg. Der zur Drehzeit tatsächlich erst zwölfjährige Zain Al Rafeea spielt seine Rolle wahrhaft und unglaublich präzise. Capernaum – Stadt der Hoffnung ist ein beeindruckender Film voller Energie.

FAZIT

Die außergewöhnliche Geschichte eines außergewöhnlichen Jungen, der unbeirrt ums Überleben kämpft. Ein bewegendes, realistisches Drama und eine kleine Lektion in Demut.

Libanon, 2018
Regie Nadine Labaki
123 min
Kinostart 17. Januar 2019

Fahrenheit 11/9

⭐️⭐️⭐️⭐️

Haha, ach so: 11/9, nicht 9/11, weil da ja auch eine Katastrophe historischen Ausmaßes geschehen ist: die Wahl zum aktuellen amerikanischen Präsidenten.

Die welterschütternde Nachricht, dass Donald Trump entgegen aller anderslautenden Vorhersagen zum 45. Präsident der Vereinigten Staaten gewählt wurde, bildet aber nur die Rahmenhandlung des neuesten Dokumentarfilms von Michael Moore. Interessanter ist die eher nebenbei erzählte Geschichte des Skandals von Flint. Flint? Nie gehört? Da wurde auf Anweisung des mit Trump befreundeten Gouverneurs Rick Snyder bleiverseuchtes Trinkwasser in die Leitungen gepumpt und so die Einwohner der US-Kleinstadt – und vor allem deren Kinder – vergiftet. Gipfel des Zynismus: die im Ort ansässigen GM-Werke wurden weiterhin mit klarem, unbelasteten Wasser versorgt. Die hohe Bleikonzentration wäre zu schädlich für die Autokarosserien gewesen.

„Real power is fear“, sagt US-Journalist Bob Woodward. Auf dieser Erkenntnis basiert das System „Donald Trump“. Aber auch die Angst lässt irgendwann nach. Mittlerweile sorgen das Twitterdauerfeuer und die fortwährenden Grenzüberschreitungen des guten Geschmacks bei den meisten nur noch für  fatalistisches Schulterzucken. Deshalb schadet es nichts, hier nochmals all die minderheitsfeindlichen und rassistischen Unverschämtheiten hintereinanderweg im Originalton zu hören. Das ist in dieser Geballtheit wirklich erschütternd. Nicht überraschend, dass der verrückte Ex-Immobilienmogul klar dem Feindbild von Michael Moore entspricht. Erstaunlich aber, dass diesmal auch die vermeintlich Guten ihr Fett wegkriegen: überraschenderweise Michael Moore selbst in ungewohnter Selbstkritik, Hillary Clinton, die Demokraten ganz allgemein, The New York Times und sogar Barack Obama werden bloßgestellt. Niemandem ist wirklich zu trauen, so die Aussage des Filmemachers.

Michael Moore, ein Künstler im Vermischen von provokanten Facts und Fiction, setzt wie immer gekonnt seine eigene Wahrheit aus Bildschnipseln und Soundbites zusammen; man kann gar nicht anders, als das schnelle Ende der Welt, oder zumindest das der Menschheit, diesem korrupten Haufen, herbeizusehen. Auch so funktioniert Manipulation.

FAZIT

Trotz handwerklicher Schludrigkeit, Erkenntnis eröffnende zwei Stunden.

USA, 2018
Regie Michael Moore
128 min
Kinostart 17. Januar 2019

Alles ist gut

★★

Eine Nacht, ein falscher Abzweig: Janne (Aenne Schwarz) und Martin (Hans Löw) begegnen sich nach Jahren bei einem Klassentreffen wieder. Ein bisschen zu viel Alkohol, angetrunkenes Rumschäkern, noch zusammen nach Hause gehen. Aber dann verrutscht etwas: aufgegeilt und in seiner Mannesehre gekränkt, zwingt Martin Janne zum Sex. Er hört nicht auf, obwohl die klare Botschaft „Nein“ heißt. So banal und alltäglich.

Danach ist nichts mehr gut: Janne versucht zwar das Geschehene intellektuell zu bewältigen, hat jedoch letztendlich keinen Einfluss darauf, was ihr widerfährt und wie sie darauf reagiert. Anfangs versucht sie noch, die seelische Verletzung wegzulächeln. Aber nach und nach bricht sich der unterdrückte Schmerz seine Bahn.

MACHART

Das Beste an „Alles ist gut“ ist seine Hauptdarstellerin: Aenna Schwarz als Janne. Die Burgschauspielerin schafft es, innerhalb einer Szene zwischen derber Rotzigkeit und großer Verletzlichkeit zu changieren. Aber das alleine hilft nicht: der spröde Realismus der Inszenierung ist stellenweise schwer zu ertragen. Und der dogmatische Stil. mit seinem kompletten Verzicht auf  Musik (es sei denn, sie ist Teil der Szene), macht den Film auch nicht unbedingt zugänglicher.

Es bleibt das beklemmende Gefühl, fremden Menschen unfreiwillig bei ihrem intimsten Privatleben zuschauen zu müssen.

FAZIT

Voyeurismus für Fortgeschrittene. Ein insgesamt eher quälendes Erlebnis.

Deutschland, 2018
Regie Eva Trobisch
93 min
Kinostart 27. September 2018

Ballon

★★★★

1979 gelang den Familien Strelzyk und Wetzel die gemeinsame Flucht aus der DDR – auf denkbar spektakuläre Weise mit einem selbstgenähten Heißluftballon.

MACHART

Die vor den 70er Jahren Geborenen erinnern sich, zumindest im Westen:
1979 war das die Exklusivgeschichte im Magazin STERN.

3 Jahre später nahm sich Hollywood der Verfilmung des Stoffes an. Aber schon damals, noch viele Jahre vor dem Mauerfall, ahnte man, dass dies eher eine unauthentische Disney-Interpretation der DDR war und nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun haben konnte.

Nun also fast 40 Jahre später Michael Bully Herbigs Version. Und die ist (wieder) Hollywoodkino in Reinform, nur dass das diesmal bitte als Lob zu verstehen ist. Obwohl der Ausgang der Geschichte hinlänglich bekannt ist, bleibt der Film durchweg spannend und hält sein Tempo vom Anfang bis zum Ende. Wie eine tickende Zeitbombe entwickelt sich das Fluchtdrama; vom ersten gescheiterten Versuch, über die allgegenwärtige Furcht von der Stasi entdeckt zu werden, bis zum glücklichen Ende. Es gibt nichts zu meckern an „Ballon“: liebevolle Ausstattung, hervorragende Darsteller, treibende Musik, Spannung bis zuletzt. Bully Herbig ist ein perfekter Actionthriller geglückt.

FAZIT

Sehr amerikanisch professionell und dabei trotzdem – auf gute Art – ganz und gar deutsch.

Deutschland, 2018
Regie Michael Bully Herbig
120 min
Kinostart 27. September 2018

Werk ohne Autor

★★★★

Elisabeth (Saskia Rosendahl) liebt ihren kleinen Neffen Kurt über alles. Doch die unkonventionelle junge Frau lebt in gefährlichen Zeiten. Während des Nationalsozialismus wird sie als schizophren diagnostiziert und später in einer Anstalt vergast. Die Folgen dieses grausamen Verbrechens begleiten Kurt (Tom Schilling) ein Leben lang.

Als junger Mann beginnt er nach dem Ende des 2. Weltkriegs eine Ausbildung an der Kunsthochschule Dresden. Hier trifft er auf Ellie (Paula Beer), die beiden verlieben sich. Ellies Vater (Sebastian Koch) ist Professor Seeband, ein erfolgreicher Arzt und früherer Nazioffizier, dessen Geschichte unheilvoll mit Kurts Schicksal verknüpft ist. Nach dem Studium in der DDR wird Kurt zunächst Auftragskünstler für sozialistischen Realismus. Kurz vor Mauerbau flieht er mit Ellie in die BRD. Im Düsseldorf der 60er und frühen 70er Jahre beginnt sein Aufstieg zu einem der bekanntesten Maler seiner Generation. „Werk ohne Autor“ basiert lose auf der Lebensgeschichte des Künstlers Gerhard Richter.

MACHART

Ja, schon wieder eine Künstlerbiografie. Aber was für eine: „Werk ohne Autor“ ist zwar stellenweise grandioser Kitsch, aber auch großes, packendes Kino geworden. Mit seinem dritten Spielfilm wollte Oscarpreisträger Florian Henckel von Donnersmarck keine kleinen Brötchen backen. Sex, Liebe, Kunst, Gewalt, Verbrechen, Wahnsinn, Nationalsozialismus, Krieg, deutsch-deutsche Geschichte. Das alles hat der Regisseur in sein episches, 188 Minuten langes Rehabilitationswerk gesteckt.

Ausstattung und Inszenierung bewegen sich auf höchstem Niveau. Tom Schilling, Paula Beer, Oliver Mascuti, Hanno Koffler, Lars Eidinger, Ben Becker, und, und, und. Die Schauspieler sind erste Garde und durchweg hervorragend, werden aber alle von Sebastian Koch als Professor Carl Seeband überragt. So viel Lob, da muss es natürlich auch einen Wermutstropfen geben. Und das ist überraschenderweise der Score von Max Richter. Besonders bei den eigentlich leisen, emotionalen Szenen drängt sich die Musik viel zu sehr in den Vordergrund und erzeugt so das Gegenteil von echten Gefühlen.

FAZIT

Der Künstler schnackselt gerne und oft. Das ist beneidenswert, muss aber nicht zwingend unentwegt gezeigt werden. Die Hälfte an Sexszenen hätte es auch getan.

„Werk ohne Autor“ hat keine Angst vor großen Gefühlen: drei Epochen deutscher Geschichte – mitreißend und bewegend erzählt.  Eine Hommage an die Kraft der Kunst. Empfehlenswert.

Deutschland, 2018
Regie Florian Henckel von Donnersmarck
188 min
Kinostart, pünktlich zum Tag der deutschen Einheit, am 3. Oktober 2018

Cobain

HARTES LEBEN

Mia säuft, raucht, ist heroinabhängig und hochschwanger. Eine traurige, gescheiterte Existenz.
Ihr 15-jähriger Sohn Cobain, benannt „nach einem Typen, der sich eine Kugel in den Kopf gejagt hat“ – so seine eigene Einschätzung – ist ein ziellos umherirrender Teenager, der sich nach Liebe sehnt und sie nicht bekommt. Dem Jungen wird nichts geschenkt. Vom Pflegeheim für schwer Erziehbare, über eine Station bei Ökoeulen auf dem Bauernhof, bis zum Unterschlupf in der Wohnung des Zuhälters Wickmayer. Trotzdem besteht Hoffnung; Cobain kommt zwar aus zerrütteten Verhältnissen, seine Seele ist aber noch nicht vernarbt. Alles was er wirklich will, ist ein Zuhause mit seiner Mutter zu finden.

MACHART

Scheiß Pubertät! Ohnehin keine schöne Zeit im Leben, aber Cobain hat es extra schwer. Wer nach der Inhaltsangabe zum Strick greifen will: obwohl das Thema deprimierend und die Umsetzung dokumentarisch realistisch ist, vermeidet es der niederländische Film gekonnt, zu einem schwermütigen Psychogramm zu werden. Das liegt zum einen an der flirrenden, stets den Fokus suchenden Kamera von Frank van den Eeden. Aber vor allem an den beeindruckenden Schauspielern. Bas Keizer als Cobain und Naomi Velissariou als Junkie-Mutter sind echte Entdeckungen.
„Warum läufst Du mir wie ein Schoßhund hinterher?“, fragt Mia ihren Sohn. „Ich mache mir Sorgen um dich“, seine schüchterne Antwort. „Mach ich mir etwa Sorgen um dich? Na also!“
Der sechste Spielfilm von Nanouk Leopold ist eine außergewöhnliche Mutter-Sohn-Geschichte mit vertauschten Rollen. Happy End gibt es keins, aber selten gab es in einem Film ein solch hart erkämpftes, aber hoffnungsvolles Ende.

FAZIT

Keine leichte Kost. Berührender Film.

NL/B/D , 2017
Regie Nanouk Leopold
94 min
Kinostart 13. September 2018

Mackie Messer – Brechts 3Groschenfilm

BERLINER MUSICAL

Bertholt Brechts „Die Dreigroschenoper“ ist Ende der 20er-Jahre ein weltweiter Hit. Deshalb soll das Stück fürs Kino verfilmt werden. Doch der selbstbewusste Brecht (Lars Eidinger) verlangt, dass es nach seinen Regeln läuft: der Film muss radikal und kompromisslos werden. Seine fiktive Filmversion erzählt zwar auch vom Kampf des Londoner Gangsters Macheath (Tobias Moretti) gegen den Chef der Bettlermafia Peachum (Joachim Król), unterscheidet sich aber dramatisch von der Bühnenvorlage. Zu viele Änderungen, die Produktionsfirma will dem nicht folgen. Nach Brechts Meinung hat sie aber ohnehin nur den schnöden Mammon im Sinn. Also zieht er vor Gericht, um sein Recht als Autor durchzusetzen.

MACHART

Wenigstens hat sich Regisseur Lang was getraut. In einem gewagten Kunstgriff lässt er Brecht ausschließlich in seinen eigenen Worten sprechen: Alles, was dieser im Film sagt, beruht auf Zitaten. Das mag zwar ganz lehrreich sein, wirkt aber stellenweise sehr aufgesetzt. Die leider viel zu lange (130 Minuten) Verfilmung des „Dreigroschen“-Werks bietet, neben ausgezeichneter Besetzung und teilweise peppiger Inszenierung, auch eine etwas irritierende Fernsehballettchoreografie. Oder ist das ironisch gemeint?

FAZIT

Brecht goes Musical. Wunderbare Schauspieler, guter Look, moderne Bildsprache – aber es zieht sich gewaltig.

Deutschland, 2018
Regie Joachim A. Lang
136 min
Kinostart 13. September 2018

Vollblüter

FASZINIERENDER THRILLER

Teenager Lilly ist freundlich, hilfsbereit und hat das Aussehen einer Porzellanpuppe. Zusammen mit ihrer Mutter lebt sie im Luxusanwesen ihres reichen Stiefvaters. Ihre beste Freundin heißt Amanda: große Augen, niedliches Gesicht, hochintelligent. Perfekte Upperclass-Welt in Connecticut. Soweit der erste Eindruck.

Doch hinter der repräsentativen Fassade verbirgt sich eine dysfunktionale Familie. Stiefvater Mark schleicht wie ein Sittlichkeitsverbrecher durchs Haus und macht Lilly das Leben schwer. Nicht weiter verwunderlich, dass sie ihn zutiefst verachtet. Die Mutter brät stundenlang im Solarium, da der Gatte „einen dunkleren Teint bevorzugt“. Und Amanda hat in Wahrheit das Gefühlsleben eines Roboters. Problemlos kann sie wahlweise Tränen oder ein perfekt einstudiertes Lächeln abrufen. Je mehr Zeit die beiden Freundinnen miteinander verbringen, desto mehr versuchen sie, sich gegenseitig zu manipulieren. In vier Kapiteln legt der Film Schicht um Schicht den verrotteten Kern frei, bis es zur Katastrophe kommt.

MACHART

Schon mit der ersten Szene entwickelt „Vollblüter“ seine düstere Sogkraft. Nachts, ein Mädchen, ein Pferd, ein Messer. Unheilvoll. Damit ist die Stimmung für den ganzen Film gesetzt. Ständige Bedrohung liegt in der Luft. Die ruhigen, eleganten Kameraeinstellungen, kombiniert mit dem Knistern und Knacken der nervenaufreibenden Musik erzeugen eine konstante Spannung.

„Vollblüter“ funktioniert gleichermaßen als dunkle Komödie und Thriller. Die wahre Bedrohung ist nicht der Stiefvater, sondern versteckt sich hinter den maskenhaft-hübschen Gesichtern der Hauptdarstellerinnen. Somit ist die Geschichte perfekt auf Olivia Cooke und Anya Taylor-Joy zugeschnitten, denen in ihren Rollen jegliche Emotion und Empathie abgeht. Zwei eiskalte Mörderinnen in hübscher Verpackung.

FAZIT

Cory Finley liefert mit der Verfilmung des von ihm verfassten Bühnenstücks „Thoroughbreds“ sein beeindruckendes Regiedebüt ab. Präzise und souverän inszeniert. Eine Entdeckung.

USA 2018
Regie Cory Finley
92 min
Kinostart 09. August 2018

Papillon

STIMMUNGSVOLLES FLUCHTDRAMA

Der Film erzählt die wahre Geschichte von Henri „Papillon“ Charrière (Charlie Hunnam), einem Safeknacker aus dem Paris der 30er Jahre. Seinen Brustkorb ziert ein prächtiges Schmetterlingstattoo, daher der Spitzname. Zu Unrecht wegen Mordes verurteilt, wird er nach Französisch-Guayana in eine Strafkolonie deportiert. Wegen der Haie und starken Strömungen gilt die Gefangeneninsel als absolut ausbruchssicher. Trotz dieser Widrigkeiten bleiben sein Überlebens- und Freiheitsdrang ungebrochen. Im Laufe der Jahre versucht er immer wieder, zu entkommen. Zur Seite steht ihm dabei sein Freund, der Fälscher Louis Dega (Rami Malek). Der finanziert die Fluchtversuche Papillons und lässt sich im Gegenzug vor den Angriffen der anderen Häftlinge beschützen.

MACHART

Die Vorlage für den neuen Film des Regisseurs Michael Noer liefern nicht nur die autobiografischen Romane „Papillon“ und „Banco“, sondern auch das Originaldrehbuch von 1973. Damals mit Steve McQueen und Dustin Hoffman kongenial besetzt. Ein Vergleich drängt sich also auf. Dabei kann die Neuauflage zunächst nur verlieren. Aber: blendet man den Klassiker mal aus und lässt sich auf Papillon 2018 unvoreingenommen ein, dann funktioniert das ausgesprochen gut. Sanft modernisiert, zeitgemäßer Look (Kamera Hagen Bogdanski) und hervorragend besetzt. Charlie Hunnam hungerte sich für seine Rolle nicht nur 20 Kilo runter, sondern ließ sich auch noch 8 Tage in eine Zelle einsperren „um eine Ahnung davon zu bekommen, wie sich das für Charrière angefühlt haben muss“.

FAZIT

Spannende, stimmungsvolle Neuinterpretation des Klassikers. Besser als erwartet.

USA, 2018
Regie Michael Noer
119 min
Kinostart 26. Juli 2018

Hotel Artemis

MEMBERS ONLY

2028, auf den Straßen von Los Angeles herrscht Bürgerkrieg. Als ein Banküberfall gründlich schiefgeht, schaffen es die angeschossenen Gangster gerade noch schwerverletzt ins Hotel Artemis. Hinter dessen schäbiger Fassade verbirgt sich eine Art Club für Verbrecher in Not, inklusive moderner Klinik. Die Regeln sind ultrastreng und nur registrierten Mitgliedern wird der Eintritt gewährt. Wer der „Nurse“ (Jodie Foster) keinen Code vorzeigen kann, kommt nicht rein. Egal, ob er (oder sie) gerade verblutet. Im Laufe der Nacht checken immer mehr rachdurstige Schwerverbrecher ins Hotel ein. Die Situation gerät zusehends außer Kontrolle.

MACHART

Ausnahmsweise mal kein Prequel, Sequel oder keine Comicverfilmung, sondern eine eigenständige, originelle Geschichte. Auf alt geschminkt, tippelt  Jodie Foster – wie immer hervorragend – durch die endlosen Gänge des Hotels und hält dabei die Geschichte zusammen. Der Film ist schön düster und schafft vom ersten Bild an eine klaustrophobische Stimmung. Das hätte eigentlich für ein etwas schräges, schönes Stück Genrekino gereicht. Doch selbst der ansehnliche Cast (u.a. Jeff Goldblum, Sofia Boutella, Zachary Quinto) kann nicht verhindern, dass der Film im letzten Drittel kippt. Was zunächst wie ein ganz guter Terry-Gilliam-Film daherkommt, wird leider gegen Ende zu einer ausufernden Gewalt- und Splatterorgie.

FAZIT

Originelle Geschichte, tolle Ausstattung, am Ende unnötig viel Gewalt – trotzdem empfehlenswert.

USA, 2018
Regie Drew Pearce
110 min
Kinostart 26. Juli 2018

Book Club – Das Beste kommt noch

TRINKEN HILFT

Hotelbesitzerin Vivian (Jane Fonda) wechselt ihre Männer im Tagesrhythmus. Diane (Diane Keaton) ist frisch verwitwet. Bei Carols (Mary Steenburgen) Ehe ist nach 35 Jahren die Luft raus. Und Bundesrichterin Sharon (Candice Bergen) schmust lieber mit ihrer Katze.

Schon seit Jahrzehnten treffen sich die vier Freundinnen zum monatlichen „Book Club“. Dabei geht es zwar auch um Bücher, in erster Linie wird aber über Männer und Beziehungen getratscht. Und dabei sehr viel Weißwein getrunken. Bis Vivian eines Tages „Fifty Shades of Grey“ als Lektüre empfiehlt. Damit bringt sie das Gefühlsleben ihrer Freundinnen – und auch ihr eigenes – unerwartet in Wallung.

MACHART

“Sex and the City” für die Generation Ü60. Bei der Besetzung konnte nicht viel schiefgehen. Möglicherweise stört sich der ein oder andere an den etwas zu stark weichgezeichneten Gesichtern. Oder an den bemerkenswert schlechten Greenscreen-Aufnahmen. Oder an den zwei Facelifts, die Jane Fonda zuviel hatte. Aber was soll’s? Die Gags sind nett genug, die Damen in sichtlicher Spiellaune. Und Diane Keaton darf mal wieder ihre Privatgarderobe auftragen. Das Beste an „Book Club“ ist ohnehin die Besetzung. Neben den hochkarätigen Hauptdarstellerinnen glänzen noch Andy Garcia, Don Johnson, Richard Dreyfuss, Ed Begley Jr. und Craig T. Nelson in Nebenrollen. Viele Stars für’s Kinogeld.

FAZIT

Sex sells auch im Alter. Harmloser Spaß mit legendärer Besetzung. „Book Club“ – am besten mit einem großen Glas Weißwein genießen.

USA, 2018
Regie Bill Holderman
97 min

Vom Ende einer Geschichte – The Sense of an Ending

RÜHRENDE GESCHICHTE

Tony Webster (Jim Broadbent), Anfang 70, geschieden, Typ „knurriger Einzelgänger“. Von seiner schwangeren Tochter (Michelle Dockery) hat er sich schon seit Jahren entfremdet. Auch mit anderen Menschen versteht er sich im Allgemeinen nicht besonders gut. Einziges Hobby ist sein winzig kleiner Fotoladen. Eines Tages wird Tonys Dasein jedoch komplett infrage gestellt: durch einen Brief erfährt er, dass er das Tagebuch seines Jugendfreundes Adrian geerbt hat…

London, 1965. Der noch junge Tony (Billy Howle) verliebt sich in seine Kommilitonin Veronica (Freya Mavor). Die beiden werden ein Paar. Als sich Veronica allerdings in Tonys  besten Freund Adrian (Joe Alvin) verliebt, nimmt er das überraschend gelassen hin und gibt den beiden sogar scheinbar seinen Segen. Doch Monate später erfährt er, dass sich Adrian das Leben genommen hat. Als er nun, viele Jahre später, Veronica (jetzt Charlotte Rampling) wieder trifft, erinnert er sich an seine Taten, die er ein Leben lang verdrängt hat. Langsam beginnt er die tragischen Konsequenzen seines jugendlichen Handelns zu begreifen.

MACHART

Was wäre, wenn nicht immer alles so bleiben müsste, wie es ist? Wenn man sich, egal wie alt, noch ändern und noch glücklich werden könnte? Auf der Antwortsuche nach diesen Fragen nimmt „Vom Ende einer Geschichte“ viele unerwartete Wendungen. Das macht den Film bis zum Schluß überraschend und spannend. Was in einem Rückblick zunächst wie eine harmlose Erinnerung scheint, wird später, durch Fortführung derselben Szene, zu einer schicksalshaften Entscheidung. Diese kluge Verschachtelung der Zeitebenen macht „Vom Ende einer Geschichte“ besonders sehenswert.

FAZIT

Ein Film wie ein gutes Buch. Dazu brilliante Schauspieler in einer rührenden Geschichte. Was will man mehr?

GB, 2017
Regie Ritesh Batra
108 min

Weissensee

DEUTSCHES DALLAS

Ostberlin, 80er Jahre: Erzählt wird vom Schicksal der beiden Familien Hausmann und Kupfer. Dunja Hausmann, eine exzentrische Künstlerin, zerbricht am Kampf gegen das System. Ihre Tochter Julia verliebt sich ausgerechnet in den jüngsten Sohn der Kupfers, Martin. Der ist das schwarze Schaf der Familie, immerzu im Konflikt mit Vater Staat und Vater Hans – einem Stasioffizier, der seiner Frau Marlene zwar in tiefer Liebe zugetan, einem außerehelichen Verhältnis mit Dunja Hausmann trotzdem nicht abgeneigt ist. Martins Bruder Falk, ebenfalls Stasioffizier, bemüht sich um die Anerkennung und den Respekt seines Vaters, bleibt aber immer der ungeliebtere Sohn. Außerdem die Schwiegertochter Vera, Alkoholikerin und unglücklich mit Falk verheiratet. Die DDR-Familiensaga beginnt in der Vorwendezeit und endet (vorerst) in den Jahren nach Mauerfall und der Wiedervereinigung.

MACHART

„Weissensee“ hat alles, was ein großes Familienepos braucht: dramatische familiäre Zerwürfnisse, komplexe Vater-Sohn bzw. Mutter-Tochter-Konflikte, sowie schicksalshafte Entscheidungen von Shakespear’schem Ausmaß. Drehbuchautorin Annette Hess scheint die US-Serie „Dallas“ genau studiert zu haben. Anders lassen sich die auffälligen Parallelen kaum erklären: Uwe Kockisch als ambivalent gütig-böser Vater „Jock Ewing“ Kupfer. Die leidende Gluckenmutter Ruth „Miss Ellie“ Reinecke. Jörg Hartmann als „JR“ (inklusive „Wer erschoss JR?“-Episode). In Hassliebe zu seiner Alkoholikerfrau „Sue Allen“ Loos. Und natürlich der „gute“ Sohn „Bobby“ Lukas, mit der von der Familie gehassten Frau Hannah „Pam“ Herzsprung.

Statt „Oil Barons Club“ gibt’s hier halt die Stasizentrale.

Bleibt nur die Frage: Ist Katrin Sass „Cliff Barnes“?

FAZIT

„Weissensee“ ist trotz Holzhammer-Drehbuchwendungen und (immer wieder) schier unglaublichen Zufällen sehr unterhaltsam und spannend anzusehen. Eben wie das Original – Dallas.

Deutschland, 2010 – 2018
Regie Friedemann Fromm
24 Folgen in 4 Staffeln je 50 min

Isle of Dogs – Ataris Reise

FÜR HUNDEFREUNDE

Der extra gemeine Bürgermeister der japanischen Stadt Megasaki City verdonnert alle Hunde zu Isolationshaft. Angeblich mit einem tödlichen Schnupfenvirus infiziert, müssen des Menschen beste Freunde auf Trash Island vor den Toren der Stadt vegetieren. Als der 12-jährige Atari mit einem Flugzeug auf der Insel abstürzt, retten ihn die dort lebenden Kläffer. Die Herren der Insel, die Alphahunde Boss, Chief, Rex und Duke, helfen Atari bei der Suche nach seinem Hund Spots.

MACHART

Ein Leben ohne Hunde ist möglich, aber sinnlos. Das ist – frei nach Loriot – das Motto dieses Films.

„Isle of Dogs“ ist einfach toll. Und augenscheinlich mit unendlich viel Liebe gemacht. Ein weiteres Meisterwerk von Wes Anderson. Wie schon „The Fantastic Mr. Fox“ in Stop-Motion-Technik hergestellt und mit einem großartigen Voice-Cast (zumindest im Original) gesegnet.

Bryan Cranston, Bill Murray, Jeff Goldblum, Edward Norton und Scarlett Johansson machen die animierten Tiere lebendig und lassen den Zuschauer schnell vergessen, dass es sich „nur“ um einen Puppenfilm handelt. In Wes Anderson-typischen Bildern, alle so schön wie Gemälde, gibt es so viele Details und Kleinigkeiten zu entdecken, dass man den Film auf jeden Fall zweimal anschauen sollte.

FAZIT

Facettenreiche Wundertüte, klare Empfehlung.

USA, 2018
Regie Wes Anderson
105 min

7 Tage in Entebbe

SOLIDES DRAMA

1976 – eine mit 248 Passagieren besetzte Air France Maschine wird auf dem Weg von Tel Aviv nach Paris von Terroristen entführt. In Entebbe, Uganda, gelandet, werden zunächst die nicht-jüdischen Passagiere freigelassen. Mit den übriggebliebenen jüdischen Passagieren soll die Freilassung von inhaftierten Palästinensern erzwungen werden. Der Plan – 40 Jahre alter Spoiler – geht nach 7 Tagen schief, die Terroristen sterben, die Geiseln kommen frei.

Die Befreiungsaktion wurde übrigens damals von Yonatan Netanjahu geleitet, dem älteren Bruder des amtierenden israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu. Sogar noch was gelernt.

MACHART

Daniel Brühl gibt zur Abwechslung mal wieder den schmallippigen, humorbefreiten Deutschen, Rosamund Pike die eiskalte Terroristin.

Sehr ungewöhnlich ist der Kunstgriff, die Terrorszenen mit einer israelischen Tanztheateraufführung zu unterschneiden. Klingt absurd, funktioniert aber überraschenderweise gut.

FAZIT

Ist solide inszeniert und einigermaßen spannend, aber am Ende nicht mehr als ein ganz guter TV-Film. Hat man alles irgendwie schonmal gesehen.

USA/GB, 2018
Regie José Padilha
107 min

Rampage – Big meets Bigger

RIESEN QUATSCH

Eine Raumstation stürzt auf die Erde und setzt dabei grünes Giftgas frei. Kurz darauf mutieren ein Gorilla, ein Wolf und ein Alligator zu riesengroßen Monstern, die drohen, Chicago zu zerstören. Nur der Affenfachmann Davis Okoye (Dwayne Johnson) kann retten, was zu retten ist. Als Stichwortgeber stehen ihm dabei der schwer unterforderte Jeffrey Dean Morgan (bekannt aus „The Walking Dead“) und Naomie Harris als Gen-Forscherin zur Seite.

MACHART

Liebes 12-jähriges Ich, heute möchte ich Dir einen Film empfehlen, der ganz nach Deinem Geschmack sein dürfte: „Rampage“. Es geht um Monster und fiese Wissenschaftler. Der Humor ist ein bisschen pubertär und zotig, aber auch entwaffnend selbstironisch. Bei den Spezialeffekten wirst Du aus dem Staunen nicht mehr heraus kommen. Schon toll, was heutzutage alles möglich ist. Und ganz bestimmt besser als „King Kong vs. Godzilla“ von 1962, den Du Dir neulich in der Sonntags-Matinee angeschaut hast. Na gut, wenn man ganz genau hinschaut – die Szenen, in denen die menschlichen Charaktere mit den Monstern interagieren, sehen ein bisschen fake aus, aber sonst…Zum Glück gibt’s auch keine nervige Liebesgeschichte (Augenroll), außer der zwischen „The Rock“ und seinem Albinoaffen.

Eins noch: Die „Bösen“ (Malin Akerman und Jake Lacy als Geschwisterpaar) sind in „Rampage“ wirklich schlecht. Charakterlich und schauspielerisch. Die beiden chargieren, als ob sie in einer sehr miesen 80er-Jahre Soap mitspielen würden.

Ansonsten: Großer Unsinn, großer Spaß!

FAZIT

Bloss nicht nach Logik fragen, einfach unterhalten lassen.

USA, 2018
Regie Brad Peyton
107 min

3 Tage in Quiberon

INTENSIVES PSYCHODUELL

1981 gab Romy Schneider, schwer alkohol- und tablettenabhängig, im südfranzösischen Quiberon dem Magazin Stern eines ihrer selten gewordenen Interviews.  Der Film zeigt die Begegnung zwischen der Schauspielerin und dem Reporter als spannungsgeladenes Psychoduell. Somit kein klassisches Biopic, mit artig abgehandelten Lebensstationen, sondern ein auf drei Tage komprimierter Ausschnitt aus dem Leben Romy Schneiders.

Journalist Michael Jürgs (Robert Gwisdek) macht dabei keine gute Figur. Seine extrem persönlichen Fragen sind quälend indiskret, man windet sich geradezu.  Sensationsgeil, arrogant und manipulativ: die zerbrechliche, manisch-depressive Romy Schneider (Marie Bäumer) ist ihrem Gegenüber anfangs kaum gewachsen. Zwischen den beiden stehen der Fotograf Robert Lebeck (Charly Hübner) sowie Romys Jugendfreundin Hilde (Birgit Minichmayr).

MACHART

„3 Tage in Quiberon“ hält sich stilistisch an die damals im Stern erschienenen, legendären Fotos. Das Schwarzweiß-Drama zitiert die Schlüsselmomente der Reportage, gibt aber gleichzeitig einen tiefen Einblick in das Seelenleben Romy Schneiders. Man fühlt mit ihr, hat das Bedürfnis, sie zu retten, weiß aber, dass das traurige Ende nahe ist. Drei Monate nach dem Interview starb ihr Sohn, im Jahr darauf sie selbst.

FAZIT

Zwei Worte: Herausragendes Ensemble! Vor allem Marie Bäumer in der Rolle ihres Lebens. Sehr empfehlenswertes, dicht erzähltes Kammerspiel. 10 Nominierungen beim Deutschen Filmpreis.

Deutschland/Frankreich, 2018
Regie Emily Artef
116 min

Breathe – Solange ich atme

INSPIRIERENDE LIEBESGESCHICHTE

England, 50er Jahre. Der junge, gutaussehende Robin Cavendish (Andrew Garfield) verliebt sich in die junge, gutaussehende Diane (Claire Foy). Die beiden heiraten, sie wird schwanger, er todkrank. Kinderlähmung, damals noch ein Todesurteil. Vom Hals abwärts gelähmt, soll Robin den Rest seiner Tage, an ein Beatmungsgerät angeschlossen, im Krankenhaus vegetieren. Dieses deprimierende Schicksal will er nicht akzeptieren. Zusammen mit seiner Frau und ihren Freunden findet er einen Weg zu einem erfüllten Leben, außerhalb des Krankenhauses. Und das alles nach einer wahren Geschichte!

MACHART

Wäre man zynisch, könnte man „Breathe“ als Kitschschmonzette abtun. Aber tatsächlich ist der Film wunderschön anzusehen (Kamera Robert Richardson), perfekt ausgestattet, hervorragend gespielt (neben den beiden Hauptdarstellern seien noch Hugh Bonneville und Tom Hollander in einer Doppelrolle erwähnt), hat Humor und geht zu Herzen.
Produziert hat das Ganze der Sohn des echten Robert, Jonathan Cavendish.
Regie führte Andy Serkis. Wer? Der Australier ist bisher vor allem als performance -capture-Darsteller bekannt: unter anderem war er der Gollum in „Der Herr der Ringe“, King Kong und Caesar in der „Planet der Affen“-Trilogie. Zuletzt sah man ihn im viel gelobten „Black Panther“, da allerdings als Mensch aus Fleisch und Blut (plus Metallarm).
„Solange ich atme“ ist Serkis erste Regiearbeit, derzeit ist er mit der Postproduktion seines zweiten Films „Jungle Book“ beschäftigt.

FAZIT

Wem die Stephen Hawking Biografie „The Theory of Everything“ gefallen hat, sollte hier auch reingehen. Schöner Film.

GB, 2017
Regie Andy Serkins
118 min

Elle – Nach einer wahren Geschichte

TIEFGRÜNDIGER THRILLER

Romanautorin Delphine (Emmanuelle Seigner) hat scheinbar alles zum Glücklichsein: ihr letztes Buch ist ein Bestseller, die vor allem weiblichen Leser stehen Schlange für ein Autogramm, Verleger umwerben sie.
Nun warten alle auf das nächste große Ding. Aber Delphine sitzt vor der sprichwörtlich ersten leeren Seite und hat eine Schreibblockade.
Aus dem Nichts tritt da die attraktive Elle (Eva Green) in ihr Leben. Anfangs noch charmant umwerbend, wird Elle immer übergriffiger und mischt sich mehr und mehr in das Leben ihrer neuen Freundin ein,. Sie liest Delphines Post, beantwortet in ihrem Namen Mails, und gibt sich sogar auf einer Lesereise für die Autorin aus. Aber passiert das alles wirklich, oder bildet sich Delphine die neue Freundin nur ein?

MACHART

„Nach einer wahren Geschichte“ spielt zwar im Frankreich der Jetztzeit, könnte aber genausogut ein Hitchcock-Thriller aus den 40er Jahren sein.
Regisseur Roman Polanski, mittlerweile 84 Jahre alt und immer noch auf der Höhe seines Schaffens, erzählt in „Elle“ (so der französische Originaltitel) vom perfiden Spiel um Erotik, Macht und – sehr aktuell – von Identitätsverlust.
Musik, Ausstattung, Schnitt und Kamera schaffen eine etwas theaterhafte, aber durchweg spannende Atmosphäre.

FAZIT

Ein echter Franzose!  Perfekt inszeniert, top Schauspieler, sehr lohnenswert. Psychothriller für Fans von „Single White Female“ und Hitchcocks „Suspicion“.

Frankreich, 2018
Regie Roman Polanski
100 min

In den Gängen

SCHÖN DEPRIMIEREND

Christian spricht nicht viel. Da ist sein neuer Job in der Getränkeabteilung eines Großmarkts genau das Richtige für ihn. Den ganzen Tag mit dem Gabelstapler durch die Gänge fahren und der attraktiven, aber unerreichbaren Kollegin Marion hinterher schmachten – dazu bedarf es nicht vieler Worte. Einen Freund findet er in seinem Kollegen Bruno, der schnell zum Vertrauten und Ersatzvater wird.

MACHART

Es ist eine Freude, dem starken Schauspielerensemble um Franz Rogowski, Sandra Hüller und Peter Kurth zuzuschauen. Und neben „Transit“ liefert „In den Gängen“ einen weiteren Beweis für die schauspielerische Kraft von Rogowski.

FAZIT

Der leise Film behandelt unaufdringlich und sehr authentisch die Themen Alltag im Osten und Einsamkeit. Klar, eigentlich ist die Geschichte deprimierend, die präzise eingefangene Stimmung und der leise Humor machen den Film aber extrem sehenswert.

Deutschland, 2018
Regie Thomas Stuber
125 min

Dunkirk

GROSSES KINO

1940, die Stadt Dünkirchen an der französischen Kanalküste – eingekesselt von der feindlichen deutschen Armee. Hunderttausende Soldaten sitzen in der Falle, abgeschnitten von ihrer Heimat. Gefangen. Verloren.

Die britischen und französischen Truppen befinden sich auf verlorenem Posten. Der Fluchtweg ist abgeschnitten durch das Meer.

Bis zur größten Rettungsaktion des 20. Jahrhunderts: Codename „Operation Dynamo“. Alle verfügbaren Kräfte, auch zivile Boote, werden mobilisiert. Ein entscheidender Moment im 2. Weltkrieg.

MACHART

„Dunkirk“ ist großes Hollywoodkino – inszeniert von Blockbuster Regisseur Christopher Nolan.

Nolan erzählt die Geschichte aus drei Blickwinkeln: aus der Luft, zu Wasser, an Land. Interessanterweise nicht chronologisch, sondern in den Zeitebenen verschachtelt. Was an Land ein paar Tage gedauert hat, geschieht in der Luft in zwei Stunden, und an Bord der Schiffe einen Tag. Dadurch kann man der Geschichte zwar nicht leicht folgen, es hält aber die Spannung über die gesamte Laufzeit. Und offensichtlich hat er für seine Inszenierung das historische Filmmaterial genau studiert.

Musik, Sound, Kamera, Ausstattung, das ist kaum zu toppen und sollte man sich unbedingt in der IMAX-Version anschauen.

FAZIT

„Dunkirk“, so packend wie bombastisch. Ein Actionmovie – ein Heldenepos – hoch dramatisch. Krieg als das größte aller Abenteuer. Schon vor dem Kinostart wird der Film als Oscar Kandidat gehandelt.

USA, 2017
Regie Christopher Nolan
106 min